Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 06.01.2003, Az.: L 6 U 166/02
Höhere Verletztenrente oder Stützrente wegen eines Arbeitsunfalls; Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit; Vorliegen eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung; Verbindlichkeit ärztlicher Meinungsäußerungen und allgemeiner Erfahrungssätze
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 06.01.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 166/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 21001
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0106.L6U166.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 20.03.2002 - AZ: S 7 U 86/01
Rechtsgrundlagen
- § 212 SGB VII
- § 48 Abs. 1 SGB X
- § 73 Abs. 3 SGB VII
- § 214 Abs. 3 S. 2 SGB VII
- § 580 RVO
- § 581 RVO
Redaktioneller Leitsatz
Die Bemessung der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung des Verletzten durch die Unfallfolgen und der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens.
Bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind die allgemeinen Erfahrungssätze und ärztlichen Meinungsäußerungen zu beachten, auch wenn sie im Einzelfall nicht bindend sind.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 20. März 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
I.
Der Kläger begehrt höhere Verletztenrente wegen eines Arbeitsunfalls vom 22. Juni 1966. Außerdem begehrt er Rente für den Zeitraum vom 15. Februar 1974 bis 6. August 1998.
Der 1942 geborene Kläger erlitt am 22. Juni 1966 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich die Füße verätzte. Die Beklagte zahlte bis 31. Juli 1967 Verletztenrente, über diesen Zeitpunkt hinaus lehnte sie die Entschädigung mit der Begründung ab, die MdE betrage nur noch 10 v.H. (Bescheid vom 28. August 1967).
Am 15. Februar 1974 quetschte sich der Kläger bei einer (in den Zuständigkeitsbereich der Unfallkasse Post und Telekom fallenden) betrieblichen Tätigkeit den Kleinfinger der rechten Hand im Mittelgelenk nahezu ab. Nach Replantation des Fingers in Streckstellung erfolgte eine Korrektur mit Arthrodese des Mittelgelenkes. Nach drei Monaten war der Kläger wieder arbeitsfähig. Den Rentenantrag des Klägers vom Mai 1999 lehnte die Unfallkasse Post und Telekom mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde wegen der Folgen des Arbeitsunfalls nicht um wenigstens 10 v.H. gemindert. Widerspruchs- , Klage- und Berufungsverfahren blieben erfolglos (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 6. Januar 2003 L 6 U 164/02).
Am 7. August 1998 erlitt der Kläger bei einem weiteren Arbeitsunfall einen Kahnbeinbruch der rechten Hand. Auf Grund dieses Unfalls ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 20 v.H. gemindert, die Unfallkasse Post und Telekom gewährt keinen Unfallausgleich, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mindestens 25 v.H. beträgt (§ 35 Beamtenversorgungsgesetz).
Im Juni 1999 beantragte der Kläger rückwirkend ab 1974 Verletztenrente wegen des Unfalls vom 22. Juni 1966. Die Beklagte holte das Gutachten von Prof. Dr. C. vom 2. Februar 2000 ein. Mit Bescheid vom 21. September 2000 erkannte sie als Unfallfolgen an: "Empfindliche, ausgedehnte, durchblutungs- und belastungsgeminderte, mit Spalthaut besetzte Fußrückennarbe beiderseits. Bewegungseinschränkungen beider oberer Sprunggelenke mittleren Grades. Geringfügige Schwellneigung beider Füße. Belastungsschwäche des linken Beines mit Muskelminderung". Außerdem bewilligte sie ab 7. August 1998 Verletztenrente in Höhe von 10 v.H. der Vollrente. Eine höhere Rente lehnte sie mit der Begründung ab, es sei keine Verschlimmerung eingetreten. Im Widerspruchsverfahren wandte der Kläger ein, die Rente sei bereits ab 15. Februar 1974 zu zahlen. Außerdem sei die Rente zu gering festgesetzt worden. Nach Einholung einer Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. D. vom 18. Dezember 2000 wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 6. März 2001 zurück.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg mit Urteil vom 20. März 2002 mit der Begründung abgewiesen, es zeige sich ein gut kompensiertes Gangbild, das mit einer MdE in Höhe von 10 v.H. ausreichend bewertet sei. Ein früherer Rentenbeginn komme nicht in Betracht, weil der Arbeitsunfall vom 15. Februar 1974 nur eine MdE unter 10 hinterlassen habe.
Gegen dieses am 27. März 2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. April 2002 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
das Urteil des SG Oldenburg vom 20. März 2002 aufzuheben,
- 2.
den Bescheid der Beklagten vom 21. September 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2001 zu ändern,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente ab dem 15. Februar 1974 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 20. März 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit Verfügung der Berichterstatterin vom 14. Oktober 2002 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.
Gründe
II.
Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 SGG zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).
Das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf höhere Verletztenrente (1.), noch auf (Stütz-)Rente für den Zeitraum vom 15. Februar 1974 bis 6. August 1998 (2.).
Das Begehren des Klägers richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997 eingetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist.
1.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf höhere Verletztenrente, denn auch der Senat vermag nicht festzustellen, dass seine Erwerbsfähigkeit ab 7. August 1998 um mehr als 10 v.H. gemindert ist. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, ob sich der Gesundheitszustand des Klägers gegenüber den Verhältnissen zum Zeitpunkt des bestandskräftigen Bescheides der Beklagten vom 28. August 1967 derart verschlechtert hat, dass eine Erwerbsfähigkeit um weitere 5 v.H. gemindert ist (§ 48 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 73 Abs. 3 und 214 Abs. 3 Satz 2 SGB VII). Denn es liegt kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vor, weil die Beklagte die Bewilligung der Verletztenrente mit Bescheid vom 28. August 1967 abgelehnt hat.
Die Bemessung der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung des Verletzten durch die Unfallfolgen und der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Dabei liegt die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis heranzuziehen sind (BSG SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23). Sie stellen in erster Linie auf das Ausmaß der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigung ab.
Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze geht der Senat in Übereinstimmung mit Prof. Dr. C. und Dr. D. davon aus, dass die durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom 22. Juni 1966 bedingte MdE des Klägers nur mit 10 v.H. zu bewerten ist. Dem liegen folgende Erwägungen zu Grunde: Der Kläger hat bei dem Arbeitsunfall eine Verätzung beider Füße erlitten. Diese Verletzung hat außer Fußrückennarben und einer geringfügigen Schwellneigung beider Füße insbesondere Bewegungseinschränkungen der beiden oberen Sprunggelenke und eine Belastungsschwäche des linken Beines hinterlassen.
Als Folge von Fußverletzungen ist eine MdE von 20 v.H. z.B. anzunehmen bei einer völligen Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenkes (Mehrhoff/ Muhr, Unfallbegutachtung, 10. Auflage, S.154) oder bei einer völligen Versteifung des oberen Sprunggelenkes im Grad von 0 bis 20 Grad Fußsenkung (Mehrhoff/Muhr, a.a.O.). Eine so schwer wiegende Beeinträchtigung liegt hier nicht vor. Die Verletzung hat nach den Feststellungen von Prof. Dr. C. nicht zu einer Versteifung, sondern lediglich zu einer Bewegungseinschränkung der oberen Sprunggelenke geführt. Der Kläger kann den Fuß nicht über den rechten Winkel (0-Stellung) heben, die Fußsenkung ist etwa zur Hälfte eingeschränkt (rechts 30, links 20 Grad). Zudem hat Prof. Dr. C. festgestellt, dass das Gangbild trotz der Belastungsschwäche des linken Beines gut kompensiert ist.
2.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zahlung der (Stütz-)Rente bereits ab 15. Februar 1974. Ein Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung setzt gemäß §§ 580, 581 RVO voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Sofern die MdE des Versicherten - wie hier - wegen eines anderen Arbeitsunfalls bzw. eines Unfalls nach den Beamtengesetzen um mindestens 10 v.H. gemindert wird, führt auch eine MdE um mindestens 10 v.H. zur Zahlung einer sog. Stützrente. Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall erst seit dem 7. August 1998 erfüllt, weil der Kläger an diesem Tag einen Arbeitsunfall erlitten hat, der seine Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 v.H. gemindert hat. Die Beklagte zahlt deshalb zu Recht ab diesem Tag Verletztenrente. Dagegen scheitert ein Anspruch auf Zahlung von Rente bereits ab 15. Februar 1974 daran, dass der Arbeitsunfall von diesem Tag keine MdE von mindestens 10 v.H. hinterlassen hat (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 6. Januar 2003 L 6 U 164/02).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.