Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 31.01.2003, Az.: L 2 RI 126/02
Verstoß gegen Verpflichtung zur Amtsermittlung; Verstoss gegen Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit; Vernehmung eines Zeugen persönlich durch das zur Entscheidung berufene Gericht und prinzipiell in mündlicher Verhandlung; Verfahren wegen Anerkennung von fiktiven Pflichtbeitragszeiten
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 31.01.2003
- Aktenzeichen
- L 2 RI 126/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 16545
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0131.L2RI126.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - AZ: S 10 RI 202/99
Rechtsgrundlagen
- § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG
- § 103 SGG
- § 117 SGG
- § 118 Abs. 1 SGG
- § 375 ZPO
Prozessführer
Prozessgegner
Sonstige Beteiligte
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 21. Februar 2002 wird aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Osnabrück zurückverwiesen. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht Osnabrück vorbehalten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt, Zeiten einer beruflichen Ausbildung, die er im väterlichen landwirtschaftlichen Betrieb vom 1. Juli 1953 bis zum 30. Juni 1955 zurückgelegt haben will, als fiktive Pflichtbeitragszeiten anzuerkennen.
Der am 6. Januar 1934 geborene Kläger bezog seit dem 1. November 1990 Berufsunfähigkeits- und seit dem 1. März 1991 Erwerbsunfähigkeitsrente, weil er seine selbstständige Tätigkeit als Landwirt in der Zwischenzeit aufgegeben hatte. Mit Bescheid vom 2. Dezember 1998 bewilligte ihm die Beklagte mit Wirkung vom 1. Februar 1999 Regelaltersrente. Der Berechnung der Rente legte sie für den Besuch der Landwirtschaftsschule I. vom 2. November 1951 bis zum 22. März 1952 und vom 3. November 1952 bis zum 21. März 1953 10 Monate Anrechnungszeiten, nicht aber eine vom Kläger zunächst bis Ende 1953 geltend gemachte Ausbildungszeit im Beruf des landwirtschaftlichen Gehilfen zu Grunde. Mit dem gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch begehrte der Kläger die Berücksichtigung der Lehrzeit nunmehr für den hier streitigen Zeitraum und beantragte gleichzeitig, seine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in eine Altersrente für langjährig Versicherte umzuwandeln. Ein Prüfungszeugnis könne er nicht vorlegen; dies sei bei einem Brand seines Wohnhauses 1967 vernichtet worden. Dem Widerspruch war eine durch die Samtgemeinde J. aufgenommene schriftliche Zeugenerklärung des Landwirts K. aus L. vom 8. Dezember 1998 beigefügt. Danach soll der Kläger vom 1. Juli 1953 bis 30. Juni 1955 eine landwirtschaftliche Lehre absolviert haben. Unter anderem heißt es dort wörtlich: "Herr M. hat in der o. a. Zeit bei seinem Vater, dem Landwirt N. eine landw. Lehre absolviert.” Die daraufhin von der Beklagten eingeleiteten Ermittlungen bei der Landwirtschaftskammer O. führten lediglich zur Bestätigung des Fachschulbesuchs in der Landwirtschaftsschule I ... Ein Ausbildungsverhältnis im elterlichen Betrieb sei zu dieser Zeit bei der Landwirtschaftskammer nicht registriert worden; es seien lediglich Lehrverhältnisse mit anerkannten Lehrbetrieben eingetragen gewesen. Der Name des Klägers sei für den genannten Zeitraum in den Unterlagen nicht auffindbar. Mit Bescheid vom 11. Februar 1999 bewilligte die Beklagte antragsgemäß rückwirkend ab dem 1. Dezember 1998 an Stelle der bisherigen Rente Altersrente für langjährig Versicherte, ohne den streitigen Zeitraum als fiktive Beitragszeit zu berücksichtigen. Den Widerspruch wies sie auf den Schriftsatz des Klägers vom 25. März 1999 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die durchgeführte Sachaufklärung keinen Nachweis für ein Lehrverhältnis erbracht habe. Bei der zuständigen Landwirtschaftskammer O. in P. lägen keine Belege für eine landwirtschaftliche Lehrzeit vor. Die nachgewiesenen Fachschulzeiten in der Landwirtschaftsschule I. bildeten kein Indiz für das Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses, da sie in keinem notwendigen Zusammenhang mit der Ableistung einer Lehre gestanden hätten. Ein Lehrvertrag, eine Lehranzeige bei der zuständigen Kammer oder eine Eintragung über die Ableistung einer Elternlehre in den Akten der zuständigen Schule sei nicht nachgewiesen worden. Ein Prüfungszeugnis oder einen Gesellenbrief habe der Kläger nicht vorlegen können, sodass das Anerkennungsbegehren scheitern müsse. Durch die nachgereichte Zeugenerklärung sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass es sich bei der Beschäftigung im landwirtschaftlichen Betrieb des Vaters tatsächlich um eine Elternlehre gehandelt habe (Bescheid vom 19. Juli 1999).
Der Kläger hat am 30. Juli 1999 Klage beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben. Zur Begründung hat er auf die schriftliche Erklärung des Zeugen K. vom 8. Dezember 1998 Bezug genommen. Das SG ist dem gegenüber den Gründen des angefochtenen Widerspruchsbescheides gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 21. Februar 2002 abgewiesen. Die behauptete landwirtschaftliche Berufsausbildung im elterlichen Betrieb sei auch durch die schriftliche Erklärung des Zeugen Q. nicht nachgewiesen worden, da diese durch die anderweitigen Ermittlungen der Beklagten erschüttert werde. Gegen das seinem Bevollmächtigten am 5. April 2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22. April 2002 Berufung eingelegt. Zur Begründung vertieft er sein bisheriges Vorbringen und rügt die unterlassene Einvernahme des Zeugen Q ... Bei diesem handele es sich um den langjährigen Bürgermeister der Gemeinde R., der in seiner Nachbarschaft wohnhaft sei. Im hier maßgeblichen Zeitraum, d. h. in seiner Jugendzeit habe es regelmäßig freundschaftliche Kontakte zu dem Zeugen gegeben. Entgegen der Ansicht des SG könne der Nachweis für eine landwirtschaftliche Lehre nicht nur durch einen förmlichen Lehrvertrag, einer Lehranzeige an die zuständige Kammer oder die Eintragung in den Akten der zuständigen Schule oder durch ein Prüfungszeugnis oder einen Gesellenbrief erbracht werden. Ein Prüfungszeugnis oder ein Gesellenbrief existierten nicht, da der Kläger auf Grund der Erkrankung seines Vaters den landwirtschaftlichen Betrieb habe führen müssen, sodass ihm die Teilnahme an einer Prüfung versagt geblieben sei. Auch habe nicht die Möglichkeit bestanden, das Lehrverhältnis bei der zuständigen Berufsschule eintragen zu lassen, da dort ein entsprechendes Register nicht geführt worden sei. Im Übrigen existiere diese Schule bereits seit längerer Zeit nicht mehr. Förmliche Lehrverträge seien seinerzeit bei Absolvierung einer so genannten "Elternlehre” nicht üblich gewesen. Der Einvernahme des Zeugen Q. komme daher eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Darüber hinaus benennt der Kläger als weiteren Zeugen für die behauptete landwirtschaftliche Lehre seinen Cousin M., S., der seinerzeit unmittelbar neben dem elterlichen Hof gewohnt habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 21. Februar 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 2. Dezember 1998 und 11. Februar 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 1999 aufzuheben und
2. die Beklagte zu verurteilen, seine Renten unter Berücksichtigung einer zusätzlichen Beitragszeit vom 1. Juli 1953 bis zum 30. Juni 1955 rückwirkend ab 1. Dezember 1998 neu festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne vorherige mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte nach Zustimmung der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG - statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig.
Das Rechtsmittel ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache auch begründet.
Das Klageverfahren leidet nämlich an einem wesentlichen Mangel (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das SG hat in erheblichem Umfang gegen die Verpflichtung zur Amtsermittlung nach § 103 SGG verstoßen. Denn zur Abklärung der behaupteten landwirtschaftlichen Lehre im elterlichen Betrieb hätte es sich nicht auf die Auswertung der durch die Samtgemeinde J. am 8. Dezember 1998 aufgenommenen Erklärung des benannten Zeugen K. aus R. beschränken dürfen. Dieser Zeuge selbst hätte angehört werden müssen.
Das erstinstanzliche Verfahren genügt insoweit nicht den Anforderungen, die der Untersuchungsgrundsatz an den Ablauf des Klageverfahrens stellt, den der Gesetzgeber in § 103 SGG verankert hat. Danach hat das SG von allen Erkenntnismöglichkeiten Gebrauch zu machen und die von einem Beteiligten zulässiger Weise angebotenen Beweismittel auszuschöpfen. Eine beantragte Zeugenvernehmung ist grundsätzlich durchzuführen, soweit sie zur Klärung der für die Sachentscheidung erheblichen Tatsachen von Bedeutung sein kann. Dies gilt umso mehr, wenn es mangels Erreichbarkeit anderweitiger Beweismittel wie im vorliegenden Fall auf die Vernehmung eines Zeugen ankommen kann. Bereits in der Klageschrift hat der Kläger den Zeugen Q. benannt, und auch auf Grund der im Widerspruchsverfahren vorgelegten schriftlichen Erklärung des Zeugen war es nahe liegend, dass seine Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen könnten, zumal hier andere Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft waren. So hatte die Einholung amtlicher Auskünfte durch die Beklagte keinen Beleg für das Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses erbracht. Ausweislich des Schreibens der Landwirtschaftskammer O. vom 23. Dezember 1998 war der Name des Klägers für den angegebenen Zeitraum in den dortigen Unterlagen nicht auffindbar. Ebenso wenig ist ein Lehrverhältnis während des Fachschulbesuchs registriert worden. Die Vorlage von Urkunden über das Bestehen eines Ausbildungsvertrages oder einen erreichten Lehrabschluss ist aus den vom Kläger geschilderten Umständen nicht möglich.
Ein Absehen von einer Vernehmung eines benannten Zeugen ist zwar unter besonderen Umständen zulässig, etwa dann, wenn bereits eine gerichtliche Beweisaufnahme stattgefunden hat und unter Berücksichtigung des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Anhörung des Zeugen noch zur Überzeugungsbildung des Gerichts beitragen könnte. So liegen die Verhältnisse hier aber gerade nicht. Insbesondere angesichts der schriftlichen Angaben des Zeugen Q. und angesichts der vom Kläger geschilderten regelmäßigen freundschaftlichen Kontakte während der Jugendzeit lässt sich nicht ausschließen, dass eine Anhörung des Zeugen zur Erhellung des Sachverhalts beitragen kann. Das hat das SG verkannt.
Zusätzlich ist hier auch den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Beweisaufnahme nicht genügt worden. Diese gebieten, Zeugen persönlich durch das zur Entscheidung berufene Gericht und prinzipiell in der mündlichen Verhandlung, auf der ein Urteil fußt, zu vernehmen und nicht allein auf urkundliche Angaben des Zeugen zurückzugreifen (vgl. §§ 117, 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 375 Zivilprozessordnung - ZPO -). Die Vernehmung des Zeugen vor Gericht darf grundsätzlich nicht durch Auswertung von Vernehmungsprotokollen ersetzt werden, die Behörden gefertigt haben, wenn die Vernehmung des Zeugen unschwer möglich ist. Dies gilt umso mehr, als beim Zeugenbeweis dem persönlichen Eindruck, den der Zeuge vermittelt, eine wesentliche Bedeutung zukommt. Vorliegend sind keine Gründe ersichtlich, die einer persönlichen Anhörung des Zeugen Q. entgegen gestanden haben könnten.
Das SG wird sich darüber hinaus gedrängt fühlen müssen, den im Berufungsverfahren zusätzlich benannten M. aus T. als Zeugen zu vernehmen. Da ein Verwandtschaftsverhältnis zum Kläger besteht und der Zeuge im fraglichen Zeitraum unmittelbar neben dem elterlichen Hof des Klägers gewohnt haben soll, lässt sich nicht ausschließen, dass auch seine Einvernahme für die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des behaupteten versicherungspflichtigen Lehrverhältnisses wesentliche Tatsachen zu Tage treten lässt.
Die Entscheidung über die Kosten auch des Berufungsverfahrens bleibt dem SG vorbehalten.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.