Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.12.2010, Az.: 12 Sa 860/10
Leidensgerechte Beschäftigung an heimischem Telearbeitsplatz; Klage eines querschnittsgelähmten Sachbearbeiters auf tatsächliche Beschäftigung an Heimarbeitsplatz
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 06.12.2010
- Aktenzeichen
- 12 Sa 860/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 34805
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2010:1206.12SA860.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hameln - 22.04.2010 - AZ: 1 Ca 41/10
Rechtsgrundlagen
- § 242 BGB
- § 611 Abs. 1 BGB
- § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX
- § 81 Abs. 4 S. 3 SGB IX
- § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO
Fundstellen
- br 2013, 91-94
- schnellbrief 2011, 8
Amtlicher Leitsatz
1. Der sich aus § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX ergebende Anspruch eines schwerbehinderten Menschen kann auch einen Anspruch auf Änderung des Ortes, an dem die Arbeitsleistung zu erbringen ist, einschließen.
2. Wenn der Arbeitgeber für den schwerbehinderten Menschen bereits in der Vergangenheit einen funktionsfähigen Telearbeitsplatz in dessen Wohnung eingerichtet hat, so ist es dem Arbeitgeber ohne das Hinzutreten neuer, gewichtiger Umstände im Zweifel nicht unzumutbar i.S.v. § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX, den Arbeitnehmer weiterhin an zwei Werktagen die Woche in Telearbeit zu beschäftigen.
3. Sofern die leidensgerechte Beschäftigung am heimischen Telearbeitsplatz eine Abänderung des ursprünglich geschlossenen Arbeitsvertrages hinsichtlich des Ortes der Erbringung der Arbeitsleistung erforderlich macht, kann der betroffene Arbeitnehmer unmittelbar auf entsprechende tatsächliche Beschäftigung klagen. Einer vorangehenden auf Änderung des Arbeitsvertrages gerichteten Klage bedarf es nicht.
In dem Rechtsstreit
Kläger, Berufungsbeklagter und Berufungskläger,
gegen
Beklagte, Berufungsklägerin und Berufungsbeklagte,
hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2010 durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Walkling,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Andreseck,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Wienecke
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 22.04.2010 - 1 Ca 41/10 - abgeändert und die Beklagte ferner verurteilt, den Kläger an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen seine Arbeitskraft in seiner Wohnung gemäß den Richtlinien vom 19.11.1998 erbringen zu lassen.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger aufgrund seiner Schwerbehinderung gegenüber der Beklagten einen Anspruch darauf hat, seine Arbeitszeit an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen im Wege der Telearbeit von seiner Wohnung aus zu erbringen.
Der jetzt 56 Jahre alte, verheiratete Kläger hat seit 1970 bei der Beklagten zunächst seine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert. Nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss war der Kläger seit dem 01.03.1973 als Sachbearbeiter für die Beklagte tätig. Im schriftlichen Anstellungsvertrag vom 23.03.1973 ist ein Arbeits- oder Dienstort für den Kläger nicht ausdrücklich vereinbart. Bei der Beklagten ist ein Betriebsrat gebildet, dessen Mitglied der Kläger ist.
Am 09.10.1974 erlitt der Kläger einen Wegeunfall, der von der zuständigen Berufsgenossenschaft als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Aufgrund der Verletzungsfolgen ist der Kläger seit 1990 an einen Rollstuhl gebunden. Seit 2002 liegt als weitere Folge der Verletzung durch den Wegeunfall beim Kläger eine komplette Querschnittslähmung vor. Aufgrund dieser Querschnittslähmung muss der Kläger dreimal die Woche sogenannte Abführtage durchführen. Unter Zuhilfenahme von Medikamenten wird an diesen Abführtagen der Stuhlgang sichergestellt. Beim Kläger ist ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt.
Am 19.11.1998 erließ die Beklagte für ihren Betrieb eine "Allgemeine Richtlinie für die außerbetriebliche Arbeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Wohnung" (Bl. 12 f. d. A.). Mit Rücksicht auf die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers schlossen die Parteien am 11.06.2003 eine Vereinbarung des Inhaltes, dass der Kläger an jedem zweiten Kalendertag, soweit dies ein Arbeitstag ist, seine Aufgaben zu Hause erledigen darf. Die Laufzeit dieser Vereinbarung war zunächst bis zum 31.12.2003 befristet (Bl. 10 d. A.). Die Geltungsdauer dieser Vereinbarung wurde von den Parteien insgesamt fünfmal zuletzt bis zum 31.08.2009 verlängert (Bl. 14 ff. d. A.).
Mit Attest vom 26.06.2009 bescheinigte Herr D., Chefarzt des Diakoniekrankenhauses F. gGmbH, dem Kläger, dass für diesen weiterhin die Notwendigkeit bestehe, seinen Arbeitsverpflichtungen zweimal wöchentlich an einem Heimarbeitsplatz nachzukommen (Bl. 20 d. A.). Der Betriebsarzt der Beklagten, Herr N., bescheinigte dem Kläger mit Attest vom 19.08.2009, dass der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen zweimal die Woche im häuslichen Bereich verbleiben müsse (Bl. 21 d. A.). Gleichwohl hat die Beklagte einer weiteren Verlängerung der Vereinbarung über alternierende Telearbeit nicht zugestimmt, sondern mit Schreiben vom 06.10.2009 gegenüber dem Kläger angeordnet, dass dieser künftig seine Arbeitszeit von Montag bis Freitag vollständig im Betrieb in der E.-R.-S. in A-Stadt zu erbringen habe (Bl. 19 d. A.).
Mit am 22.01.2010 eingegangenem Schriftsatz hat der Kläger beim Arbeitsgericht A-Stadt zunächst beantragt, die Beklagte zu verpflichten, den mit dem Kläger bestehenden Arbeitsvertrag dahingehend zu ändern, dass der Kläger berechtigt ist, an Dienstagen und Donnerstagen seine Arbeitsaufgaben in seiner Wohnung gemäß den Richtlinien für außerbetriebliche Arbeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom 19.11.1998 zu erbringen.
Zur Begründung hat der Kläger ausgeführt, dass eine Beschäftigung im häuslichen Bereich an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen für ihn aus medizinischen Gründen zwingend sei. Die Beklagte werde durch eine Fortsetzung der in der Vergangenheit bereits gelebten Regelung nicht unzumutbar belastet, da der Telearbeitsplatz für ihn bereits eingerichtet worden sei. Er habe seine Arbeitsleistung in der Vergangenheit an seinem Telearbeitsplatz stets ordnungsgemäß erbracht.
Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,
1. die Beklagte zu verpflichten, den Kläger nicht anzuweisen, an fünf Tagen in der Woche in der Betriebsstätte "E.-R.-S." seine arbeitsvertragliche Verpflichtung zu erfüllen, sondern den Kläger an Dienstagen und Donnerstagen seine Arbeitskraft in seiner Wohnung gemäß den Richtlinien von 1998 erbringen zu lassen,
2. festzustellen, dass die Änderung des Arbeitsortes an Dienstagen und Donnerstagen gemäß der dem Kläger erteilten Anweisung ab 01.09.2009 unwirksam ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass dem Kläger kein Anspruch auf Einrichtung eines Telearbeitsplatzes zustehe. Zudem sei zu besorgen, dass der Kläger mit den Arbeitszeiten an seinem Telearbeitsplatz sowohl gegen das Arbeitszeitgesetz als auch gegen die geltende Betriebsvereinbarung verstoße.
Mit Urteil vom 22.04.2010 hat das Arbeitsgericht A-Stadt dem Klagantrag zu Ziffer 1 teilweise stattgegeben und im Übrigen die Klage abgewiesen. Dieses Urteil ist am 18.05.2010 an die Prozessbevollmächtigten des Klägers und am 19.05.2010 an die Prozessbevollmächtigten der Beklagten zugestellt worden. Die Berufungsschrift der Beklagten ist am 07.06.2010 und diejenige des Klägers am 11.06.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Die Berufungsbegründung der Beklagten ist am 18.08.2010 und diejenige des Klägers am 19.08.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor, dass sich der Anspruch des Klägers, seine Arbeitsleistung an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen an seinem Telearbeitsplatz zu erbringen, aus den bescheinigten medizinischen Notwendigkeiten in Verbindung mit § 81 Abs. 4 SGB IX ergebe.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 22.04.2010 - 1 Ca 41/10 - die Beklagte ebenfalls zu verurteilen, den Kläger an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen seine Arbeitskraft in seiner Wohnung gemäß den Richtlinien von 1998 erbringen zu lassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, dass das vom Kläger verfolgte Klagziel auf eine Änderung des vertraglich vereinbarten Arbeitsortes hinaus laufe. Hierauf habe der Kläger unter keinem Gesichtspunkt einen Anspruch. Zur Begründung ihrer eigenen Berufung führt die Beklagte aus, dass der ursprünglich für den Kläger eingerichtete Telearbeitsplatz inzwischen nicht mehr existiere. Die bisherige Regelung sei für die Beklagte nicht mehr tragbar gewesen, da einerseits Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz und die Betriebsvereinbarung zu besorgen gewesen seien und andererseits die Beklagte Anhaltspunkte dafür habe, dass der Kläger seine Arbeitsleistung an seinem häuslichen Arbeitsplatz nicht vollständig und ordnungsgemäß erbringe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 22.04.2010 - 1 Ca 140/10 - abzuändern, soweit es der Klage stattgegeben hat und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger erklärt seine Bereitschaft, seine Arbeitszeit bei der Beklagten an den Präsenztagen auf acht Stunden täglich aufzustocken. Eine längere Beschäftigung an einem einzelnen Arbeitstag sei ihm aufgrund seines Leidens und der 100%igen Schwerbehinderung aus medizinischen Gründen jedoch nicht möglich.
Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze beider Instanzen sowie die Protokollerklärungen in der Sitzungsniederschrift vom 06.12.2010 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Von den jeweils statthaften und form- sowie fristgerecht eingelegten Berufungen ist diejenige des Klägers begründet, die der Beklagten hingegen unbegründet.
I. Die auf eine tatsächliche Beschäftigung an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen im häuslichen Bereich gerichtete Berufung des Klägers ist zulässig und begründet.
1. Die vom Kläger mit Schriftsatz vom 19.08.2010 begründete Berufung ist hinsichtlich ihrer Begründung und des dort gestellten Antrages zulässig.
a) Der Berufungskläger muss in der Berufungsbegründungsschrift vortragen, aus welchen Gründen er das angefochtene Urteil beanstandet. Diese Begründung muss auf den konkreten Streitfall zugeschnitten sein, der Berufungskläger muss sich mit dem angefochtenen Urteil aus tatsächlichen oder/und rechtlichen Gründen auseinandersetzen. Demnach muss die Berufungsbegründung die Bezeichnung der Umstände, aus denen sich eine Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angegriffene Entscheidung ergeben enthalten (BCF/Friedrich ArbGG, § 66 Rn. 31).
In der Berufungsbegründung vom 19.08.2010 stellt der Kläger fest, dass das Arbeitsgericht seinem weitergehenden Klagantrag mit der Begründung nicht stattgegeben habe, dass kein vertraglicher Anspruch darauf bestehe, die Arbeitsleistung an Dienstagen und Donnerstagen von zu Hause aus zu erbringen. Vor dem Hintergrund der vom Kläger dargelegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen habe er jedoch aus § 81 Abs. 4 SGB IX zumindest einen Anspruch darauf, die Arbeit an zwei nicht aufeinanderfolgenden Werktagen von zu Hause aus zu erbringen. Der Kläger rügt damit, dass das Arbeitsgericht im vorliegenden Fall die Tragweite von § 81 Abs. 4 SGB IX verkannt habe. Dies ist für eine zulässige Berufungsbegründung ausreichend
b) Der vom Kläger formulierte Antrag, die Beklagte zu verurteilen, den Kläger an zwei nicht aneinanderfolgenden Arbeitstagen seine Arbeitskraft in seiner Wohnung gemäß den Richtlinien von 1998 erbringen zu lassen, ist zulässig. Er ist insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 2 Ziffer 2 ZPO. Die vom Kläger verlangten konkreten Umstände seiner Beschäftigung ergeben sich aus der Richtlinie vom 19.11.1998. Bei Auslegungsschwierigkeiten in einem etwaigen Vollstreckungsverfahren können zudem die Inhalte der Vereinbarung vom 11.06.2003 ergänzend hinzugezogen werden. Der Antrag ist auch hinsichtlich des für die häusliche Arbeit verlangten Zeitumfanges hinreichend bestimmt. Der Kläger verlangt die Beschäftigung an "zwei ... Arbeitstagen". Mangels näherer Spezifizierung ist darunter ein ganzer Arbeitstag zu verstehen, auch wenn - wie die Erörterungen der Parteien in der Verhandlung am 06.12.2010 gezeigt haben - durchaus noch Spielraum bestehen mag, ob der vom Kläger an seinem Telearbeitsplatz zu leistende Beschäftigungsumfang sieben, acht oder mehr Stunden täglich beträgt. Es ist davon auszugehen, dass mit dem ausgeurteilten Titel ein Anspruch des Klägers besteht, zumindest für sieben Arbeitsstunden seine Arbeitszeit vom häuslichen Arbeitsplatz aus erbringen zu dürfen.
2. Der materielle Anspruch des Klägers an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen seine Arbeitskraft in seiner Wohnung erbringen zu dürfen folgt aus § 611 Abs. 1 BGB i. V. m. § 81 Abs. 4 SGB IX.
a) Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Der Arbeitgeber erfüllt diesen Anspruch regelmäßig dadurch, dass er dem Arbeitnehmer die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist. Kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer die damit verbundenen Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dieser Verlust nach der Konzeption der §§ 81 f. SGB IX nicht ohne weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs. Der Arbeitnehmer kann Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht abdeckt, auf eine entsprechende Vertragsänderung. Um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, ist der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX auch zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet. So kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer verlangen, dass er nur mit leichteren Arbeiten beschäftigt wird, sofern im Betrieb die Möglichkeit zu einer solchen Aufgabenumverteilung besteht. Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen zudem Anspruch auf Ausstattung ihres Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen (BAG 14.03.2006, 9 AZR 411/05, NZA 2014 [2016]).
Auch wenn die Frage, an welchem konkreten Ort die Arbeitsleistung von dem schwerbehinderten Mitarbeiter zu erbringen ist, in dem Katalog des § 81 Abs. 4 Satz 1 nicht ausdrücklich Erwähnung wird, so ist das erkennende Gericht doch der Auffassung, dass sich diese Frage unter den Oberbegriff der "Beschäftigung" im Sinne von § 81 Abs. 4 Satz 1 Ziffer 1 SGB IX subsumieren lässt. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, den schwerbehinderten Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen, bei welcher das (Rest-)Leistungsvermögen der schwerbehinderten Menschen optimal zur Geltung kommt. Das erforderliche Korrektiv, welches den Arbeitgeber vor Überforderungen schützt, ist in § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX enthalten. Aus Sicht des erkennenden Gerichts würde die Vorschrift des § 81 Abs. 4 SGB IX ihren Zweck verfehlen, wenn eine im Einzelfall ohne großen Aufwand mögliche Änderungen des Arbeitsortes schon von vornherein als vom Katalog der vom Arbeitgeber zu erwägenden Anpassungsmaßnahmen nicht erfasst angesehen würde.
b) Als Rechtsfolge deckt § 81 Abs. 4 SGB IX nicht nur sekundäre Schadensersatzansprüche (z.B. Anspruch auf Verzugslohn) der schwerbehinderten Menschen ab, denen ein leidensgerechter Arbeitsplatz - obschon ohne weiteres möglich - nicht zur Verfügung gestellt worden ist, sondern gibt auch einen Anspruch darauf, unmittelbar auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu klagen. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass ihm vorliegenden Fall damit eine Abänderung des Arbeitsvertrages hinsichtlich des Arbeitsortes und der Teilumstände der Arbeitsleistung verbunden ist. Diesen Anspruch kann der Kläger im Interesse effektiven Rechtsschutzes hier unmittelbar im Wege eines Leistungsantrages verfolgen und ist nicht auf den "Umweg" einer Klage auf den Abschluss eines geänderten Arbeitsvertrages angewiesen.
c) Im vorliegenden Fall folgt aus § 81 Abs. 4 Satz 1 Ziffer 1 SGB IX ein Anspruch des Klägers, dass die Beklagte ihm an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen die Erbringung seiner Arbeitsleistung von seiner Wohnung aus gemäß den Richtlinien von 1998 gestattet. Der Kläger hat zwei ärztliche Bescheinigungen vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass er mit Rücksicht auf seine Schwerbehinderung die sogenannten Abführtage zu Hause durchführen muss. Die Beklagte hat weder die inhaltliche Richtigkeit der Atteste vom 26.06. und 19.08.2009 infrage gestellt, noch hat sie konkret dazu vorgetragen, wie die für den Kläger unabdingbar notwendigen Abführtage im Betrieb der Beklagten durchgeführt werden könnten. Damit steht fest, dass der Kläger seine vollschichtige Arbeitsleistung in der ursprünglich vertraglich geschuldeten Form (Präsenz an fünf Werktagen in der Woche im Betrieb in A-Stadt) nicht mehr erbringen kann. Die weitere Nutzung des Telearbeitsplatzes, an dem der Kläger an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen arbeiten kann, ist eine geeignete Abhilfemaßnahme, die dem Kläger eine weiterhin vollschichtige Beschäftigung für die Beklagte ermöglicht. Die gesundheitliche Vertretbarkeit für den Kläger und die technische Machbarkeit für die Betriebsorganisation der Beklagten ist durch die sechsjährige Praxis von Sommer 2003 bis Sommer 2009 hinreichend belegt.
d) Der Arbeitgeber ist jedoch dann nicht zur modifizierten Beschäftigung des schwerbehinderten Menschen verpflichtet, wenn ihm die Beschäftigung unzumutbar oder eine solche mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist, § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, für den schwerbehinderten Menschen einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten (BAG 14.03.2006, 9 AZR 411/05, NZA 2006, 1214 [1216]). Eine Unzumutbarkeit der Beschäftigung des Arbeitnehmers zu geänderten Bedingungen hat der Arbeitgeber sowohl darzulegen als auch zu beweisen. Es bedürfte einer substantiierten Darlegung des Arbeitgebers, aus welchen Gründen die vom Arbeitnehmer vorgeschlagenen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (BAG 10.05.2005, 9 AZR 230/04, AP Nr. 8 zu § 81 SGB IX, Rn. 42).
Im vorliegenden Fall sind für die Beklagte keine unverhältnismäßigen finanziellen Aufwendungen zu befürchten, da der Telearbeitsplatz für den Kläger bereits vollständig eingerichtet gewesen ist. Die Beklagte hat damit durch eigenes Handeln dokumentiert, dass ihr die Einrichtung eines solchen Telearbeitsplatzes möglich und zumutbar ist. Auf die ggf. vorübergehend erfolgte Demontage des bereits eingerichteten Telearbeitsplatzes kann sich die Beklagte mit Rücksicht auf den Rechtsgedanken des § 162 BGB nicht berufen. Die Beklagte hat im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung, dem Kläger gegenüber anzuordnen, seine Arbeitsleistung wieder ständig im Betrieb der Beklagten zu erbringen, auch keine konkreten technischen (Datensicherheit) oder sich auf den Betriebsablauf beziehenden (Erreichbarkeit des Klägers) Störungen vorgetragen, aufgrund welcher die alternierende Telearbeit nicht mehr praktikabel sein soll. Die Beklagte hat vielmehr allgemein die Besorgnis geäußert, der Kläger habe seine Arbeitsleistung an den Heimarbeitstagen nicht vollständig oder nicht ordnungsgemäß erbracht. Hierzu ist jedoch im Prozess seitens der Beklagten keine ausreichende Substantiierung erfolgt. Zudem wäre die Beklagte gehalten, zunächst Abhilfe in milderen Maßahmen (z.B. eine Erweiterung der Berichts- und Dokumentationspflichten des Klägers) als der Entziehung des Telearbeitsplatzes zu suchen.
e) Die Beschäftigung des Klägers an zwei nicht aufeinanderfolgenden Werktagen an seinem Heimarbeitsplatz ist auch nicht durch das Arbeitszeitgesetz oder die bei der Beklagten bestehenden Betriebsvereinbarungen ausgeschlossen. Soweit die Beklagte einen Verstoß gegen die vorgeschriebene Mindestruhezeit von 11 Stunden gemäß § 5 Abs. 1 ArbZG besorgt, mag sie im Rahmen des ihr verbleibenden Direktionsrechtes darauf hinwirken, dass der Kläger diese Regelung respektiert. So ist es beispielsweise möglich, die vom Kläger zu Hause zu erbringende Arbeitszeit auf sieben Stunden zu reduzieren und den Arbeitsbeginn am Folgetage im Rahmen der bestehenden Gleitzeitregelung nach hinten zu verschieben.
Sofern die Beklagte einen Verstoß gegen die bei ihr bestehenden Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit als gegeben ansieht, muss sie hier gegenüber dem Betriebsrat zunächst einen Vorstoß unternehmen, für den Kläger aus gegebenem Anlass eine Ausnahmeregelung zu erreichen. Analog zu der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach der Arbeitgeber zur Vermeidung der Kündigung eines Schwerbehinderten das Verfahren nach § 99 BetrVG mit Beteiligung des Betriebsrates durchzuführen hat, aber nicht zur Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens gezwungen ist (BAG 22.09.2005, 2 AZR 519/04, AP Nr. 10 zu § 81 SGB IX), so ist dem Arbeitgeber hier zuzumuten, eine entsprechende Ausnahmeregelung beim Betriebsrat durch Vereinbarung einer Protokollnotiz oder teilweisen Abänderung der Betriebsvereinbarung anzuregen. Lediglich die Kündigung der gesamten Arbeitszeitbetriebsvereinbarung und gegebenenfalls die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens mag demgegenüber unzumutbar sein.
f) Der Anspruch des Klägers auf Weiternutzung seines Telearbeitsplatzes gemäß § 81 Abs. 4 Ziff. 1 SGB IX entfällt auch nicht deshalb, weil der Kläger alternativ eine Reduzierung der Arbeitszeit nach § 81 Abs. 5 SGB IX beantragen könnte. Diese Regelung ist gegenüber der behinderungsgerechten Gestaltung der Arbeitsbedingungen nach § 81 Abs. 4 SGB IX subsidiär. Der Gesetzgeber strebt mit § 81 Abs. 4 SGB IX eine optimale Teilhabe an und Integration der schwerbehinderten Menschen in das Erwerbsleben an. Diese Ziele würden konterkariert, wenn der Arbeitgeber im Rahmen von § 81 Abs. 4 SGB IX zumutbare Modifikationen der Arbeitsbedingungen mit Hinweis auf eine ebenfalls mögliche Arbeitszeitreduzierung verweigern könnte.
II. Die Berufung der Beklagten ist zulässig aber unbegründet. Soweit das Arbeitsgericht die Beklagte erstinstanzlich verurteilt hat es zu unterlassen, den Kläger anzuweisen, an fünf Tagen in der Woche in der Betriebsstätte "E.-R.-S." seine Arbeitsleistung zu erbringen, so handelt es sich bei diesem Anliegen materiell-rechtlich um ein "Minus" gegenüber dem weiteren Anliegen, welches der Kläger mit seiner erfolgreichen Berufung durchgesetzt hat. Wenn der Kläger - wie unter I. begründet - einen Anspruch darauf hat, an zwei nicht aufeinanderfolgenden Werktagen in der Woche seine Arbeitsleistung in seiner Wohnung gemäß den Richtlinien vom 19.11.1998 zu erbringen, so ist die Beklagte zwingend gehindert, den Kläger anzuweisen, seine Arbeitsleistung an fünf Tagen in der Woche in der Betriebsstätte "E.-R.-S." zu erbringen. Es handelt sich lediglich um eine über den jetzt erweiterten Urteilstenor hinausgehende Klarstellung. Zur materiell-rechtlichen Begründung wird auf I. dieser Entscheidungsgründe verwiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits hat gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO insgesamt die Beklagte zu tragen. Dies gilt auch für die von ihr ohne Erfolg eingelegte Berufung (§ 97 ZPO).
Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG zuzulassen, da bislang einerseits noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ob unter den Begriff der "Beschäftigung" im Sinne von§ 81 Abs. 4 Satz 1 Ziffer 1 SGB IX auch eine Anpassung des Beschäftigungsortes in räumlicher Hinsicht zu fassen ist und andererseits noch nicht abschließend geklärt ist, wann ein Schwerbehinderter, welcher Rechte aus § 81 Abs. 4 SGB IX geltend macht, zunächst auf die Zustimmung des Arbeitgebers zur entsprechenden Vertragsänderung klagen muss und wann er sogleich eine Leistungsklage auf Zuweisung einer entsprechenden Beschäftigung erheben kann.
Beschluss:
Der unterschriebene und verkündete Tenor des Urteils vom 06.12.2010 war nach Anhörung der Parteien von Amts wegen gemäߧ 319 ZPO dahingehend zu berichtigen, dass die Beklagte nicht verurteilt worden ist, den Kläger "an zwei aufeinanderfolgenden Arbeitstagen" zu Hause arbeiten zu lassen, sondern dass die Verpflichtung "an zwei nicht aufeinanderfolgenden Arbeitstagen" besteht. Bei der Abweichung im tatsächlich verkündeten Urteilstenor handelt es sich um eine offenbare Unrichtigkeit, weil die Kammer dem Berufungsantrag des Klägers uneingeschränkt stattgeben wollte und das Wort "nicht" vom Vorsitzenden beim handschriftlichen Abfassen des Urteilstenors schlicht vergessen worden ist.
Andreseck
Wienecke