Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.01.2003, Az.: L 4 KR 244/00

Übernahme von Kosten für Behandlung nach Tomatis-Hörtherapie; Leistungen der Krankenkassen als Sach- und Dienstleistung; Abweichung zugunsten des Kostenerstattungsprinzips; Ausnahmeregelung für selbstbeschaffte Leistungen; Rechtzeitige Erbringung oder Ablehnung einer Leistung; Zumutbarer Umfang des Bemühens; Verlagerung der Prüfung ins Kostenerstattungsverfahren

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
15.01.2003
Aktenzeichen
L 4 KR 244/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19972
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0115.L4KR244.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - AZ: S 1 KR 148/99

Redaktioneller Leitsatz

Die Krankenkasse lehnt dann eine Leistung nicht zu Unrecht ab, wenn der Versicherte sich nicht im zumutbaren Umfang vor der Leistungsbeschaffung um die Gewährung einer Sachleistung durch die Krankenkasse bemüht hat.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme von Kosten in Höhe von DM 4.630,00 für die Behandlung bei Dr. C. nach der Tomatis-Hörtherapie.

2

Der 1984 geborene Kläger ist bei der Beklagten im Rahmen der Familienversicherung gesetzlich krankenversichert. Er leidet an ausgeprägten Konzentrations-, Lese- und Rechtschreibschwächen. Diese führen zu einem häufigen emotionalen Rückzug in eine Innenwelt.

3

Im Juli 1996 fand Dr. C. bei einem Hörtest deutliche Zeichen von auditiven Wahrnehmungsstörungen. Die eigentliche Behandlung begann am 26. September 1996 zunächst mit einer Hörtherapie, die an 15 aufeinander folgenden Tagen täglich zwei Stunden stattfand. Wegen der Einzelheiten der Therapie wird auf das Schreiben des Dr. C. vom 6. November 2002 verwiesen.

4

Die Mutter des Klägers überreichte anlässlich eines Gespräches in der Geschäftsstelle der Beklagten in Zeven am 16. Dezember 1996 diverse Unterlagen von Dr. C. und Informationsmaterial über die Tomatis-Hörtherapie und beantragte die Kostenübernahme. Die Beklagte hörte daraufhin den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Niedersachsen (MDKN) an. Dr. D. vom MDKN teilt daraufhin der Beklagten am 16. April 1997 mit, dass nicht ganz klar sei, ob tatsächlich eine Krankheit vorliege. Auditive Wahrnehmungsstörungen könnten möglicherweise Symptom einer psychischen Störung sein. Eine konkrete Diagnose werde vom behandelnden Arzt nicht angegeben, ebenso wenig Einzelheiten über die bisherige Diagnostik und Therapie. Die Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit als Therapieziel sei keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine medizinische Indikation für die Anwendung der Tomatis-Methode bestehe nicht.

5

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 27. Dezember 1996 die Kostenübernahme ab. Daraufhin legte der Kläger die ärztliche Bescheinigung des Dr. E., Facharzt für Allgemeinmedizin, vom 12. März 1997 vor. Darin bescheinigt er dem Kläger, dass er Dank der Tomatis-Methode erstaunliche, belegbare Fortschritte in der Wahrnehmung gemacht habe. Deshalb bitte er dringend dies als Kassenleistung anzuerkennen. Gleichzeitig legte die Mutter des Klägers die ärztliche Bescheinigung des Dr. C. vom 6. März 1997 vor. Mit Bescheid vom 28. April und weiterem Bescheid vom 9. Oktober 1997 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme erneut ab. Auf den Widerspruch hörte die Beklagte wiederum den MDKN an. Frau Dr. F. vom MDKN teilte daraufhin der Beklagten unter dem 3. November 1997 mit, dass es sich bei der Tomatis-Methode um eine wissenschaftlich nicht überprüfte Methode handele, deren Wirksamkeit daher nicht nachgewiesen sei. Eine Kostenübernahme könne nicht empfohlen werden. Daraufhin erließ die Beklagte den weiteren Bescheid vom 25. November 1997, in dem sie erneut die Kostenübernahme ablehnte.

6

Im Juli 1999 meldete sich dann der Prozessbevollmächtigte des Klägers, begehrte weiterhin die Kostenerstattung und überreichte diverse Rechnungen beginnend mit der Behandlung am 26. September 1996. Mit Bescheid vom 27. Juli 1999 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme erneut ab. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 16. September 1997 rechtliche Grundsätze für die Kostenerstattung bei nicht vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen empfohlenen Behandlungsmethoden entwickelt. Bei den verhandelten Fällen sei es um die Anwendung von Therapieverfahren gegangen, die bisher nicht zum allgemeinen akzeptierten Standard der medizinischen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung gehört hätten. Nach dem Urteil dürften neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkasse abgerechnet werden, wenn der dazu kraft Gesetzes berufene Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien Empfehlungen über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode abgegeben habe. Der Tomatis-Hörtherapie fehle eine solche Anerkennung. Eine Kostenerstattung komme deshalb nicht in Betracht.

7

Auf den weiteren Widerspruch zog die Beklagte diverse medizinische Unterlagen bei. In dem Bericht vom 6. Mai 1997 führte G. (MDKN) aus, dass der Wert der Klangtherapie als Spielart der "Tomatis-Methode" zur Behandlung des Tinnitus unbewiesen und eine Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht begründet sei. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch deshalb zurück (Widerspruchsbescheid vom 7. September 1999). Auf Grund der fehlenden Aussage des Bundesausschusses komme eine Leistungsbewilligung nicht in Betracht. Auch nach der Rechtsprechung des BSG scheitere eine Kostenerstattung am fehlenden Wirksamkeitsnachweis der Therapie.

8

Hiergegen hat der Kläger am 12. Oktober 1999 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stade erhoben. Das SG hat eine Stellungnahme des Prof. H. eingeholt. Auf die Einzelheiten der Stellungnahme (Bl 31 ff GA) wird verwiesen.

9

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2000 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass eine Empfehlung des Bundesausschusses nicht vorliege. Eine Leistungsverpflichtung der Beklagten komme deshalb nicht in Betracht. Darüber hinaus sei die Therapie bereits vor Antragstellung begonnen worden. Aus diesem Grunde komme eine Kostenerstattung, zumindest teilweise, nicht in Betracht.

10

Gegen den dem Kläger am 17. Oktober 2000 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser Berufung eingelegt, die am 17. November 2000 beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen eingegangen ist.

11

Der Kläger hält die Stellungnahme des Prof. I. nicht für maßgebend.

12

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 10. Oktober 2000 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27. Dezember 1996, 28. April 1997, 9. Oktober 1997, 25. November 1997 und 27. Juli 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Behandlungen nach der Tomatis-Methode bei Dr. C. in Höhe von DM 4.630,00 zu übernehmen.

13

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

15

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren die Stellungnahme des Dr. C. vom 6. November 2002 eingeholt. Danach wird nach einem Hörtest ein individuelles Behandlungsprogramm für den betreffenden Patienten erstellt. Es handele sich prinzipiell nicht um ein und denselben Handlungsablauf, sondern es werde ein für jedes einzelne Kind und dessen Problematik zugeschnittenes musikalisches Behandlungsprogramm erstellt.

16

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugestimmt.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreits wird auf die Gerichts- sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

18

Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

19

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind zutreffend. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die Behandlung bei Dr. C ...

20

Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erhalten die Versicherten die Leistungen der Krankenkassen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistung. Demzufolge hat der Versicherte den für den Sachleistungsanspruch vorgesehenen Weg der Realisierung von Leistungen, nämlich die Behandlung auf Krankenschein bzw. Versicherungskarte bei zugelassenen Vertragsärzten oder zugelassenen Krankenhäusern, im Regelfall einzuhalten. Von diesem, die gesetzliche Krankenversicherung regelnden, Sachleistungsprinzip darf nach § 13 Abs. 1 SGB V zu Gunsten des Kostenerstattungsprinzips nur in den gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen abgewichen werden.

21

Für selbstbeschaffte Leistungen enthält § 13 Abs. 3 SGB V eine Ausnahmeregelung. Hiernach steht den Versicherten ein Anspruch auf Kostenerstattung zu, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit sie notwendig war, und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind.

22

Vorliegend hat die Beklagte Leistungen nicht zu Unrecht abgelehnt, denn der Kläger hat sich nicht im zumutbaren Umfang um die Gewährung einer Sachleistung bemüht. Es entspricht der gesetzlichen Regelung in § 13 Abs. 3 SGB V und der Rechtsprechung des Senats (in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG; vgl. u.a. Urteil des LSG Niedersachsen vom 24. Februar 2001, Az: L 4 KR 11/00 m.w.N.) dass sich der Versicherte, bevor er sich eine Leistung außerhalb des kassen- bzw. vertragsärztlichen Versorgungssystems beschafft, der Krankenkasse die Prüfung ermöglichen muss, ob die - auf Kosten der Krankenkasse beanspruchte - Leistung überhaupt vom Sachleistungsanspruch des Versicherten umfasst ist, insbesondere ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist (§ 12 Abs. 1 SGB V), und welche Möglichkeiten der Realisierung des Anspruchs das bereitstehende Versorgungssystem bietet. Der Versicherte darf der Entscheidung der Krankenkasse nicht dadurch vorgreifen, dass er erstrebte Behandlungen bei einem Nicht-Vertragsarzt oder dass er außervertragliche Leistungen durchführen lässt und die genannte Prüfung in das Verfahren der Kostenerstattung verlagert. Dies dient zugleich dem Schutz der Versicherten; es entlastet ihn von dem Risiko, dass er bei einer nicht auf dem Sachleistungsweg beschafften Leistung Kosten selbst zu tragen hat, wenn ein kostenerstattungspflichtiger Ausnahmetatbestand nicht vorliegt.

23

Der Kläger hat die Behandlungsmaßnahmen bereits mit einem Hörtest im Juli 1996 bzw. mit dem eigentlichen Behandlungsprogramm am 26. September 1996 begonnen. Den Antrag auf Kostenerstattung hat er durch seine Mutter erst im Dezember 1996 gestellt und damit die Prüfung in das Verfahren der Kostenerstattung verlagert, ohne sich zuvor an die Beklagte zu wenden. Da es sich bei der Behandlung nach Auskunft des Dr. C. um einen individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen progredienten Therapieablauf handelt, war eine Kostenerstattung auch für jene Teile der Behandlung nicht möglich, die erst nach Bescheiderteilung durchgeführt wurden. Ein Versicherter, der sich, ohne die Krankenkasse zu kontaktieren, derart behandeln lässt, ist daher regelmäßig entschlossen, die Behandlung unabhängig von der Entscheidung der Kasse zu Ende zu führen. Für die späteren Behandlungsschritte kann die Entscheidung der Krankenkasse somit nicht ursächlich sein (vgl. Urteil des BSG vom 19. Juni 2001, Az.: B 1 KR 23/00 R in SozR 3-2500 § 28 Nr. 6; NZB 2002, S 312, 316).

24

Die Berufung war bereits deshalb zurückzuweisen. Auf das Problem der Zulassung der Tomatis-Therapie durch den Bundesausschuss kam es deshalb ebenso wenig an wie auf die Qualität der Behandlungsmethode.

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

26

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).