Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 09.09.2010, Az.: 5 Sa 633/10

Besitzstandszulage nach Übergangsrecht bei Sonderurlaub zum maßgeblichen Zeitpunkt; Sonderurlaub als unschädliche Tätigkeitsunterbrechung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
09.09.2010
Aktenzeichen
5 Sa 633/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 26718
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2010:0909.5SA633.10.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BAG - 24.05.2012 - AZ: 6 AZR 586/10

Redaktioneller Leitsatz

1. Dem Wortlaut des § 9 Abs. 4 Satz 1 TVÜ-L und der Nr. 1 der Protokollerklärung zufolge fällt Sonderurlaub unter den Begriff des "Urlaubs" im Sinne der tarifvertraglichen Bestimmung.

2. Bereits nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist der Sonderurlaub ein Unterfall des Urlaubs; erst recht ist der tarifvertraglich geregelte Sonderurlaub im Sinne des Wortlautes und der Systematik des Tarifvertrages (TV-L) ein Unterfall des Urlaubes.

3. Da im TV-L die einzelnen Urlaubsarten abschließend unter der Überschrift Urlaub und Arbeitsbefreiung im Abschnitt IV geregelt sind, lässt dies zwingend und eindeutig erkennen, dass der in § 28 TV-L geregelte Sonderurlaub als Unterfall des Urlaubes ein unschädlicher Unterbrechenstatbestand ist; diese Regelung ist zwingend, eindeutig und elementar.

In dem Rechtsstreit

Klägerin und Berufungsbeklagte,

gegen

Beklagter und Berufungskläger,

hat die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 9. September 2010 durch

den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Kubicki,

den ehrenamtlichen Richter Herrn Straden,

den ehrenamtlichen Richter Herrn Mann

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Landes Niedersachsen gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 10.03.2010 - 8 Ca 434/09 Ö - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Frage, ob der Anspruch der Klägerin auf eine Besitzstandszulage gemäß § 9 TVÜ-L durch den von ihr im Jahr 2007 in Anspruch genommenen Sonderurlaub untergegangen ist oder ob hilfsweise ein Schadensersatzanspruch wegen einer fehlerhaften Auskunft über die rechtlichen Folgen dieses Sonderurlaubes besteht.

2

Wegen der genauen Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bl. 2 - 4 desselben, Bl. 66 - 68 der Gerichtsakte, verwiesen.

3

Mit Urteil vom 10.03.2010 hat das Arbeitsgericht Hannover der Klage stattgegeben. Wegen der Einzelheiten der Tenorierung wird auf den Urteilstenor (Bl. 65 der Gerichtsakte), soweit es die rechtliche Würdigung anbelangt, wird auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils (Bl. 4 - 8 desselben, Bl. 68 - 72 der Gerichtsakte) verwiesen.

4

Dieses Urteil ist dem beklagten Land am 01.04.2010 zugestellt worden. Mit einem am 22.04.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz hat es Berufung eingelegt und diese mit einem am 24.06.2010 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem zuvor das Landesarbeitsgericht mit Beschluss vom 21.05.2010 die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß bis zum 01.07.2010 verlängert hatte.

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Mit seiner Berufung verfolgt das beklagte Land vollständig das erstinstanzliche Ziel der Klageabweisung weiter. Es wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Es vertritt die Auffassung, bereits nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 4 S. 1 TVÜ-L und der Nr. 1 der Protokollerklärung falle Sonderurlaub nicht unter den Begriff "Urlaub". ImÜbrigen seien nur diejenigen Tätigkeitsunterbrechungen unschädlich, die auf einer gesetzlichen Grundlage basierten. Dies gelte für die anderen in der Protokollerklärung erwähnten Tatbestände Mutterschutz, Elternzeit und Krankheit. Soweit es den Urlaub anbelangt, habe er im Bundesurlaubsgesetz seine gesetzliche Grundlage, wohingegen die Gewährung von unbezahltem Sonderurlaub keine gesetzliche Grundlage habe, sondern auf einer tariflichen "Kannvorschrift" basiere. Dies entspreche auch den Durchführungshinweisen der Tarifgemeinschaft der Länder vom 18.08.2006. Im Übrigen enthalte das Schreiben des beklagten Landes vom 26.01.2007 eine hinreichende Aufklärung über die Folgen des Sonderurlaubs. Auch werde mit Nichtwissen bestritten, dass die Klägerin angesichts des Wegfalls des Anspruchs auf eine Besitzstandszulage den Sonderurlaub nicht genommen oder sich zuvor entsprechend beraten lassen hätte.

6

Das beklagte Land beantragt,

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das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 10.03.2010 - 8 Ca 434/09 Ö - abzuändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

10

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

11

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf ihre Schriftsätze vom 24.06., 28.07. und 31.08.2010 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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A. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64, 66 ArbGG und 519, 520 ZPO).

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B. Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das angefochtene Urteil dem Klagebegehren der Klägerin entsprochen. Das Berufungsgericht macht sich zunächst die zutreffenden erstinstanzlichen Entscheidungsgründe zu eigen, verweist auf diese und stellt dies fest (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

14

Die Berufungsbegründung veranlasst folgende ergänzende Anmerkungen:

15

1. Uneingeschränkt zutreffend hat das angefochtene Urteil den Wortlaut des § 9 Abs. 4 S. 1 TVÜ-L und der Nr. 1 der Protokollerklärung ausgelegt und festgestellt, dass diesem Wortlaut zufolge Sonderurlaub unter den Begriff des "Urlaubs" im Sinne der tarifvertraglichen Bestimmung fällt. Denn die Überschrift zu Abschnitt IV des TV-L lautet: "Urlaub und Arbeitsbefreiung". In diesem Abschnitt befinden sich genau vier Regelungen, nämlich:

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- § 26 TV-L = Erholungsurlaub

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- § 27 TV-L = Zusatzurlaub

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- § 28 TV-L = Sonderurlaub und

19

- § 29 TV-L = Arbeitsbefreiung.

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Sodann schließt sich der Abschnitt V Befristung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses an.

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Bereits nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist der Sonderurlaub ein Unterfall des Urlaubs. Erst recht ist der tarifvertraglich geregelte Sonderurlaub im Sinne des Wortlautes und der Systematik des Tarifvertrages ein Unterfall des Urlaubes. Denn die einzelnen Urlaubsarten im Sinne des TV-L sind abschließend unter der Überschrift Urlaub und Arbeitsbefreiung im Abschnitt IV geregelt. Dies lässt zwingend und eindeutig erkennen, dass der in § 28 TV-L geregelte Sonderurlaub als Unterfall des Urlaubes ein unschädlicher Unterbrechenstatbestand ist. Diese Regelung ist zwingend, eindeutig und elementar.

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2. Die in der Berufungsbegründung genannte Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien, nur solche Tätigkeitsunterbrechungen als unschädlich zuzulassen, die auf einer gesetzlichen Grundlage basieren, ist nicht erkennbar, hat in dem Wortlaut der tariflichen Norm nicht einmal ansatzweise seinen Niederschlag gefunden und kann daher nicht als Gegenargument berücksichtigt werden.

23

Die vom Arbeitsgericht zutreffend zitierten Auslegungsregeln, nach denen der normative Teil eines Tarifvertrages ausgelegt wird, enthalten eine Rangfolge der Auslegung.

24

Im vorliegenden Streitfall ist bereits der Tarifwortlaut eindeutig. Die im vorangestellten Abschnitt unter 1. erläuterten Zusammenhänge lassen keine Unklarheit der Auslegung des Tarifvertrages zu.

25

Das Argument, die drei anderen in der Protokollnotiz genannten Tatbestände Mutterschutz, Elternzeit und Krankheit beruhten auf einer gesetzlichen Grundlage, demzufolge müsse auch der Begriff Urlaub so ausgelegt werden, dass nur Urlaub auf einer gesetzlichen Grundlage vom Tatbestand der Protokollnotiz erfasst sei, ist nicht ansatzweise zwingend undüberzeugend. Es hindert die Tarifvertragsparteien nämlich nichts daran, Fallkonstellationen, die eine gesetzliche Grundlage haben und solche, die auf einer tariflichen Kannvorschrift basieren, gleichrangig nebeneinander aufzuführen.

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3. Soweit die Berufungsbegründung die Rechtsgrundsätze des LAG Hamm (LAG Hamm, Urteil vom 18.10.2007, Az.: 17 Sa 416/07 - juris) bemüht, vermag dies gleichfalls nicht zu überzeugen. Wie das LAG Hamm dort zutreffend feststellt, sind die Tarifvertragsparteien aus Gleichbehandlungsgesichtspunkten nicht daran gehindert, bei der Regelung einer kinderbezogenen Besitzstandszulage, die im eigenen Interesse des Arbeitnehmers erfolgenden Anspruchnahme eines Sonderurlaubs anders zu behandeln als Fälle der Elternzeit, der Rente auf Zeit und der Arbeitsunfähigkeit ohne Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Die dortige Protokollerklärung, die diese Andersbehandlung regelt, lautet:

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- "die Unterbrechung der Entgeltfortzahlung im Oktober 2006 bei Ruhen des Arbeitsverhältnisses wegen Elternzeit, Rente auf Zeit oder Ablauf der Krankenbezugsfristen ist für das Entstehen des Anspruches auf die Besitzstandszulage unschädlich....".

28

Diese Protokollnotiz enthält im entscheidungserheblichen Kern einen anderen Wortlaut, weil Urlaub, gleich welcher Gestalt, im Gegensatz zu der hier vorliegenden Protokollerklärung überhaupt nicht erwähnt wird. Diese Zusammenhänge hat die Berufungserwiderungüberzeugungskräftig dargestellt.

29

4. Entscheidungsunerheblich sind sowohl der Hinweis auf eine abweichende Rechtsauffassung in der Kommentarliteratur (Effertz, TV-L, Jahrbuch Länder 2007, Abschnitt 1.1, § 9), die weder begründet, noch sonst irgendwie einleuchtend ist, noch die Durchführungshinweise der Tarifgemeinschaft der Länder vom 18.08.2006, welche nicht Vertragsbestandteil geworden sind, weil insoweit weder eine ausdrückliche, noch eine konkludente Bezugnahmeklausel vorliegt.

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5. Hat die Klägerin aufgrund der vorangestellten Ausführungen bereits ein originären tarifvertraglichen Erfüllungsanspruch, dann kann die Problematik eines hilfsweise gestellten Schadensersatzanspruches ausdrücklich auf sich beruhen. Hierbei gibt es jedoch deutliche Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Handeln des beklagten Landes (unterstellt, die von ihm vertretene Rechtsauffassung wäre richtig), welches erkennbar seine in § 15 Abs. 1 NGG enthaltene Aufklärungs- und Hinweispflicht nicht erfüllt hat. In diesem Zusammenhang lässt das als Anlage K 3 vorgelegte Bewilligungsschreiben, welches auf den 26.01.2006 (richtig: 2007) datiert, sogar eine deutliche Falschinformation erkennen: Dieses Schreiben beinhaltet die Information, der streitgegenständlich gewährte Urlaub ohne Bezüge könne ohne Einkommensverluste angetreten werden, weil er nicht länger als einen Monat dauere. Anders kann ein durchschnittlicher Arbeitnehmer den Erklärungsgehalt dieses Schreibens gemäß §§ 133, 157 BGB nicht verstehen.

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C. Gemäß § 97 Abs. 1 ZPO hat das beklagte Land die Kosten seiner erfolglosen Berufung zuzulassen. Gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG war die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen.

Kubicki
Straden
Mann