Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.01.2003, Az.: L 9 U 375/00

Anspruch auf Feststellung von Erkrankungen als Folgen einer Berufskrankheit ; Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen einer Berufskrankheit; Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
15.01.2003
Aktenzeichen
L 9 U 375/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20383
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0115.L9U375.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - AZ: S 7 U 197/99

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Eine Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen einer Berufskrankheit im Einzelnen ist erst dann erforderlich und sinnvoll, wenn aus medizinischer Sicht hinreichende Gründe für eine berufliche Mitverursachung der entsprechenden Erkrankung vorliegen.

  2. 2.

    In der medizinischen Wissenschaft ist in einer für die Einführung der Berufskrankheit 2108 hinreichenden Weise belegt, dass langjähriges Heben und Tragen zu einem statistisch signifikant erhöhten Auftreten der von der Berufskrankheit Nr. 2108 erfassten bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule führt.

  3. 3.

    Eine entsprechende epidemiologische Erkenntnis begründet nicht eine Vermutung dafür, dass bei Versicherten, die langjährig schwer gehoben oder getragen haben und deshalb die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit 2108 erfüllen, eine im Einzelfall vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule ursächlich oder wesentlich mitursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist.

  4. 4.

    Für die Ursächlichkeit einer bandscheibenbedingten Erkrankung auf die versicherte Tätigkeit kommen aus bisher herrschender medizinischer Sicht vor allem ein zumindest ursachenkonformes Schadensbild im Sinne einer Schadenskonzentration auf die unteren Wirbelsäulensegmente und dessen ursachenkonforme zeitliche Entstehung im Sinne einer gegenüber dem Altersdurchschnitt vorauseilenden Schadensausbildung in Betracht.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch um den Anspruch des Berufungsklägers auf Feststellung von Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Folgen einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO).Der 1945 geborene Berufungskläger erlernte von April 1961 bis Juni 1964 den Beruf eines Malers und Lackierers. Von Juli 1964 bis April 1998 war er als Maler und Lackierer tätig.Der den Berufungskläger behandelnde Orthopäde Dr. C. erstattete unter dem 12. März 1999 eine ärztliche Verdachtsanzeige über das Vorliegen einer Berufskrankheit. Er diagnostizierte bei dem Berufungskläger ein degeneratives Lendenwirbelsäulen (LWS)-Syndrom. Die Berufungsbeklagte leitete Ermittlungen ein und schaltete ihren Technischen Aufsichtsdienst (TAD) zur Ermittlung ein. Dieser teilte unter dem 18. Mai 1999 mit, der Berufungskläger habe die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK nach der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO nicht erfüllt. Sodann holte die Berufungsbeklagte eine Stellungnahme der Gewerbeärztin Dr. D. vom 4. August 1999 ein, die sich den Ausführungen des TAD anschloss.Daraufhin lehnte es die Berufungsbeklagte mit Bescheid vom 2. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 1999 ab, bei dem Berufungskläger Gesundheitsstörungen als Folge einer BK der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO festzustellen.Am 25. November 1999 ist Klage erhoben worden.Das Sozialgericht (SG) Stade holte Befundberichte von dem Orthopäden Dr. C., der Neurologin E., Dr. F. und dem Internisten und Allgemeinmediziner Dr. G. ein. Dem Befundbericht von Dr. G. waren zahlreiche Anlagen beigefügt (unter anderem der Reha-Entlassungsbericht aus Bad H. vom 11. Juni 1998).Sodann veranlasste das SG die Erstattung des Gutachtens der Orthopäden Prof. Dr. I./Priv.-Doz. Dr. J. vom 17. März 2000. Diese kamen aufgrund einer Untersuchung des Berufungsklägers und der Durchsicht der vorliegenden medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis, die Beschwerden des Berufungsklägers seien nicht beruflich verursacht. Im Wesentlichen wiesen sie zur Begründung darauf hin, alle Wirbelsäulenabschnitte des Berufungsklägers seien von der degenerativen Erkrankung betroffen.Daraufhin hat das SG nach vorheriger Anhörung der Beteiligten die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. August 2000, der am 16. August 2000 zugestellt worden ist, abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf hingewiesen, soweit der Berufungskläger auch die Anerkennung einer BK nach der Nr. 2109 der Anlage zur BKVO begehrt habe, sei die Klage unzulässig gewesen. Im Hinblick auf die BK der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO hat sich das SG im Wesentlichen auf die Ausführungen von Prof. Dr. I./Priv.-Doz. Dr. J. bezogen.Am 12. September 2000 ist Berufung eingelegt worden. Zu deren Begründung macht der Berufungskläger im Wesentlichen geltend, die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Vorliegen der streitigen BK seien im Verfahren nicht genügend untersucht worden.

2

Der Berufungskläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 14. August 2000 sowie den Bescheid der Bau-Berufsgenossenschaft Hamburg vom 2. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    die bei ihm vorliegenden Bandscheibenerkrankungen an der Lendenwirbelsäule als Folge einer Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung festzustellen,

  3. 3.

    die Berufungsbeklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. ab April 1998 zu bewilligen.

3

Die Berufungsbeklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

4

Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre angefochtenen Bescheide und den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat auf Antrag des Berufungsklägers das Gutachten des Orthopäden K. vom 5. Dezember 2002 veranlasst. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten Bezug genommen.Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Berufungsbeklagten (1 Band) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

5

Der Senat entscheidet im Einverständnis mit den Beteiligten in Anwendung von §§ 155, 124 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung.Die zulässige Berufung ist nicht begründet.Das SG hat zu Recht erkannt, dass der Berufungskläger keinen Anspruch auf Feststellung der Erkrankungen seiner Lendenwirbelsäule als Folgen einer BK nach der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO hat.Nach § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten solche Erkrankungen, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge der versicherten Tätigkeit erleiden. Zu den durch die BKVO zu Berufskrankheiten bestimmten Erkrankungen in diesem Sinne gehören nach Nr. 2108 der Anlage zur BKVO auch bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule, wenn sie durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung entstanden sind und zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.Das Gericht geht davon aus, dass es sich bei der Wirbelsäulenerkrankung, die bei dem Berufungskläger in den Segmenten L 3 bis S 1 der Lendenwirbelsäule vorliegt, um eine bandscheibenbedingte Erkrankung handelt. Diese ist dennoch nicht als BK anzuerkennen und zu entschädigen.Das Gericht lässt insoweit dahin stehen, ob der Berufungskläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKVO erfüllt. Ob diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, muss nämlich vorliegend nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Eine Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen dieser BK im Einzelnen ist erst dann erforderlich und sinnvoll, wenn aus medizinischer Sicht hinreichende Gründe für eine berufliche (Mit-)Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung vorliegen (LSG Nds., Urteil vom 12. Dezember 2000 - L 9/3 U 83/00).Vom Vorliegen der BK ist jedenfalls deswegen nicht auszugehen, weil der Berufungskläger die Schäden in seiner LWS nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit infolge seiner versicherten Tätigkeit erlitten hat. Die Möglichkeit, dass die beruflichen Belastungen die Wirbelsäulenerkrankung des Berufungsklägers wesentlich (mit)verursacht oder richtunggebend verschlimmert haben, ist nämlich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht wahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass eine solche wesentliche Mitverursachung oder richtunggebende Verschlimmerung nicht stattgefunden hat.Soweit der 6. Senat des LSG Niedersachsen Zweifel daran geäußert hat, ob der medizinische Kenntnisstand über die Entstehung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule im Falle der BK 2108 überhaupt bereits deren Einführung als BK erlaubt habe (LSG Nds., Urteil vom 5. Februar 1998 - Az.: L 6 U 178/97), sind diese durch Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. März 1999 ausgeräumt worden (BSG, Urteil vom 23. März 1999, Az.: B 2 U 12/98 R, SozR 3 2200 § 551 Nr. 12). Danach ist in der medizinischen Wissenschaft in einer für die Einführung der BK 2108 hinreichenden Weise belegt, dass langjähriges Heben und Tragen zu einem statistisch signifikant erhöhten Auftreten der von der BK Nr. 2108 erfassten bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS führt. Diese epidemiologische Erkenntnis begründet indessen nicht auch eine Vermutung dafür, dass bei Versicherten, die langjährig schwer gehoben oder getragen haben und deshalb die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 erfüllen, eine im Einzelfall vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS ursächlich oder wesentlich mitursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 18. November 1997, Az.: 2 RU 48/96 - SGb 1999, 39 ff; vgl. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998, S. 527 unter 8.3.5.5 mit Hinweis auf die Begründung der Bundesregierung). Eine solche indizielle Bedeutung kann dem langjährigen Heben und Tragen schwerer Lasten bereits deshalb nicht zugemessen werden, weil es nach gesicherter, medizinischer Erkenntnis in einer Vielzahl von Fällen ohne die Folge einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS bleibt. Zur Beurteilung im Rechtssinne bedarf es daher eines über die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen hinausreichenden Nachweises überwiegender Wahrscheinlichkeit der Verursachung im konkreten Einzelfall. Er kann aus Gründen der Logik nicht bereits dadurch erbracht werden, dass Umstände die gegen eine Verursachung sprechen oder diese gar schlechthin ausschließen, nicht vorliegen. Denn das bloße Fehlen solcher ...Negativkriterien" kann die Verursachung immer nur im Sinne einer neutralen Beweislage möglich, nicht aber überwiegend wahrscheinlich machen. Hierzu bedarf es vielmehr des Vorliegens von Gesichtspunkten, die in Abgrenzung zu anderen möglichen Schadensursachen, wie insbesondere schicksalhaften, degenerativen Prozessen, für eine Verursachung gerade durch die langjährig rückenbelastende Tätigkeit sprechen und in diesem Sinne als ...Positivkriterien" bei der gebotenen Gesamtwürdigung die etwa vorliegenden ...Negativkriterien... überwiegen (vgl BSG, Urteil vom 18. November 1997 a.a.O.). Hierfür kommen aus bisher herrschender medizinischer Sicht vor allem ein zumindest ursachenkonformes Schadensbild im Sinne einer Schadenskonzentration auf die unteren Wirbelsäulensegmente und dessen ursachenkonforme zeitliche Entstehung im Sinne einer gegenüber dem Altersdurchschnitt vorauseilenden Schadensausbildung in Betracht (vgl m.w.N. auch zu den im Einzelnen divergierenden medizinischen Auffassungen Schönberger/Mehrtens/Valentin a.a.O. S. 536 f unter 8.3.5.5.4).Im Falle des Berufungsklägers vermag der Senat ein Überwiegen derjenigen Gesichtspunkte, die für eine berufliche Verursachung des bestehenden Wirbelsäulenleidens sprechen (Positivkriterien) gegenüber den gegen eine solche Verursachung sprechenden Gesichtspunkten (Negativkriterien) nicht festzustellen.Insoweit hat das Ergebnis der gesamten erst- und zweitinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben, dass das bei dem Berufungskläger vorliegende Schadensbild an der gesamten Wirbelsäule sowie an vielen großen Gelenken darauf hin deutet, dass die generalisierte Erkrankung nicht auf eine berufliche Verursachung zurückgeführt werden kann. Insoweit haben sich sowohl Prof. Dr. I./ Priv.-Doz. Dr. J. als auch der vom Berufungskläger selbst benannte Orthopäde K. übereinstimmend gegen eine berufliche Bedingtheit dieser Schäden ausgesprochen. Die in diesen Gutachten zum Ausdruck gekommene medizinische Grundauffassung entspricht auch den soeben allgemein formulierten medizinischen Kriterien. Aus beiden Gutachten ergibt sich nämlich, dass die Schadensausbildung nicht dem generell verlangten allgemeinen Verlauf entspricht. Bei dem Berufungskläger haben sich vielmehr parallel sowohl an der LWS als auch an der Halswirbelsäule (HWS) Degenerationserscheinungen gleichzeitig ausgebildet. Diese medizinische Auffassung entspricht auch der Auffassung eines großen Teils der den Berufungskläger behandelnden Fachärzte. So hat die Neurologin L. in ihrem Befundbericht vom 22. Dezember 1999 ausdrücklich darauf hingewiesen, das HWS-Syndrom des Berufungsklägers sei nicht beruflich verursacht worden. Auch dem ausführlichen Reha-Entlassungsbericht aus Bad H. vom 11. Juni 1998 lassen sich keine Hinweise auf eine berufliche Bedingtheit der Erkrankung des Berufungsklägers entnehmen. Allein der Orthopäde Dr. C. spricht in seinem Befundbericht an das SG Stade davon, dass eine berufliche Verursachung wahrscheinlich sei. Allerdings hat Dr. C. für seine Auffassung keine nähere Begründung dargetan. Dem Senat ist es daher verwehrt sich mit dieser Auffassung näher auseinander zu setzen.Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.