Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 27.01.2003, Az.: L 16/12 U 1/02
Gewährung einer Verletztenrente bei Berufskrankheit; mindestens zehnjährige wirbelsäulenbelastende Tätigkeit als Voraussetzung für die Berufskrankheit Nr. 2108 Bundeskrankheitenverordnung (BKV); Ermittlung der Belastung am Arbeitsplatz nach dem Mainz-Dortmunder Dosismodells (MDD)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.01.2003
- Aktenzeichen
- L 16/12 U 1/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 25020
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0127.L16.12U1.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 11.10.2001 - AZ: S 18 U 52/01
Rechtsgrundlage
- § 26 Abs. 1 SGB VII
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 11. Oktober 2001 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Streitig ist die Gewährung einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können -.
Der am 18. Dezember 1954 geborene Kläger beantragte am 20. September 2000 bei der Beklagten u.a. die Anerkennung eines Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit. Er übersandte der Beklagten Unterlagen über von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hannover und der LVA Oldenburg-Bremen durchgeführte Verwaltungsverfahren wegen der Zahlung einer Versichertenrente wegen Berufs-/Erwerbsunfähigkeit. Daraus ergibt sich u.a., dass er seit 1993 an Rückenschmerzen leidet und Ende 1996 ein Bandscheibenvorfall L5/S1 auftrat, der während eines stationären Aufenthalts vom 3. - 16. Januar 1997 in der F. konservativ behandelt wurde.
In einer Beschäftigungsaufstellung vom 7. November 2000 gab der Kläger u.a. an, er sei 1978 nach Deutschland eingereist und habe bis 1988 in verschiedenen Restaurantbetrieben gearbeitet. Ab Mai 1988 sei er 2 1/2 Jahre zum Tischler im G. umgeschult worden und habe danach in diesem Beruf gearbeitet, zuletzt bis 1997 bei der H ... Bei dieser ab 1991 ausgeübten Tätigkeit sei er einer Wirbelsäulenbelastung durch Tragen von Platten und Fenstern ausgesetzt gewesen; auch während der Umschulung habe er schon schwere Lasten gehoben und getragen.
Die Beklagte holte eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes, des Facharztes für Chirurgie/Unfallchirurgie und Urologie Dr. med. I., vom 5. Dezember 2000 zu den vorliegenden medizinischen Unterlagen und Röntgenaufnahmen ein. Er führte aus, es ergäben sich keine das altersübliche Maß überschreitenden Veränderungen der Lendenwirbelsäule, insbesondere keine Höhenminderung und keine Verdickungen der Deck- und Trageplatten. Es sei nicht wahrscheinlich, dass eine Berufskrankheit vorliege.
Mit Bescheid vom 19. Dezember 2000 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach den Nrn. 2108 und 2109 - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können - der Anlage zur BKV ab. Sie stützte sich auf die Stellungnahme ihres Beratungsarztes und führte ferner aus, auch die weitere versicherungsrechtliche Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit, nämlich die Entstehung der Erkrankung durch lang-jähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch eine langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, liege nicht vor, denn gefordert sei eine mindestens zehnjährige wirbelsäulenbelastende Tätigkeit. Nach seinen eigenen Angaben habe er von 1990 bis 1997 den Beruf des Tischlers ausgeübt und zuvor eine dreijährige Lehre abgeschlossen. Ferner habe er bereits seit 1992 unter Rückenschmerzen gelitten, die im Herbst 1996 sich derart verstärkt hätten, dass ärztliche Maßnahmen eingeleitet worden seien. Damals sei bereits ein Bandscheibenvorfall festgestellt worden. Zu dieser Zeit sei er noch nicht 10 Jahre in seinem Beruf tätig gewesen, so dass die Voraussetzung der Langjährigkeit nicht gegeben sei.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Er machte geltend, er habe von 1988 bis 1997 als Tischler gearbeitet und erst 1993 wegen Rückenschmerzen einen Orthopäden aufgesucht. Im Dezember 1996 sei seine Wirbelsäule verschlissen gewesen, so dass er 1997 den Tischlerberuf habe aufgeben müssen. Von August 1998 bis Mai 1999 habe er an einer Umschulungsmaßnahme zum Bürokaufmann teilgenommen, die er jedoch wegen seiner Wirbelsäulenerkrankung habe abbrechen müssen.
Die Beklagte holte von ihrer Abteilung Prävention, Dienststelle Köln, eine Stellungnahme zu der Exposition des Klägers unter Zugrundelegung des Mainz-Dortmunder Dosismodells (MDD) vom 16. Februar 2001 ein. Diese berücksichtigte die Tätigkeiten des Klägers von Juli 1990 bis September 1990 und von Oktober 1990 bis Juni 1997 als Möbeltischler und kam zu dem Ergebnis, dass der Beurteilungsrichtwert der Tagesbelastungsdosis unterschritten worden sei und eine Gefährdung im Sinne der Berufskrankheiten Nr. 2108 und 2109 der Anlage zur BKV nicht vorgelegen habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2001 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie führte aus, durch ihre Abteilung für Prävention habe sie ermittelt, welchen Belastungen der Kläger am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen sei. Zur Beurteilung der beruflichen Belastung diene ein Verfahren nach dem MDD, mit dem unterschiedliche Belastungen für verschiedene Tätigkeitsabschnitte unter Berücksichtigung von Belastungshöhe und - dauer zu einer Gesamtbelastungsdosis der Lendenwirbelsäule zusammengefasst würden. Durch den Vergleich dieses Dosisrichtwerts mit einem aus epidemiologischen Studien und praktischen Erfahrungen begründeten Dosisrichtwert könne eine Entscheidung dahingehend getroffen werden, ob eine berufliche Belastung vorgelegen habe, bei der mit einer gesundheitlichen Gefährdung der Lendenwirbelsäule zu rechnen sei oder nicht. Überschreite die sogenannte Belastungsdosis diesen Grenzwert, so sei davon auszugehen, dass während einer langjährigen Tätigkeit schwere Lasten in einem Maße gehoben und getragen worden seien, die geeignet seien, bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule zu verursachen. Das Ergebnis der Befragung habe gezeigt, dass der Beurteilungsrichtwert der Tagesbelastungsdosis unterschritten worden sei und somit eine Gefährdung nicht vorgelegen habe. Unabhängig von dem Nichterreichen des Dosiswertes sei auch die Voraussetzung der Langjährigkeit nicht erfüllt, da der Kläger seine Tätigkeit als Tischler nicht länger als 10 Jahre ausgeübt habe. Gegen das Vorliegen einer berufsbedingten Wirbelsäulenerkrankung spreche ferner, dass er bereits 1993 unter Rückenbeschwerden gelitten habe und dass auch das medizinische Bild einer Berufskrankheit nicht vorliege, da keine das altersübliche Maß überschreitenden Veränderungen an der Lendenwirbelsäule festzustellen zu seien.
Der Kläger hat am 11. April 2001 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben und Berichte über Computertomographien der Lendenwirbelsäule vom 17. Dezember 1996 und der Halswirbelsäule vom 19. Juli 2001 (Röntgengemeinschaftspraxis J./ Dr. K./Dr. L./Dr. M./Dr. N./Dr. O. bzw. Dr. L./ Dr.M./Dr. N./Dr. O.) sowie Berichte und Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Lande Bremen (MDK Bremen) zur Akte gereicht. Er hat seine Auffassung wiederholt, dass sein Wirbelsäulenleiden eine Berufskrankheit darstelle.
Die Beklagte hat wiederum darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung der langjährig ausgeübten wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit nicht vorliege, und ferner ausgeführt, der Kläger mache allgemeine Verschleißerkrankungen geltend.
Das SG hat einen Befundbericht des Orthopäden Dr. med. P. vom 17. Juli 2001 eingeholt, der die Diagnosen mitgeteilt hat: Chronisch rezidivierendes Lumbal- und Zervikalsyndrom mit erheblicher Chronifizierungstendenz.
Mit Urteil vom 11. Oktober 2001 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, nach der Berechnung der Abteilung Prävention der Beklagten sei der Kläger nicht wirbelsäulenbelastend tätig gewesen; es ergebe sich ferner ein deutlich unter der Mindestdauer von 10 Jahren liegender Zeitraum belastender Tätigkeit. Ferner sei auch aus medizinischer Sicht die Annahme einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV nicht gegeben.
Der Kläger hat am 3. Januar 2002 beim Landessozialgericht (LSG) Bremen Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Er hat einen Befundbericht des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. Q. vom 5. März 2002 und einen Bericht des Instituts R. Dr. med. S. u.a. vom 18. Dezember 2001 (über eine Computertomographie der Lendenwirbelsäule - mediolateral rechts gelegener Bandscheibenvorfall L5/S1 mit Kontakt zur Nervenwurzel S1 rechts) zur Akte gereicht. Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen und weist darauf hin, er habe etwa 9 1/2 Jahre im Bereich des Tischlerhandwerks gearbeitet, auch als Auszubildender habe er - gemessen an seinem fortgeschrittenen Alter - erhebliche Hebe- und Tragevorgänge ausgeführt. Insbesondere im Rahmen seiner Tätigkeit als Tischlergeselle habe er Arbeiten im Fenster-, Türen- und Möbelbau verrichtet; er habe große Möbelstücke getragen, montiert oder zugearbeitet. Hierdurch seien häufig die entsprechenden Richtwerte überschritten worden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 11. Oktober 2001 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2000 zu verurteilen, ein Lendenwirbelsäulen-Leiden ab Antragstellung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV anzuerkennen und Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält ihren Bescheid und das Urteil des SG für zutreffend.
Das Gericht hat mit Beschluss vom 28. Oktober 2002 den Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt T. beizuordnen, mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung zurückgewiesen. Insoweit wird auf den Beschluss (Bl. 62 - 67 Prozessakte) Bezug genommen. - Das Gericht hat ferner mit Schreiben vom 6. Dezember 2002 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass in Erwägung gezogen werde, über die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden und sie zurückzuweisen. Die Beteiligten sind mit einer solchen Verfahrensweise einverstanden.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten (Az. 4 00 08206 5 S) beigezogen. Diese Akte und die Prozessakte - L 16/12 U 1/02 (S 18 U 52/01) - haben vorgelegen.
II.
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG). Sie ist nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV.
Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 26 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung -, SGB VII) sind dann zu gewähren, wenn ein Versicherungsfall eingetreten ist. Nach § 7 Abs. 1 SGB VII sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Bundesregierung ist ermächtigt worden, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule unter den bereits genanten Voraussetzungen eine Berufskrankheit. Eine solche liegt jedoch bei dem Kläger nicht vor.
Die Annahme einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV scheitert bereits daran, dass der Kläger nicht langjährig schwere Lasten gehoben oder getragen oder langjährig Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verrichtet hat. Auf diese fehlende Voraussetzung der haftungsbegründenden Kausalität haben die Beklagte und das SG zu Recht hingewiesen. Der Begriff "langjährig" bedeutet, dass 10 Berufsjahre als die untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (vgl. Merkblatt zu Nr. 2108 der Anlage 1 der BKVO, abgedruckt bei Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Bd. 5, Anhang S. 78/1 ff.). Im vorliegenden Fall arbeitete der Kläger seit 1990 als Tischlergeselle, nachdem er ab Mai 1988 eine 2 1/2-jährige Umschulung zum Tischler im G. erfolgreich durchlaufen hatte. Bereits 1993 traten bei ihm nach den von ihm übersandten Unterlagen Rückenschmerzen auf, und Ende 1996 erlitt er einen Bandscheibenvorfall L5/S1. Diese Zeitspanne ist deutlich zu kurz, als dass sie als eine langjährige wirbelsäulenbelastende Tätigkeit qualifiziert werden könnte. Die Präventionsabteilung der Beklagten hat zu Recht lediglich die Zeit ab 1990 in ihre Berechnung nach dem MDD einbezogen, als der Kläger als Tischlergeselle tätig war, denn während der davor liegenden Zeit der Umschulung ab Mai 1988 lag von vornherein keine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit vor. Umschulungsmaßnahmen werden nicht so ausgestaltet, dass sie auf Kosten der Gesundheit der Teilnehmer durchgeführt werden. Dies folgt bereits daraus, dass während einer solchen Maßnahme anteilig theoretisches Wissen vermittelt wird, was nicht mit körperlicher Belastung verbunden ist. Wenn auch der Zeitraum von 10 Jahren kaum als absolute Mindestgrenze für die Dauer einer wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit angesehen werden kann, so wird doch im vorliegenden Fall diese Grenze deutlich unterschritten.
Da hiernach der Sachverhalt aufgeklärt ist und weitere Ermittlungen nicht erforderlich sind, ist die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat durch einstimmigen Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entschieden, da die Durchführung einer nochmaligen mündlichen Verhandlung nicht erforderlich erscheint.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und der Senat weicht nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab.