Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 16.01.2003, Az.: L 6 U 1/02

Anerkennung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit ; Berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung; Vorliegen einer Berufskrankheit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
16.01.2003
Aktenzeichen
L 6 U 1/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20382
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0116.L6U1.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 03.12.2001 - AZ: S 7 U 144/99

Redaktioneller Leitsatz

Allein das Vorliegen einer Krankheit der Berufskrankheiten-Liste sowie einer beruflichen Exposition, die geeignet ist, diese Krankheit zu verursachen, begründen keinen Anscheinsbeweis und damit auch nicht die Wahrscheinlichkeit der beruflichen Verursachung, denn es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen die bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 3. Dezember 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) als Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) und Verletztenrente. Der 1943 geborene Kläger absolvierte von 1958 bis 1966 eine Berufsausbildung zum Fernmeldemechaniker. Von April 1966 bis März 1970 wurde er zum Krankenpfleger ausgebildet und war bis September 1972 in diesem Beruf tätig. Von Oktober 1972 bis Mitte 1977 war er als Außendienstmitarbeiter tätig, von Mitte 1977 bis Ende 1978 als Betriebskrankenpfleger, von Januar 1979 bis Juli 1988 wiederum als Außendienstmitarbeiter und von September 1988 bis Februar 1995 als selbstständiger Kurier. Von April 1995 bis August 1997 war der Kläger wiederum als Krankenpfleger tätig. Seit September 1997 war er arbeitslos, seit Mitte 2001 erhält er Erwerbsunfähigkeitsrente. 1966/1967 traten Beschwerden an der LWS auf. Im Dezember 1996 wurde ein Bandscheibenprolaps L5/S1 links festgestellt, außerdem mediale Bandscheibenprotrusionen in den Segmenten L3/4 und L4/5 (Bericht Dr. C. vom 16. Dezember 1996). Am 7. August 1997 erfolgte die Bandscheibenoperation L5/S1 (Bericht Dr. D. vom 19. August 1997).

2

Am 19. September 1997 beantragte der Kläger die Anerkennung seiner LWS-Beschwerden als BK. Die Beklagte holte Auskünfte der Arbeitgeber des Klägers zu den beruflichen Belastungen ein, zog medizinische Unterlagen bei, außerdem holte sie die Stellungnahme von Dr. E. vom 29. Juni 1998 ein, der das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen verneinte und auf degenerative Veränderungen der gesamten LWS hinwies. Nach den Ausführungen der staatlichen Gewerbeärztin Dr. F. vom 3. August 1998 kann die bei dem Kläger bestehende bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS auf Grund der kurzen Belastungsdauer nicht Folge der beruflichen Tätigkeit sein. Mit Bescheid vom 16. September 1998 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung der Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers als BK Nr. 2108 mit der Begründung ab, eine langjährige Belastung (mindestens 10 Jahre) könne nicht festgestellt werden. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

3

Am 22. Februar 1999 wurde eine erneute Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 durchgeführt. Am 29. März 1999 beantragte der Kläger gemäß § 44 SGB X die Rücknahme des Bescheides vom 16. September 1998 unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. März 1999 - Az.: B 2 U 12/98 R. Mit Bescheid vom 27. Mai 1999 lehnte die Beklagte die Rücknahme ihres Bescheides ab (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 4. August 1999).

4

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Stade hat der Kläger darauf hingewiesen, dass er Fachpfleger für Anästhesie, als Selbstständiger im Kurierdienst und bei der Tätigkeit in der Sozialstation für häusliche Krankenpflege schwere körperliche Arbeiten verrichtet habe. Das SG hat ärztliche Unterlagen beigezogen und auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des Arztes für Sozialmedizin Dr. G. vom 26. März 2000 eingeholt. Der Gutachter hat die Belastungsdosen für die verschiedenen Tätigkeiten des Klägers errechnet. Sofern auch die Tätigkeit als Kurierfahrer versichert gewesen sei, sei das Bandscheibenleiden mit Wahrscheinlichkeit auf langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten zurückzuführen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 20 v.H. einzuschätzen. Die Beklagte hat die Stellungnahmen ihres TAD vom 8. Januar 2001 (Tätigkeiten des Klägers als Krankenpfleger), des TAD der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen vom 26. September 2000 (Belastungen während der selbstständigen Tätigkeit des Klägers als Kurierfahrer) und des TAD für Unfallkasse, Post und Telekom vom 22. Januar 2001 (Tätigkeit als Fernmeldemechaniker) eingereicht. Das SG hat die ergänzende Stellungnahme von Dr. G. vom 14. August 2001 eingeholt. Der Sachverständige hat seine Bewertung mit der Begründung revidiert, die arbeitstechnischen Voraussetzungen lägen nicht vor.

5

Mit Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2001 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, es spreche mehr gegen als für eine berufliche Ursache der Bandscheibenerkrankung des Klägers, weil die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Gegen diesen am 4. Dezember 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 2. Januar 2002 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

6

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 3. Dezember 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass seine LWS-Erkrankung Folge einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV ist,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 16. September 1998 Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 3. Dezember 2001 zurückzuweisen.

8

Die Beklagte hält den Gerichtsbescheid und ihre Bescheide für zutreffend.

9

Im vorbereitenden Verfahren ist das Gutachten von Dr. H. vom 26. November 2002 eingeholt worden. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes, des Vorbringens der Beteiligten und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Entscheidungsgründe

11

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig, sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass die Beklagte nicht verpflichtet ist, ihren die Anerkennung einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV ablehnenden Bescheid gemäß § 44 SGB X zurückzunehmen. Auch der Senat vermag nicht feststellen, dass die Beklagte von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, denn beim Kläger liegt keine BK Nr. 2108 vor. Deshalb hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Verletztenrente.

12

Es kann dahinstehen, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Anerkennung der BK Nr. 2108 erfüllt sind, denn die medizinischen Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger litt zwar nach den Feststellungen von Dr. H. zum Zeitpunkt der Aufgabe der belastenden Tätigkeit im Jahr 1997 im Segment L5/S1 an einer ...bandscheibenbedingten Erkrankung" i.S.d. BK Nr. 2108. Es lässt sich aber nicht wahrscheinlich machen, dass diese Erkrankung durch seine berufliche Tätigkeit wesentlich (mit)verursacht worden ist.

13

Allein das Vorliegen einer Krankheit der BK-Liste sowie einer beruflichen Exposition, die geeignet ist, diese Krankheit zu verursachen, begründen keinen Anscheinsbeweis und damit auch nicht die Wahrscheinlichkeit der beruflichen Verursachung, denn es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen die bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist (BSG, Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - , SGb 1999, 39). Der Grund dafür liegt darin, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen auf einem Bündel von Ursachen (...multifaktorielles Geschehen") beruhen. Es handelt sich dabei - darauf hat Dr. H. hingewiesen - um dem Lebensalter vorauseilende Osteochondrosen (sklerosierende Verdichtungen an den Deck- und Grundplatten der Wirbelkörper sowie im Bereich der Zwischenwirbelräume) bevorzugt an der unteren LWS und Spondylosen (knöcherne Ausziehungen an den Deck- und Tragplatten) insbesondere an den oberen LWS-Segmenten. Nach Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen lässt sich ein solches - durch überdurchschnittliche berufliche Belastungen entstandenes - charakteristisches Verteilungsmuster nicht erkennen. Dr. H. hat auf den von ihm ausgewerteten Röntgenaufnahmen aus den Jahren 1996 und 1998 und den kernspintomographischen Aufnahmen der LWS keine der Altersnorm deutlich vorauseilende mehrsegmentale Veränderung im Bereich der Bandscheibenräume der LWS festgestellt. Denn es bestehen weder eine distalisierte Osteochondrose noch ventrale Abstützreaktionen im Bereich der oberen LWS und damit keine röntgenologisch nachweisbaren Veränderungen, wie sie auf Grund körperlicher Schwerarbeit zu erwarten wären. Beim Kläger liegt zwar im Segment L3/4 und leichtergradig auch in den benachbarten Segmenten L2/3 und L4/5 Spondylosen vor. Diese sind jedoch nicht berufsbedingt, sondern sind nach den Erläuterungen von Dr. H. als körpereigene Antwort auf die skoliotische Fehlhaltung der LWS anzusehen. Der Einbruch an den Grund- und Deckplatten im Segment L4/5 mit in den Wirbelkörper eindringendem Bandscheibengewebe ist ebenfalls schicksalhaft, denn er ist nach den Ausführungen des Sachverständigen als Residualzustand nach einer Kaudarückbildungsstörung bzw. einer juvenilen Osteochondrose (lumbaler Morbus Scheuermann) einzuordnen. Schließlich hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass im Segment L5/S1 eine weitere prädiskotische Deformität vorliegt, die das Auftreten eines Bandscheibenschadens begünstigen kann.

14

Eine für den Kläger günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Gutachtens von Dr. G ... Denn der Sachverständige hat sich weder mit den Ergebnissen der bildgebenden Verfahren noch mit den konkurrierenden Ursachen für die LWS-Beschwerden des Klägers auseinander gesetzt. Darauf hat Dr. H. zu Recht hingewiesen. Im Übrigen hat der Sachverständige seine ursprüngliche Bewertung in der ergänzenden Stellungnahme vom 14. August 2001 revidiert.

15

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.