Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.01.2003, Az.: L 16 B 44/02 U
Pflichtgemäßes Ermessen bei Entscheidung über Erstattung von Kosten der Begutachtung; Maßgeblichkeit des Gutachtens für Aufklärung des Sachverhalts und richterliche Meinungsbildung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 15.01.2003
- Aktenzeichen
- L 16 B 44/02 U
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 15053
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0115.L16B44.02U.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 06.09.2002 - S 2 U 221/00
Rechtsgrundlage
- § 109 Abs. 1 S. 2 SGG
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 6. September 2002 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt, die Kosten des auf seinen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Orthopäden Dr. med. F. eingeholten Gutachtens vom 24. April 2002 auf die Staatskasse zu übernehmen.
Der am 12. März 1967 geborene Kläger ist bei dem Krankenhaus G., Bremen, als Krankenpfleger beschäftigt. Er erlitt am 5. September 1997 einen Arbeitsunfall, indem er mit dem rechten Knie gegen ein Patientenbett stieß; unfallbedingt kam es zu einer Einblutung in die Weichteile vor der rechten Kniescheibe. Am 23. September 1997 wurde der Schleimbeutel an der rechten Kniescheibe operativ entfernt. Es entwickelte sich eine Blutrücklaufstörung am rechten Unterschenkel, die zu einer stationären Behandlung vom 29. September bis 13. Oktober 1997 im Zentrum für Innere Medizin, Zentralkrankenhaus (ZKH) H., führte. Am 28. Oktober 1997 war der Kläger wieder arbeitsfähig.
Mit Bescheid vom 2. August 2000 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung in Höhe von 20 v. H. der Vollrente für die Zeit vom 28. Oktober 1997 bis 31. Oktober 1998 und lehnte über diesen Zeitraum hinaus die Zahlung einer Verletztenrente mit der Begründung ab, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) rentenberechtigenden Grades (mindestens 20 v. H.) liege nicht vor. Sie stützte sich auf ein unfallchirurgisches Gutachten von Prof. Dr. med. I./Dr. J. (Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie im Zentrum für Chirurgie des ZKH K.) vom 22. Mai 2000 (mit einem radiologischen Zusatzgutachten von Prof. Dr. med. L. vom 24. März 2000). Die Gutachter führten aus, als Unfallfolgen bestünden eine Schwellneigung des rechten Beines nach posttraumatischer Unterschenkelvenenthrombose und eine Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der Narbe vor der rechten Kniescheibe; die MdE betrage für die Zeit bis 31. Oktober 1998 20 v. H., für die Zeit vom 1. November 1998 bis 30. Juni 1999 10 v. H. und danach unter 10 v. H. - Der am 21. August 2000 eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. November 2000, auf den verwiesen wird, Bl. 92 Verwaltungsakte).
Der Kläger hat am 11. Dezember 2000 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben und die Zahlung einer Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v. H. der Vollrente über den 31. August 1998 hinaus begehrt.
Das SG hat Befundberichte von dem Orthopäden Dr. med. M. vom 2. März 2001, von der Ärztin für Orthopädie Dr. med. N. vom 8. April 2001 und von dem Arzt für Innere Medizin Dr. med. O. vom 18. Mai 2001 angefordert. Es hat ferner von Amts wegen ein Gutachten von dem Facharzt für Chirurgie Privat-Dozent Dr. med. P. vom 4. Oktober 2001 eingeholt, in dem dieser die MdE ab 1. November 1998 auf 10 v. H. wegen der Unfallfolgen (geringgradige Umfangvermehrung des rechten Beines als Folge des gestörten venösen Blutrückflusses, reizlose Operationsnarbe vor der rechten Kniescheibe) eingeschätzt hat. Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat es ferner ein Gutachten von dem Arzt für Orthopädie Dr. med. F. vom 24. April 2002 eingeholt. Dieser hat ebenfalls die MdE ab 1. November 1998 mit 10 v. H. bewertet und als wesentliche Unfallfolge eine Umfangvermehrung des rechten Oberschenkels infolge der nach Knieprellung und operativer Behandlung einer Schleimbeutelentzündung aufgetretenen Unterschenkelvenenthrombose bezeichnet. - Am 22. Juli 2002 hat der Kläger die Klage zurückgenommen.
Das SG hat mit Beschluss vom 6. September 2002 den Antrag des Klägers, die Kosten des Gutachtens von Dr. med. F. vom 24. April 2002 auf die Staatskasse zu übernehmen, abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der Entscheidung, ob die Kosten des Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen seien, sei zu berücksichtigen, ob es für die gerichtliche Entscheidung Bedeutung gewonnen und die Aufklärung objektiv gefördert habe. Dabei werde keine Rücksicht darauf genommen, wer den Prozess gewonnen habe oder gewonnen hätte. Im vorliegenden Fall sei die Beklagte dem sorgfältig begründeten Gutachten gefolgt, das Prof. Dr. med. I./Dr. J. nach eingehender Untersuchung und Begutachtung des Klägers erstattet habe. Der gemäß §§ 103, 106 SGG gehörte Sachverständige Privat-Dozent Dr. med. P. habe aufgrund einer nochmaligen Untersuchung des Klägers ebenfalls ab 1. November 1998 eine MdE von 10 v. H. für zutreffend erachtet und dies überzeugend begründet. Zu dem gleichen Ergebnis sei der gemäß § 109 SGG gehörte Sachverständige Dr. med. F. gekommen. Danach ergebe sich, dass das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten zur weiteren Sachaufklärung nicht beigetragen habe. Wenn der Kläger erst nach Vorlage dieses Gutachtens die Klage zurückgezogen habe, ergebe sich daraus kein zureichender Grund, die hierfür aufgewendeten Kosten auf die Staatskasse zu übernehmen. Beide zuvor eingeholten Gutachten hätten den gleichen Sachverhalt richtig und vollständig erfasst. Die Begründung für die Höhe und Dauer der rentenberechtigenden MdE sei in beiden Gutachten sorgfältig gewesen. Wenn der Kläger erst nach einem weiteren Gutachten zu der Einsicht gekommen sei, dass die Weiterverfolgung der Klage aussichtslos sei, sei diese späte Erkenntnis kein ausreichender Anlass, die Staatskasse mit den Kosten des nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens ganz oder teilweise zu belasten.
Der Kläger hat gegen den ihm am 1. Oktober 2002 zugestellten Beschluss am 4. Oktober 2002 beim SG Beschwerde eingelegt, das ihr nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen vorgelegt hat.
Der Kläger macht geltend, dadurch, dass er nach dem Vorliegen des Gutachtens von Dr. med. F. die Klage zurückgezogen habe, habe er das Gericht entlastet. Es könne auch nicht argumentiert werden, dass das Gutachten von Dr. med. F. zu denselben Ergebnissen gekommen sei wie die vorher von der Beklagten und vom SG eingeschalteten Gutachter. Denn allein der Sachverständige Dr. med. F. habe sein uneingeschränktes Vertrauen genossen. Daher habe allein das Gutachten von Dr. med. F. die Frieden stiftende und die Justiz entlastende Funktion ausüben können.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 6. September 2002 aufzuheben und die Kosten des gemäß § 109 SGG von dem Arzt für Orthopädie Dr. med. F. eingeholten Gutachtens vom 24. April 2002 auf die Staatskasse zu übernehmen.
Dem Gericht haben die Verwaltungsakte der Beklagten (Az. 3-38-I 050183 F) und die Gerichtsakte des Sozialgerichts Bremen/Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Az. S 2 U 221/00, S 2 B 71/02 U, L 16 B 44/02 U) vorgelegen.
II.
Die gemäß § 172 Abs. 1 SGG statthafte und form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte Beschwerde ist zulässig. Sie ist jedoch zurückzuweisen.
Das Gericht hat die Entscheidung darüber, ob die Kosten der Begutachtung im Rahmen des § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG auf die Staatskasse zu übernehmen sind, nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 109 Rdz. 16, 16a m.w.N.). Eine Überprüfung des mit der Beschwerde angefochtenen Beschlusses des SG kann sich infolgedessen nur darauf erstrecken, ob die Voraussetzungen und die Grenzen des Ermessens richtig bestimmt und eingehalten worden sind. Im Rahmen der gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung ist darauf abzustellen, ob das betreffende Gutachten für die Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts von Bedeutung gewesen ist und damit zu der für die Rechtsfindung erforderlichen richterlichen Meinungsbildung und der gerichtlichen Entscheidung maßgebend beigetragen hat (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 109 Rdz. 16a). Das SG hat den Antrag auf Übernahme der Kosten auf die Staatskasse mit dem Hinweis abgelehnt, das Gutachten habe keine neuen und für die Sachaufklärung wichtigen Gesichtspunkte erbracht. Diese Begründung ist zutreffend, denn Dr. med. F. hat mit den gleichen Argumenten, die bereits Privat-Dozent Dr. med. P. aufgezeigt hat, die MdE ab 1. November 1998 auf 10 v. H. eingeschätzt. Als wesentliche Unfallfolge hat er - ebenso wie Privat-Dozent Dr. med. P. - eine Umfangvermehrung des rechten Oberschenkels infolge der nach der operativen Behandlung einer Schleimbeutelentzündung aufgetretenen Unterschenkelvenenthrombose bezeichnet.
Ermessensfehlerfrei hat das SG ferner dargelegt, dass das Gesetz nicht darauf abstelle, ob das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten dem Rechtsfrieden gedient habe. Eine Kostenübernahme ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn das Gutachten nichts Neues gebracht und der Kläger daraufhin die Klage zurückgenommen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 109 Rdz. 16a; Zeihe, Sozialgerichtsgesetz 8. Aufl., § 109 Rdz. 9c; Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 20. Juni 1994, Az. L 10 KoB 93/94 B).
Nach allem erweist sich die Beschwerde als unbegründet, so dass ihr der Erfolg zu versagen ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).