Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 30.01.2003, Az.: L 10 LW 16/02

Rentenanspruch wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Ermittlung von atypischen Leistungseinschränkungen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
30.01.2003
Aktenzeichen
L 10 LW 16/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 16044
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0130.L10LW16.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 27.03.2002 - AZ: S 10 LW 10/01

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 27. März 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gemäß § 13 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG).

2

Der 1950 geborene Kläger ist versicherungspflichtiger landwirtschaftlicher Unternehmer. Im November 2000 beantragte er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU). Die Beklagte zog einen Befundbericht des Allgemeinmediziners Dr. I. vom 18. November 2000 bei und holte ein Gutachten des Internisten J. ein, das dieser unter Berücksichtigung eines Zusatzgutachtens des Chirurgen Dr. K. am 16. Januar 2001 erstattete. Während der Allgemeinmediziner Dr. I. den Kläger auf Grund seiner multiplen Arthrosen und Wirbelsäulenleiden für körperlich nicht mehr in der Lage hielt, seinen landwirtschaftlichen Betrieb weiter fortzuführen oder Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu erbringen, kamen die Gutachter J. und Dr. K. zu dem Ergebnis, dass der Kläger noch über ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich mittelschwere Arbeiten verfüge, wenn Klettern, Hocken, Steigen, dauerndes Gehen auf unebenem Gelände und Heben bzw. Tragen von Lasten von über 20 kg vermieden würden. Dabei berücksichtigten die Gutachter als erhobene Diagnosen eine beidseitig fortgeschrittene Coxarthrose und degenerative Veränderungen an Hals- und Brustwirbelsäule sowie am rechten Ellenbogengelenk. Die Beklagte schloss sich dieser Bewertung an und lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 6. Februar 2001 ab, weil der Kläger mit seinem verbliebenen vollschichtigen Leistungsvermögen weder erwerbsunfähig noch voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2001).

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Im Nachfolgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Stade hat der Kläger seinen Rentenanspruch weiterverfolgt. Das SG hat Befundberichte des Chirurgen L. vom 13. Juli 2001 und des Internisten Dr. M. vom 19. Juli 2001 beigezogen. Sodann hat es auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein nach ambulanter Untersuchung erstattetes Gutachten des Orthopäden Dr. N. vom 20. Februar 2002 eingeholt. Der Sachverständige hat degenerative Verschleißerscheinungen an den Hüftgelenken, den Kniegelenken, der Wirbelsäule sowie den Schulter- und Ellengelenken, letztere verbunden mit chronischen Weichteilentzündungen, diagnostiziert, wodurch das linke Hüftgelenk bewegungseingeschränkt sei, im Übrigen jedoch keine funktionellen Einschränkungen vorlägen. Dr. N. hat den Kläger für noch in der Lage gehalten, vollschichtig ausschließlich körperlich leichteste bis leichte Arbeiten im freibestimmten Haltungswechsel zu verrichten, nicht jedoch in oder über Schulterhöhe, nicht in Zwangshaltungen, auf Leitern oder auf Gerüsten, nicht an laufenden Maschinen, nicht mit dem Erfordernis der vollen Gebrauchsfähigkeit beider Hände sowie nur unter Schutz vor Kälte, Nässe, Zugluft und starken Temperaturschwankungen. Der Kläger sei noch in der Lage, vier Mal täglich Fußwege von 600 m in der Zeit von jeweils etwa 20 Minuten zurückzulegen. Das SG hat sodann mit Gerichtsbescheid vom 27. März 2002 die Klage abgewiesen, weil der Kläger mit seinem vollschichtigen Leistungsvermögen weiterhin weder erwerbsunfähig noch erwerbsgemindert sei.

4

Der Kläger hat gegen den ihm am 2. April 2002 zugestellten Gerichtsbescheid am 29. April 2002 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Rentenbegehren weiter und vertritt insoweit die Auffassung, dass ihm angesichts der Vielzahl seiner gesundheitlichen Leistungseinschränkungen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei.

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Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 27. März 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.

6

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 27. März 2002 zurückzuweisen.

7

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

8

Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

10

Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht rechtswidrig. Dem Kläger steht auch nach Auffassung des Senats kein Anspruch auf Rente wegen EU gemäß § 13 ALG in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (a.F.) oder wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 13 ALG in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung (n.F.) zu.

11

Der mit der Berufung angegriffene Gerichtsbescheid ist verfahrensfehlerhaft ergangen, denn die gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG gesetzlich vorgeschriebene Anhörung der Beteiligten ist nicht ordnungsgemäß erfolgt. Das SG hat die Beklagte zu dem beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheides überhaupt nicht angehört und den Kläger nicht in der gebotenen Weise. So ist die Mitteilung des Kammervorsitzenden, dass ein Gerichtsbescheid beabsichtigt sei, ausweislich des Erledigungsvermerks am 20. März 2002 an die Prozessbevollmächtigten des Klägers abgesandt worden. Sodann ist bereits am 27. März 2002 der Gerichtsbescheid ergangen. Das SG hat den Beteiligten weder eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Verfahrensweise eingeräumt, noch eine solche Zeitspanne abgewartet. Fehlerhaft ist außerdem, dass sich das SG keine Gewissheit vom Zugang der Mitteilung bei den Beteiligten verschafft hat. Der Senat macht gleichwohl von der Möglichkeit einer Aufhebung des Gerichtsbescheides und Rückverweisung der Sache an das SG gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG keinen Gebrauch, weil er den Rechtsstreit in der Sache ohne Weiteres für entscheidungsreif hält.

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Der Kläger ist mit seinem von allen gehörten Gutachtern bzw. Sachverständigen übereinstimmend festgestellten vollschichtigen Leistungsvermögen weder erwerbsunfähig im Sinne von § 13 ALG a.F. noch teilweise bzw. voll erwerbsgemindert im Sinne von § 13 ALG n.F. Ein Anspruch auf Rente wegen verminderterer Erwerbsfähigkeit nach den genannten gesetzlichen Bestimmungen scheidet deshalb aus, ohne dass es darauf ankommt, dass die weitere tatbestandsmäßige Voraussetzung der Abgabe des landwirtschaftlichen Unternehmens (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 ALG a.F. bzw. § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Satz 2 ALG n.F.) nicht erfüllt ist.

13

So genannte atypische Leistungseinschränkungen, wie z.B. Einarmigkeit oder Einäugigkeit, oder eine Summierung erheblicher Leistungsbeeinträchtigungen, die trotz Vorliegens einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit einer Verweisung des Versicherten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt entgegenstehen könnten, sind im vorliegenden Fall nicht zu erkennen. Dem Kläger sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vielmehr allgemein körperlich leichte Arbeiten möglich. Das ergibt sich bereits aus den Gutachten der im Verwaltungsverfahren gehörten Ärzte J. und Dr. K., die sogar ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich mittelschwere Arbeiten bejaht haben. Aus den im Verwaltungsverfahren und im ersten Rechtszug beigezogenen ärztlichen Befundberichten sind keine Diagnosen ersichtlich, die von den Gutachtern J. und Dr. K. nicht berücksichtigt worden wären.

14

Die von dem Sachverständigen Dr. N. erhobenen Diagnosen rechtfertigen die in seinem Gutachten mitgeteilten Leistungsbeeinträchtigungen nur zum Teil. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Dr. N. allein im Hinblick auf die fortgeschrittene Arthrose des linken Hüftgelenks eine Bewegungseinschränkung festgestellt hat, im Übrigen jedoch, d. h. im Bereich des rechten Hüftgelenks, der Kniegelenke, der Wirbelsäule sowie der Schulter- und Ellengelenke keine wesentlichen Funktionsbeeinträchtigungen hat finden können. Im Hinblick auf die Verschleißerkrankung insbesondere des linken Hüftgelenks und die von Dr. N. als glaubhaft erachteten Schmerzzustände an Hüften, Knien, Wirbelsäule, Schultern und Ellenbogen erscheint es nachvollziehbar, dass körperlich schwere und wohl auch körperlich mittelschwere Arbeiten ausscheiden. Körperlich leichte Arbeiten bleiben jedoch möglich. Eine Beschränkung auf ledig körperlich leichteste Arbeiten - laut Dr. Brocks kein Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten von mehr als sieben kg Gewicht - ist für den Senat nicht erkennbar. So weit der Sachverständige eine Beschränkung auf Arbeiten annimmt, die nicht die volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände erfordern, vermag der Senat dem gleichfalls nicht zu folgen. Dr. N. hat die Bewegungsumfänge beider Ellen- und Handgelenke als frei erachtet und hat auch eine freie Beweglichkeit aller Gelenke beider Hände bejaht. Dass die diagnostizierten entzündlich-degenerativen Veränderungen an den Schulter- und Ellengelenken die Gebrauchsfähigkeit der Hände einschränken, ist nicht nachzuvollziehen. Die von Dr. N. vorgefundene derbe Verschwielung beider Hände mit teilweise frischen Einrissen der stark verhornten Beugeseiten spricht vielmehr dafür, dass der Kläger seine Hände tatsächlich zur Arbeit einsetzt. Die Beschränkung auf Arbeiten in selbstgewähltem Haltungswechsel und der Ausschluss von Arbeiten in und über Schulterhöhe, auf Leitern oder Gerüsten, an laufenden Maschinen und ohne Schutz vor Witterungseinflüssen folgen aus den von Dr. N. mitgeteilten Diagnosen, bedeuten jedoch weder eine atypische Leistungseinschränkung, noch begründen sie eine Summierung erheblicher Leistungsbeeinträchtigungen, die über die Beschränkung auf körperlich leichte Arbeiten hinaus die Verwertbarkeit des Restleistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wesentlich zusätzlich beeinträchtigen (vgl. Beschluss des großen Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -, abgedruckt in: BSGE 80, 24, 33 f). Eine rentenrechtlich relevante Einschränkung der Wegefähigkeit des Klägers hat auch Dr. N. ausdrücklich ausgeschlossen.

15

Zu weiteren Ermittlungen auf medizinischem Gebiet hat sich der Senat nicht veranlasst gesehen. Die Mitteilung des Klägers aus dem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 22. Januar 2003, dass starke Rückenschmerzen eine erneute ärztliche Behandlung erfordert hätten, lässt nicht erkennen, dass hier bereits vom Vorliegen andauernder und therapieresistenter Funktionseinschränkungen ausgegangen werden kann. Einen diesbezüglichen Behandlungsbericht hat der Kläger nicht vorgelegt. Dem in demselben Schriftsatz angekündigten - hilfsweisen - Beweisantrag gemäß § 109 SGG brauchte der Senat bereits deshalb nicht nachzugehen, weil der Kläger ihn in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt hat.

16

Mit seinem verbliebenen Leistungsvermögen für jedenfalls körperlich leichte Arbeiten muss sich der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen. Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf es im vorliegenden Fall bereits deshalb nicht, weil für den Kläger nach dem festgestellten Leistungsbild ersichtlich das weite Feld einfacher Bürotätigkeiten und leichter Sortier- bzw. Montiertätigkeiten in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 20. August 1997 - 13 RI 39/96 -, abgedruckt in: SozR 3-2600, § 43 Nr. 17, und Urteil vom 24. Februar 1999 - B 5 RI 30/98 R -, abgedruckt in: SozR 3-2600 § 44 Nr. 12). Die Einholung berufskundlicher Auskünfte war deshalb nicht erforderlich. Ob der Kläger tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt einen entsprechenden Arbeitsplatz findet, fällt nicht in das bei der landwirtschaftlichen Alterssicherung versicherte Risiko.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

18

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.