Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 16.01.2003, Az.: L 6 U 54/02
Wiederaufnahme eines sozialgerichtlichen Verfahrens; Rücknahme eines die Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit ablehnenden Bescheides; Anspruch auf Entschädigungsleistungen; Berufung auf Bindungswirkung eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts; Bedeutung konkurrierender Erkrankungen bei Entstehung der Gesundheitsstörung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 16.01.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 54/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21571
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0116.L6U54.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 09.01.2002 - AZ: S 2 U 67/99 WA
Rechtsgrundlagen
- § 153 Abs. 2 SGG
- § 44 SGB X
Redaktioneller Leitsatz
Trägt der Antragsteller im Rahmen eines Antrages auf Neufeststellung keine neuen Argumente für die Unrichtigkeit eines Bescheides vor, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts berufen.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung eines Befundberichtes, wenn dieser zwar die Frage nach dem Vorliegen einer Berufskrankheit bejaht, aber keine Begründung für diese Ansicht enthält und sich nicht damit auseinander setzt, welche Bedeutung den konkurrierenden Erkrankungen bei der Entstehung der Gesundheitsstörung zukommt.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 9. Januar 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Wiederaufnahme eines sozialgerichtlichen Verfahrens, die Rücknahme eines die Anerkennung von Gesundheitsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) als Berufskrankheit (BK) Nr. 2108/2110 ablehnenden Bescheides der Beklagten und Entschädigungsleistungen.
Der 1949 geborene Kläger war von 1963 bis 1992 als Landwirt tätig. Erste Beschwerden im Bereich der unteren Rumpfwirbelsäule traten im Alter von etwa 14 Jahren auf. 1992 gab der Kläger die Arbeit auf, seitdem bezog er Berufsunfähigkeitsrente.
Am 5. November 1993 beantragte der Kläger die Anerkennung einer BK. Er reichte medizinische Unterlagen ein, u.a. das für das Sozialgericht (SG) Lüneburg (S 10 LW 9/92) erstattete Gutachten von Dr. C. vom 1. Juli 1993, der u.a. Verschleißerscheinungen im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) und LWS sowie ein Wirbelgleiten bei L5 feststellte. Die Beklagte holte die Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 3. Dezember 1994 ein; nach der Beurteilung des Technischen Aufsichtsbeamten D. sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt. Außerdem holte die Beklagte das Gutachten von Prof. Dr. E. vom 24. April 1995 ein. Die Gutachter verneinten eine BK 2108/2110 mit der Begründung, die Wirbelsäulenbeschwerden seien bereits im Alter von 14 Jahren aufgetreten, alle Bereiche der Rumpfwirbelsäule seien erheblich degenerativ verändert, und außerdem lägen im Bereich der LWS konkurrierende Ursachen für die Beschwerden vor (Skoliose, Wirbelgleiten L5/S1, Teillumbalisation des 1. Kreuzbeinwirbels).
Mit Bescheid vom 23. August 1995 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK ab. Im Widerspruchsverfahren holte sie die Stellungnahme von Dr. F. vom 21. Dezember 1995 ein. Der Gutachter verneinte einen Zusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und der Tätigkeit. Gegen einen nennenswerten beruflichen Einfluss spreche die frühe Erstmanifestation der Erkrankung im Alter von 14 Jahren, die diffuse deutliche Degeneration vorwiegend in einem statisch wenig belasteten Abschnitt (mittlere und untere BWS), das Vorliegen von prädiskotischen Erkrankungen, die regelmäßig zu einer vorzeitigen Bandscheibendegeneration führten (Wirbelgleiten L4/5, Scheuermann'sche Erkrankung der BWS und der oberen LWS, deutliche Fehlstatik in Form einer Skoliose und einer Dorsolumbalkyphose) und die degenerative Umformung der Hüftgelenke mit daraus folgender chronischer Fehlhaltung des Beckengürtels, die sich negativ auf die Entwicklung der unteren Bandscheiben auswirke. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 1996 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG Lüneburg (S 2 U 26/96) hat das SG u.a. den Befundbericht von Dr. G. vom 10. Januar 1997 eingeholt. Die Beklagte hat dazu die Stellungnahme von Dr. F. vom 6. Februar 1997 vorgelegt. Am 29. September 1997 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers (nach Rücksprache mit dem am 17. März 1997 eingesetzten Betreuer des Klägers) die Klage zurückgenommen.
Am 26. Oktober 1998 wurde die Betreuung des Klägers aufgehoben. Am 20. April 1999 beantragte er bei der Beklagten Rente und am 3. Mai 1999 beim SG die Wiederaufnahme des Klageverfahrens, weil er mit der Klagerücknahme nicht einverstanden sei. Mit Bescheid vom 21. April 1999 lehnte die Beklagte es ab, ihren Bescheid vom 23. August 1995 gemäß § 44 Sozialgesetzbuch (SGB) X zurückzunehmen (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 22. September 1999).
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Januar 2002 hat das SG festgestellt, dass der Rechtsstreit S 2 U 26/96 durch die Klagerücknahme vom 29. September 1997 beendet wurde. Außerdem hat es die Klage gegen den Bescheid vom 21. April 1999 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Verfahren S 2 U 26/96 sei durch Klagerücknahme wirksam beendet worden, denn der Kläger müsse sich diese Willenserklärung seines Prozessbevollmächtigten, die durch die Vollmacht gedeckt gewesen sei, zurechnen lassen. Die Prozessvollmacht sei auch wirksam gewesen, weil sie vom Kläger zu einem Zeitpunkt erteilt worden sei, an dem ein Betreuer noch nicht bestellt gewesen sei. Eine Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens komme nicht in Betracht, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Eine Nichtigkeitsklage scheitere daran, dass der Kläger ordnungsgemäß vertreten gewesen sei. Zum Zeitpunkt der Klagerücknahme habe auch keine Urkunde (etwa ein Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz - SGG) existiert, die eine günstigere Entscheidung hätte rechtfertigen können. Die Beklagte habe auch zu Recht den Erlass eines Zugunstenbescheides gemäß § 44 SGB X abgelehnt. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK 2108 und/oder 2110, weil die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Eine Anerkennung komme grundsätzlich nicht in Betracht, wenn anlagebedingte statische Auffälligkeiten (z.B. asymmetrische lumbosakrale Übergangsstörungen mit skoliotischen Verbiegungen oder eine Spondylolisthesis = Wirbelgleiten) vorlägen, die regelhaft nachteilige Auswirkungen auf die Bewegungssegmente und Bandscheiben hätten, während dies bei beruflichen Belastungen nicht regelhaft zu erwarten sei. Beim Kläger lägen nach den Feststellungen von Prof. Dr. E. gleich drei anlagebedingte konkurrierende Ursachen für das Entstehen einer bandscheibenbedingten Erkrankung vor, und zwar eine ausgeprägte skoliotische Seitverbiegung der unteren Rumpfwirbelsäule, ein ausgeprägtes Wirbelgleiten im Segment L5/S1 und eine Teillumbalisierung des 1. Kreuzbeinwirbels. Auch Dr. F. habe deshalb die berufliche Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung nicht als wahrscheinlich angesehen.
Der Befund von Dr. G. vom 10. Januar 1997 könne nicht zu einer anderen Beurteilung führen, weil dieser bei seiner Beurteilung entgegen den Vorgaben der Berufskrankheitenverordnung (BKV) sämtliche Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates mit einbezogen habe. Dagegen habe Dr. F. überzeugend eingewandt, dass gerade die generalisierte Form einer solchen Erkrankung ein weiterer Hinweis auf eine spezielle und individuelle Krankheitsdisposition sei. Dr. G. habe sich außerdem nicht mit den konkurrierenden Krankheitsursachen auseinander gesetzt.
Gegen diesen am 16. Januar 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12. Februar 2002 Berufung eingelegt. Er trägt vor, der Bericht von Dr. G. vom 10. Januar 1997 enthalte medizinisch fundierte Hinweise darauf, dass die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen. Das SG habe deshalb ein medizinisches Sachverständigengutachten einholen müssen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 9. Januar 2002 aufzuheben,
- 2.
festzustellen, dass der beim Sozialgericht Lüneburg anhängige Rechtsstreit S 2 U 26/96 nicht durch Klagerücknahme vom 29. September 1997 beendet wurde, hilfsweise, das Verfahren wieder aufzunehmen,
- 3.
den Bescheid der Beklagten vom 21. April 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 1999 aufzuheben,
- 4.
festzustellen, dass die LWS-Beschwerden des Klägers Folgen einer Berufskrankheit Nr. 2108 und/oder 2110 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung sind,
- 5.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Rücknahme des Bescheides vom 23. August 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 1996 Entschädigungsleistungen, insbesondere eine Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 9. Januar 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält den Gerichtsbescheid des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig, sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass der Rechtsstreit S 2 U 26/96 am 29. September 1997 durch Klagerücknahme beendet wurde und dass eine Wiederaufnahme dieses Verfahrens nicht in Betracht kommt. Außerdem hat das SG zu Recht erkannt, dass der Kläger keinen Anspruch auf einen Zugunstenbescheid hat. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, denn beim Kläger lässt sich eine BK Nr. 2108 und/oder 2110 nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit feststellen. Zur Begründung nimmt der Senat Bezug auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Gerichtsbescheid des SG (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend merkt der Senat an, dass sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts berufen darf, wenn sich - wie im vorliegenden Fall - im Rahmen eines Antrags auf Neufeststellung gemäß § 44 SGB X nichts ergibt, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte (BSGE 63, 33). Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn der Kläger hat keine neuen Argumente für die Unrichtigkeit des Bescheides vom 23. August 1995 vorgetragen, solche Gründe sind auch sonst nicht ersichtlich. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Befundberichtes von Dr. G. vom 10. Januar 1997. Dieser hat zwar die Frage nach dem Vorliegen einer BK bejaht, der Befundbericht enthält aber keine Begründung für diese Ansicht. Insbesondere hat sich der Arzt nicht damit auseinander gesetzt, welche Bedeutung den - auch von ihm mitgeteilten - konkurrierenden Erkrankungen bei der Entstehung der Gesundheitsstörung des Klägers zukommt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.