Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 20.01.2003, Az.: L 5 B 173/02 VG

Auferlegung der Kosten für erledigte Untätigkeitsklage; Entscheidung nach billigem Ermessen; Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes; Erfordernis einer fristgemäßen Behördenentscheidung; Kenntnis der Behörde von Verletzungen; Vorliegen eines zureichenden Grundes für Verzögerung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.01.2003
Aktenzeichen
L 5 B 173/02 VG
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 19983
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0120.L5B173.02VG.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim -14.01.2002 - AZ: S 7 VG 5/01

Redaktioneller Leitsatz

Eine zulässige Untätigkeitsklage ist begründet, wenn die Behörde ohne zureichenden Grund die Entscheidung innerhalb der angemessenen Frist nicht getroffen hat.

Tenor:

Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts (SG) Hildesheim vom 14.Januar 2002 aufgehoben. Der Beklagte und Beschwerdegegner hat die außergerichtlichen Kosten für das Verfahren S 7 VG 5/01 zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die Beschwerde richtet sich gegen den Beschluss vom 14. Januar 2002, mit dem das SG Hildesheim es abgelehnt hat, dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für eine erledigte Untätigkeitsklage aufzuerlegen.

2

Die am H. geborene - und inzwischen am 1. Januar 2002 verstorbene und von den Rechtsnachfolgern zu je 1/2 beerbte - Klägerin beantragte am 24. August 1999 Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Sie war in der Nacht vom 19. auf den 20. Juli 1999 körperlich erheblich verletzt worden Das Landgericht I. verurteilte den Täter durch rechtskräftiges Urteil vom 22. März 2000 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem Raub und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

3

Das Versorgungsamt (VA) forderte die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft am 27. August 1999 an. Am 24. September 1999 gingen die Ermittlungsakten bei der Behörde ein. Am 28. September 1999 wurde die Rückgabe an die Staatsanwaltschaft mit Hinweis auf den Nichtabschluss des Verfahrens verfügt und eine Frist von 3 Monaten notiert. Am 11. November 1999 ging der auf Anforderung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 5. Oktober 1999 vervollständigte Feststellungsantrag erneut bei dem VA ein. Am 9. Dezember 1999 erhielt das VA die Ermittlungsakten mit der Anklageschrift vom 19. November 1999. Am 10. Dezember 1999 vermerkte die Sachbearbeitung, eine Entscheidung sei wegen fehlenden Abschlusses des Strafverfahrens nicht möglich. Am 16. Dezember 1999, 16. März 2000 und 17. April 2000 bat das VA das Landgericht I. um Akteneinsicht. Am 28. April 2000 ging die Strafakte mit dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts I. beim VA ein. Mit Verfügung vom 4. Mai 2000 hielt die Behörde fest, eine Entscheidung könne erst nach von der Staatsanwaltschaft anzufordernden Gutachten getroffen werden. Die Staatsanwaltschaft I. teilte am 2. Juni 2000 mit, die angeforderten Gutachten hätten sich auf den Täter, nicht auf die Klägerin bezogen.

4

In einem Bearbeitungsvermerk des VA vom 11. Juli 2000 heißt es, die Voraussetzungen des § 1 OEG seien erfüllt, ein versorgungsärztliches Gutachten sei indes erforderlich. Dieses wurde am 20. November 2000 erstattet und kam zum Ergebnis, zur endgültigen Beurteilung der Schädigungsfolgen seien noch Ermittlungen auf dem ärztlichen Fachgebiet der Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten erforderlich. Nachdem ein am 7. Dezember 2000 bei dem HNO-Arzt Dr. J. angeforderter Befundbericht trotz Erinnerung vom 4. Januar 2001 nicht vorgelegt wurde, beauftragte das VA Dr. K. am 23. Januar 2001 mit der Begutachtung und setzte hierfür eine Frist von längstens 3 Monaten. Das Gutachten vom 26. März 2001 ging am 3. April 2001 bei der Verwaltungsbehörde ein. Mit Bescheid vom 6. April 2001 entschied das VA über die Gewährung von Beschädigtenversorgung sowie die Feststellung vorübergehender Gesundheitsstörungen.

5

Am 20. März 2001 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben, weil das Verfahren der Verwaltungsbehörde nicht nachvollziehbar und die Klägerin ohne Zwischennachricht oder Zwischenbescheid geblieben sei. Am 2. Juli 2001 hat die Klägerin die Untätigkeitsklage in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

6

Das SG Hildesheim hat mit Beschluss vom 14. Januar 2002 den Kostenantrag abgelehnt. Der Beklagte habe Anlass zur Klageerhebung nicht gegeben, denn eine Untätigkeit habe nicht vorgelegen. Erst nach Erstellung des versorgungsärztlichen Gutachtens vom 20. November 2000 habe die ärztliche Entscheidung getroffen werden können, dass zur Abklärung möglicher Schädigungsfolgen noch eine hno-fachärztliche Untersuchung notwendig gewesen sei. Die Zeitdauer vom Tag der Untersuchung der Klägerin durch Dr. K. am 15. Februar 2001 bis zum Eingang des Gutachtens am 3. April 2001 könne nicht dem Beklagten angelastet werden, der den Gutachter am 2. März und 28. März 2001 um bevorzugte Erledigung gebeten habe. Der Klägervertreter selbst sei am 25. Mai, 14. August 2000 und 29. März 2001, der Sohn der Klägerin am 30. Oktober 2000 und 1. März 2001 über den Sachstand unterrichtet worden. Die Laufzeit des Gutachtens habe sich innerhalb einer vom Gericht für normal gehaltenen Zeit gehalten. Auch die sonstigen Bearbeitungszeiten hätten innerhalb der üblichen Bearbeitungszeit gelegen. Dabei sei insbesondere zu bedenken, dass erhebliche Nebenakten anzufordern und auszuwerten gewesen seien.

7

Gegen den am 31. Januar 2002 zugestellten Beschluss wenden sich die Rechtsnachfolger der Klägerin mit der am 5. Februar 2002 eingegangenen Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfeentscheidung vom 7. Juni 2002).

8

II.

Die statthafte und zulässige Beschwerde der Rechtsnachfolger der Klägerin ist begründet. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Untätigkeitsklage zu erstatten.

9

Ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, richtet sich nach § 193 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Entscheidung über die Kostenerstattung ist unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu treffen, wobei u.a. die Erfolgsaussichten der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung des Rechtsstreits von besonderer Bedeutung sind.

10

Die Untätigkeitsklage war zulässig. Gemäß § 88 Abs. 1 SGG ist eine solche Klage zulässig, wenn über den Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist und seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts 6 Monate vergangen sind. Diese Frist war seit dem am 24. August 1999 eingegangenen Antrag zurzeit des Bescheides vom 6. April 2001 bei weitem überschritten.

11

Die zulässige Untätigkeitsklage ist begründet, wenn die Behörde ohne zureichenden Grund die Entscheidung innerhalb der angemessenen Frist nicht getroffen hat. Einen zureichenden Grund für die am 6. April 2001 getroffene Entscheidung kann der Beklagte hier für sich nicht in Anspruch nehmen. Denn die Verletzungen, die die Klägerin durch die entschädigungspflichtige Gewalttat erlitten hatte, waren seit dem 28. April 2000 bekannt. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Strafakten ein, die das rechtskräftige Urteil des Landgerichts I. mit den entsprechenden Angaben enthielten. Es mag noch hinnehmbar sein, dass der Beklagte von einer weiter gehenden eigenständigen Prüfung noch Abstand nahm und bei der Staatsanwaltschaft anfragte, ob sich im gerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten auf die Klägerin bezogen hatten. Dass dies nicht der Fall war, war dem Beklagten jedoch seit dem 2. Juni 2000 bekannt. Dementsprechend stellte die Sachbearbeitung am 11. Juli 2000 fest, dass die Voraussetzungen des § 1 OEG erfüllt waren.

12

Schon eine Begründung für den zeitlichen Abstand der Sachbearbeitung zwischen dem 2. Juni und dem 11. Juli 2000 ist aus den Akten nicht nachzuvollziehen. Zu diesem Zeitpunkt aber hätte eine Entscheidung jedenfalls darüber getroffen werden können, dass - wie im späteren Erstanerkennungsbescheid vom 6. April 2001 geschehen - die Klägerin vorübergehende Gesundheitsstörungen erlitten hatte, die gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Nr. 1, § 10 Bundesversorgungsgesetz (BVG) jedenfalls einen Anspruch auf Heilbehandlung begründeten. Der die medizinischen Grundlagen hierfür dokumentierende Entlassungsbericht des L. Krankenhauses vom 30. Juli 1999 lag dem Beklagten seit 7. September 1999 vor, während das rechtsmedizinische Gutachten des Prof. Dr. M. vom 28. Juli 1999, das radiologische Gutachten des Städtischen Krankenhauses I. vom 25. Oktober 1999, der Bericht des L. Krankenhauses vom 4. November 1999 und das Gutachten des Chirurgen N. vom 2. November 1999, die sämtlich im Ermittlungsverfahren der Polizei erstattet worden waren, seit der am 9. Dezember 1999 erfolgten Einsichtnahme in die Ermittlungsakten bekannt waren. Am 11. Juli 2000 war auch längst die Frist von 6 Monaten verstrichen, die zum Ausschluss lediglich vorübergehender Gesundheitsstörungen bei der Beurteilung der Folgen einer Schädigung abzuwarten ist, § 30 Abs. 1 Sätze 3 und 4 BVG. Es ist überdies nicht nachvollziehbar, dass beim Ärztlichen Dienst zwar eine Stellungnahme des Landeskrankenhauses I., in welchem sich die Klägerin nach den erlittenen Verletzungen aufgehalten hatte, für erforderlich gehalten wurde, jedoch die ebenfalls aus dortiger Sicht notwendige Untersuchung und Begutachtung nicht gleichzeitig, sondern fast einen Monat später, nämlich am 11. August 2000 veranlasst wurde. Den hierdurch entstandenen Zeitverzug hat der Beklagte ebenfalls zu vertreten.

13

Die zwischenzeitlich dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin bzw. deren Sohn schriftlich bzw. telefonisch erteilten Mitteilungen über den Verfahrensstand können den fehlenden zureichenden Grund für die nicht zeitgerechte Entscheidung allein nicht ersetzen und die Untätigkeit im Sinne des § 88 SGG nicht beseitigen.

14

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.