Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 07.01.2003, Az.: L 1 RA 220/02

Rentenanspruch wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Einschränkung der Leistungsfähigkeit durch starke psychische Belastungen im familiären oder beruflichen Bereich

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
07.01.2003
Aktenzeichen
L 1 RA 220/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 14707
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0107.L1RA220.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - AZ: S 4 RA 179/01

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

2

Die im Jahre 1950 geborene Klägerin hat nach dem Besuch der Hauptschule den Beruf der Damen-Schneiderin erlernt (1966-69) und - unterbrochen durch eine kindererziehungsbedingte Pause Mitte der 70-er Jahre - mehr als 20 Jahre lang ausgeübt, zuletzt u.a. als Absteckerin. Im Jahre 1993 kündigte sie das Beschäftigungsverhältnis und arbeitete stattdessen als Verkäuferin in einem Modegeschäft, wo sie u.a. eine Computerkasse zu bedienen hatte. Nach mehreren Arbeitsunfähigkeitszeiten wurde ihr arbeitgeberseitig gekündigt (Juli 1998) und sie bezog Kranken- und Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe wurde nicht gezahlt.

3

In gesundheitlicher Hinsicht leidet die Klägerin seit ca. 20 Jahren an einer Angststörung, depressiven Symptomatik und an Erschöpfungszuständen, wegen denen sie sich u.a. 1986 und 1998/1999 in stationäre Behandlung begab und in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung stand bzw. steht. Daneben bestehen Beschwerden im Nacken und in der Wirbelsäule, ein medikamentös eingestellter Bluthochdruck sowie ein angegebener Ganzkörperschmerz.

4

Im November 2000 stellte die Klägerin den zu diesem Verfahren führenden Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU), und begründete ihn mit bestehenden Depressionen. Die Beklagte zog den Reha-Entlassungsbericht vom 7. Mai 1999 und die Klägerin betreffende medizinische Unterlagen der zuständigen Krankenkasse bei, holte Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. D. (vom 31. März 2001) sowie der Praktischen Ärztin Esche (vom 2. Mai 2001) ein und ließ die Klägerin untersuchen und begutachten von dem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E ... Nach dem Befundbericht der behandelnden Ärztin F. leide die Klägerin u.a. an einer Kontaktstörung, einer Angststörung, einem Überforderungssyndrom, einer instabilen psycho-sozialen Disposition und an rezidivierenden depressiven Episoden. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kommt in seinem Gutachten vom 30. November 1998 zu der Feststellung, dass weder Arbeitsunfähigkeit bestehe noch die Erwerbsfähigkeit gefährdet oder gemindert sei. Der behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. teilte in seinem Arztbrief vom 27. November 1998 mit, dass die Klägerin unter einer niedrigen antidepressiven Medikation symptomfrei sei. Aus der Reha im Frühjahr 1999 wurde sie nach dem Reha-Entlassungsbericht arbeitsfähig und vollschichtig leistungsfähig entlassen. Und nach dem Sachverständigen Dr. E. (Gutachten vom 11. Januar 2001) bestünden zwar psychische Beeinträchtigungen, diese seien aber therapeutisch zugänglich, weshalb die Klägerin in absehbarer Zeit wieder sowohl als Schneiderin als auch als Verkäuferin wie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig berufstätig sein könne. Die Beklagte lehnte den Anspruch der Klägerin mit Bescheid vom 15. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2001 ab.

5

Gegen den laut Aktenvermerk der Beklagten am 25. Juli 2001 als Einschreibebrief zur Post gegebenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 28. August 2001 vor dem Sozialgericht (SG) Stade Klage erhoben und zur Begründung ergänzend vorgetragen, dass sie aufgrund der Angststörung nicht Auto fahren, nicht allein einkaufen und nicht allein unter Menschen gehen könne. Namentlich ihr Ehemann begleite sie stets. Damit sei sie erwerbsunfähig. Zur Glaubhaftmachung hat sie eine Bescheinigung der behandelnden Psychologischen Psychotherapeutin Meuser-Muschard (ohne Datum) vorgelegt. Das SG hat einen Befundbericht von der Praktischen Ärztin F. vom 4. Februar 2002 eingeholt und die Klägerin untersuchen und begutachten lassen von dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H ... Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 6. Juni 2002 im einzelnen ausgeführt, dass nach dem Ergebnis der ihm möglichen Testungen, der Aktenlage und der Anamneseerhebung die Klägerin seit ca. 20 Jahren unter einer chronifizierten Depression im Sinne einer Dysthymia gepaart mit einer Panikstörung leide. Aufgrund der nur leichtgradigen Ausprägung könne die Klägerin weiterhin vollschichtig alle Arbeiten entsprechend ihrer Ausbildung und ihrem Lebensalter verrichten, auch diejenigen einer Schneiderin und Modeverkäuferin. Daneben sei das Beschwerdebild therapeutisch besserungsfähig. Daraufhin hat das SG die Klage mit Urteil vom 12. September 2002 abgewiesen und zur Begründung im einzelnen ausgeführt, dass die Klägerin den Beruf der Schneiderin weiterhin vollschichtig ausüben könne, was sich aus den eingeholten Gutachten sowie aus den anamnestischen Angaben der Klägerin über ihre Belastbarkeit im privaten Bereich ergebe. Ob die Klägerin daneben auch die Tätigkeit einer Modeverkäuferin mit der dabei notwendigen Bedienung einer Computerkasse ausüben könne, könne offen bleiben.

6

Gegen dieses ihr am 30. September 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 16. Oktober 2002 eingelegte Berufung, mit der die Klägerin ergänzend vorträgt, dass sich ihre Erwerbsunfähigkeit nicht allein aus den psychischen Beeinträchtigungen, sondern auch aus einem Ganzkörperschmerz-Syndrom ergebe.

7

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 12. September 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab dem 1. Dezember 2000 zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil des SG.

10

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch den Berichterstatter mittels Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat konnte gem. §§ 155 Abse. 4, 3, 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter mittels Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt haben.

13

Die gem. §§ 143f. SGG statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.

14

Weder das Urteil des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, und zwar weder auf Rente wegen EU/BU nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden (§§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.).

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Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, richtig angewendet, sachdienliche Ermittlungen angestellt, die erhobenen Beweise überzeugend gewürdigt und ist nach alledem zu dem richtigen Ergebnis gekommen, dass der Klägerin keine Rente wegen EU/BU zusteht. Im Berufungsverfahren hat sich nichts Abweichendes ergeben.

16

Die Beweiswürdigung des SG in seinem Urteil ist für den Senat überzeugend, da sie in widerspruchsfreiem Zusammenhang mit der gesamten Aktenlage steht, auch mit den anamnestischen Angaben der Klägerin. Danach verkennt der Senat zwar nicht, dass die Klägerin langjährig unter einer depressiven Symptomatik mit Angststörungen leidet. Nach den übereinstimmenden Feststellungen durch Dr. Herbig, Dr. Traub sowie im Reha-Entlassungsbericht sind die Beschwerden jedoch nur phasenweise erheblich, im Übrigen aber nur leichter Ausprägung und zudem weiter besserungsfähig durch eine Kombinationstherapie mit Medikation, die von der Klägerin jedoch abgelehnt wird. So weisen die beiden Sachverständigen übereinstimmend darauf hin, dass die Beschwerden sich lediglich episodenhaft verstärkt darstellen, namentlich nach psychischen Belastungen der Klägerin im familiären oder beruflichen Bereich (1985: Alkoholentwöhnung des Ehemannes; 1990: Tod des Vaters; 1991: Selbstmord der Tante; 1998: empfundene Unfähigkeit zur Bedienung einer Computerkasse; Sorge um das berufliche Fußfassen des Sohnes). Diese übereinstimmende Einschätzung der Sachverständigen stimmt mit der übrigen Aktenlage überein. Danach waren therapeutische Versorgungen der Klägerin namentlich nach belastenden Familienereignissen nötig, so etwa im Zusammenhang mit dem Konflikt um den seinerzeit noch alkoholkranken Ehemann. Auch hat die Klägerin selbst die beschriebenen Ereignisse als einschneidende Belastungen angegeben. Außerhalb dieser als belastend empfundenen Episoden stellte und stellt sich das Beschwerdebild der Klägerin jedoch als unauffällig dar. Für die psychiatrische Beurteilung maßgebliche erhebliche soziale Einschränkungen und Rückzugstendenzen sind nicht feststellbar, da die Klägerin zahlreichen Hobbies und Freizeitaktivitäten nachgeht (Malen, Keramik, Radfahren, Ausgehen mit Ehemann, Essengehen). Auch die Gestaltung und Belastbarkeit in ihrer privaten Lebenssituation ist nicht wesentlich beeinträchtigt. Die Klägerin versorgt die im gleichen Haus wohnende Mutter sowie das ca. 1000qm große Grundstück mit Haus (ca. 265qm Wohnfläche). Daneben ist eine eigene Ferienwohnung in I. zu betreuen. Die Klägerin ist den Tag über mit Haus- und Gartenarbeiten beschäftigt, die Einkäufe werden gemeinsam mit dem Ehemann getätigt. Allein die Versorgung der Mutter ist nach den anamnestischen Angaben der Klägerin auch der Grund dafür, warum ein Urlaub an entfernten Urlaubsorten nicht möglich ist. Die Klägerin erfüllt daher eigene Pflichtenkreise mit entsprechender Belastbarkeit. Bei alledem bedarf die Klägerin nur leichtgradiger therapeutischer Unterstützung. So hat der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. G. 1998 eine niedrige antidepressive Medikation für ausreichend gehalten, später hat die Klägerin selbst weitere einschlägige Medikationen abgelehnt, weil sie sich nicht den entsprechenden Nebenwirkungen aussetzen wolle.

17

Bei Würdigung dieser gesamten Umstände vermag sich der Senat ebenso wenig wie die Beklagte, die gehörten Sachverständigen und das SG davon zu überzeugen, dass die Beschwerden der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet von erheblicher und erwerbsbeeinträchtigender Ausprägung seien.

18

Dies gilt auch für das von der Klägerin zuletzt angegebene Ganzkörperschmerzsyndrom, das ausschließlich und erstmals in dem Befundbericht der Praktischen Ärztin F. vom Februar 2002 erwähnt wurde und weder in allen anderen vorhergehenden noch in den nachfolgenden medizinischen Feststellungen Bestätigung fand.

19

Schließlich darf aus rechtlichen Gründen nicht unberücksichtigt bleiben, dass sowohl behandelnde Ärzte (so etwa der Arzt für Neurologie/Psychiatrie/Psychotherapie Dr. J. in seinem Arztbrief vom 12. September 1997) als auch die gehörten Sachverständigen mehrfach darauf hingewiesen haben, dass die verbleibenden (und nicht Erwerbsmindernden) depressiven Symptome der Klägerin weiter besserungsfähig seien, sofern die Klägerin adäquat therapeutisch versorgt würde, insbesondere mit antidepressiver Medikation (die die Klägerin jedoch - wie bereits erwähnt - ablehnt). Die therapeutischen Möglichkeiten sind also nicht erschöpft. Beeinträchtigungen im psychischen Befinden können jedoch nur dann zur Rentenberechtigung führen, wenn zuvor alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, mit deren Hilfe die Erwerbsunfähigkeit binnen eines halben Jahres überwunden werden kann (BSGE 21, 189, 192, 193; LSG Niedersachsen, Urteil vom 25. Mai 2000, L 1 RA 154/99 und Urteil vom 25. November 1999, L 1 RA 208/98; GesamtkommentarLilge, § 43 SGB VI, Anm. 10.2. m.w.N.).

20

War die Klägerin daher nicht erwerbs- oder berufsunfähig nach §§ 43,44 SGB VI a.F., so war sie erst recht nicht erwerbsgemindert im Sinne von §§ 43, 240 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung, weil insbesondere eine zeitliche Leistungsbegrenzung nicht feststellbar ist.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

22

Es hat kein gesetzlicher Grund gem. § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.