Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 14.01.2003, Az.: L 6 U 264/02

Anspruch auf Weiterzahlung von Verletztenrente ; Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund einer Funktionseinschränkung des Schultergelenks; Bedeutung ärztlicher Meinungsäußerungen bei der Einschätzung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit; Bedeutung von versicherungsmedizinischem Schrifttum und entsprechender Rechtsprechung bei der Beurteilung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
14.01.2003
Aktenzeichen
L 6 U 264/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20384
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0114.L6U264.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 24.04.2002 - AZ: S 7 U 221/01

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit.

  2. 2.

    Bei der Beurteilung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit sind die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in den zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis heranzuziehen sind.

  3. 3.

    Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. aufgrund einer Schulterverletzung ist zwar bei einer Einschränkung der Schultervorhebung von 0 bis 90 Grad anzunehmen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. April 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt die Weiterzahlung von Verletztenrente über den 31. Dezember 2000 hinaus. Der 1952 geborene Kläger ist als selbstständiger Landwirt bei der Beklagten versichert. Am 28. Oktober 1999 gegen 20.00 Uhr rutschte er beim Absteigen von seinem Schlepper ab und blieb mit dem rechten Arm an einem Türgriff hängen. Er stellte die Arbeit ein und suchte am nächsten Tag den Durchgangsarzt Dr. D. auf. Bei der Untersuchung fand sich eine lokaler Druckschmerz im vorderen Kapselbereich des rechten Schultergelenks. Außen- und Innenrotation waren frei, die Seithebung war bis 70 Grad und die Vorhebung war bis 20 Grad möglich. Die Röntgenuntersuchung ergab keine Hinweise auf knöcherne Verletzungen. Dr. D. diagnostizierte ...Zerrung rechtes Schultergelenk". Am 2. November 1999 führten Dr. E./F. eine Magnetresonanztomografie (MRT) der rechten Schulter durch. Die Untersucher fanden eine diffuse Signalintensitätserhöhung im Verlauf des Musculus supraspinatus und im Ansatzbereich am großen Oberarmhöcker ...im Sinne einer Teilruptur der Supraspinatus-Sehne im Ansatzbereich". Die hintere Schultergelenkkapsel erscheine zum Teil rupturiert und nach dorsal disloziert. Außerdem fänden sich arthrotische Veränderungen des AC-Gelenkes mit Impingement des Musculus subscapularis. Die beschriebenen Veränderungen seien eher frischerer Genese. Eine Vorschädigung könne nicht ausgeschlossen werden.Auf Grund des MRT-Befundes diagnostizierte Dr. G. ...Zerrung rechte Schulter mit Teilruptur der Rotatorenmanschette und Abriss an der hinteren Schultergelenkkapsel". Bei der Untersuchung am 3. November 1999 bestand ein Druckschmerz über der gesamten rechten Schulter. Die Seithebung war aktiv nicht möglich, die Vorhebung gelang aktiv bis 40 Grad, passiv bis 80 Grad, der Arm konnte in Seithebung bis 70 Grad gegen die Schwerkraft gehalten werden.Nach dem Bericht von Dr. H. vom 14. März 2000 zeigten sich neurologisch-klinisch keine Hinweise auf eine Plexusparese, auch in der elektroneurografischen Zusatzuntersuchung ergaben sich keine Zeichen für eine Plexusläsion. Die Beklagte holte das Gutachten von Dr. I./J. vom 10. April 2000 ein. Die Gutachter fanden eine mäßiggradige passive Bewegungseinschränkung und eine erhebliche aktive Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk. Nach ihren Ausführungen ist das Krankheitsbild trotz eines Vorschadens (Schultergelenksarthrose) wesentlich auf den Unfall zurückzuführen: Die Beweglichkeit des Schultergelenkes sei vor dem Unfall nicht eingeschränkt gewesen und das MRT habe keine Hinweise auf akute Verletzungszeichen ergeben. Wahrscheinlich sei es zu einer zusätzlichen Kapselschädigung mit Einblutungen und konsekutiver Kapselfibrose gekommen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzten sie auf 20 vH. Im Rentengutachten vom 2. Oktober 2000 schätzten Dr. I./J. die MdE ab 7. September 2000 (Untersuchungstag) bis 31. Dezember 2000 auf 10 vH. Zur Begründung führten sie aus, die noch bestehende insgesamt leicht rückläufige aktive und passive Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Schultergelenkes sei nicht mehr zu einem wesentlich messbaren Anteil auf den Unfall zurückzuführen.Nach Einholung einer Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. K. erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 2. Januar 2001 als Unfallfolgen an ...Vorübergehende Aktivierung eines Vorschadens im Bereich des rechten Schultergelenkes nach Distorsion der rechten Schulter mit Schulterkapselverletzung". Außerdem bewilligte sie vorläufige Rente vom 10. Juli bis 31. Dezember 2000 in Höhe von 20 v.H. der Vollrente. Eine weitere Rentenzahlung lehnte sie mit der Begründung ab, die noch bestehende Bewegungseinschränkung sei nicht mehr zu einem wesentlichen Anteil messbar auf den Arbeitsunfall zurückzuführen. Wesentliche Ursache sei der degenerative Vorschaden. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte das Gutachten von Dr. L. vom 14. Mai 2001 ein. Nach der Einschätzung des Gutachters hat der Kläger bei dem Unfall eine Zerrung des rechten Schultergelenkes erlitten, die folgenlos ausgeheilt sei. Ein weiterer struktureller Schaden sei nicht nachgewiesen worden. Gegen einen funktionell wirksamen unfallbedingten Rotatorenmanschettenschaden spreche, dass der Kläger am 3. November 1997 den Arm in abgespreizter Position gegen die Schwerkraft habe halten können. Die kräftige Oberarmmuskulatur rechts und insbesondere die kräftigen Verarbeitungsspuren beider Hände belegten, dass der rechte Arm funktionsgerecht eingesetzt werden könne. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde durch den Unfall nicht gemindert. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2001 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg mit Urteil vom 24. April 2002 mit der Begründung abgewiesen, dem Kläger stehe ab 1. Januar 2001 keine Verletztenrente mehr zu, weil seine Erwerbsfähigkeit nicht um mindestens 20 v.H. gemindert sei. Objektive Funktionseinbußen im rechten Schultergelenk seien nicht feststellbar. Denn es fehlten Beweisanzeichen für eine Schonung des rechten Armes.Gegen dieses am 25. April 2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 27. Mai 2002 (Montag) Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

2

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. April 2002 aufzuheben,

  2. 2.

    den Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2001 zu ändern,'

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 31. Dezember 2000 hinaus Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

3

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. April 2002 zurückzuweisen.

4

Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.Die Beteiligten sind mit Verfügung der Berichterstatterin vom 28. Oktober 2002 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

5

II.

Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).Das SG und die Beklagte haben zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Rente ab 1. Januar 2001 verneint. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger bei dem Arbeitsunfall vom 28. Oktober 1999 außer der von der Beklagten anerkannten Distorsion mit Schulterkapselverletzung weitere strukturelle Verletzungen - etwa eine Teilruptur der Rotatorenmanschette - erlitten hat (1.). Denn die insgesamt im Schultergelenk bestehende Funktionseinschränkung führt nicht zu einer MdE von mindestens 20 v.H. (2.).1.

6

Allerdings bestehen Zweifel, ob sich der Kläger am 28. Oktober 1999 einen funktionell wirksamen Rotatorenmanschettenschaden zugezogen hat. Nach den Ausführungen von Dr. L. ist ein traumatisch bedingter Rotatorenmanschettenschaden so schmerzhaft und führt zu einer so wesentlichen funktionellen Beeinträchtigung des Schultergelenkes, dass der Arm wenige Tage nach dem Unfall nicht gegen die Schwerkraft in abgespreizter Position gehalten werden kann. Der Kläger war jedoch am 3. November 1999 bei der Untersuchung durch Dr. G. in der Lage, den Arm in dieser Position zu halten. Außerdem hat Dr. L. darauf hingewiesen, dass unfallbedingte Gesundheitsschäden mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu dem Unfall in ihrer funktionellen Wirksamkeit nachlassen und die vom Kläger dargestellte Funktionsbeeinträchtigung im Widerspruch zu diesem Prinzip steht.2.

7

Selbst wenn man annimmt, dass die objektiven Funktionseinbußen im rechten Schultergelenk auf den Unfall vom 28. Oktober 1999 zurückzuführen sind, ist die MdE nicht mit mindestens 20 v.H. zu bewerten.Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis heranzuziehen sind (BSG SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23). Sie stellen in erster Linie auf das Ausmaß der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigung ab.Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze geht der Senat in Übereinstimmung mit Dr. L. und im Ergebnis mit Dr. M. davon aus, dass die MdE des Klägers nicht mindestens 20 v.H. beträgt. Dem liegen folgende Erwägungen zu Grunde: Bei der Bemessung der MdE bei Schulterverletzungen ist insbesondere von Bedeutung, ob die Hand ...in Stellung" gebracht werden kann. Die Schultervorhebung ist als Hauptkriterium für die Schätzung der MdE zu werten (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998, Seite 561). Eine MdE um 20 v.H. ist zwar anzunehmen bei einer Einschränkung der Schultervorhebung von 0 bis 90 Grad (Schönberger/ Mehrtens/Valentin, a.a.O.). Eine so gravierende Funktionseinschränkung lässt sich im vorliegenden Fall jedenfalls ab 1. Januar 2001 aber nicht (mehr) objektivieren. Zwar hat der Kläger bei den Untersuchungen durch Dr. D. und Dr. L. den rechten Arm aktiv nur bis 80 Grad vorgehoben. Der Senat kann jedoch diese vom Kläger angegebene Funktionsbeeinträchtigung der Schätzung der MdE nicht zugrundelegen. Denn es liegen keine objektiven Anhaltspunkte für eine Minderbelastbarkeit der rechten Schulter und des rechten Armes vor. Dr. M. haben eine beiderseits kräftige Schultergürtelmuskulatur und auch die Muskulatur am rechten Arm als kräftig und gegenüber links nicht verschmächtigt beschrieben (Gutachten Dr. N. und Dr.L.). Dr. L. hat zudem darauf hingewiesen, dass sich an der Greiffläche der rechten Hand kräftige Verarbeitungsspuren finden. Diese Gesichtspunkte sprechen für eine normale Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes und gegen eine MdE in rentenberechtigendem Grad.Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.