Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 13.04.2010, Az.: 13 Sa 1297/09
Auslegung von Tarifverträgen; Mehrarbeitszuschlag nach § 8 Nr. 1 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Land Niedersachsen vom 10.10.2005 (MTV-Niedersachsen)
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 13.04.2010
- Aktenzeichen
- 13 Sa 1297/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 28860
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2010:0413.13SA1297.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hannover - 12.05.2009 - AZ: 13 Ca 42/09
- nachfolgend
- BAG - 14.09.2011 - AZ: 10 AZR 358/10
Rechtsgrundlagen
- § 133 BGB
- § 157 BGB
- § 611 Abs. 1 BGB
- § 6 MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Bund (vom 01.12.2006)
- 1. Protokollnotiz zum MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Niedersachsen (vom 10.10.2005)
- § 1 TVG
Amtlicher Leitsatz
Eine Auslegung der tariflichen Bestimmungen ergibt, dass Arbeitnehmern im Geld- und Werttransport Mehrarbeitszuschlag ab 174. Monatsstunde zusteht.
In dem Rechtsstreit
Kläger und Berufungskläger,
gegen
Beklagte und Berufungsbeklagte,
hat die 13. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 13. April 2010 durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Rosenkötter,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Schmitz,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Leimbrock
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 12.05.2009, 13 Ca 42/09, abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 381,12 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 136,80 € seit dem 16.08.2008, aus 88,14 € seit dem 16.09.2008, aus 70,17 € seit dem 16.10.2008, aus 75,96 € seit dem 16.01.2009 und aus 10,05 € seit dem 16.02.2009 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 381,12 € festgesetzt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Mehrarbeitszuschlag in Höhe von 25 % für die in den Monaten Juli bis September 2008, Dezember 2008 und Januar 2009 geleisteten Mehrarbeitsstunden. Er vertritt die Auffassung, nach Tarifvertrag bestehe Anspruch auf Mehrarbeitszuschlag ab der 174. Monatsstunde. Nach Auffassung der Beklagten besteht Zuschlagspflicht erst ab der 265. Monatsstunde. Der geltend gemachte Anspruch ist der Höhe nach unstreitig.
Die Beklagte ist ein Unternehmen des Wach- und Sicherheitsgewerbes und befasst sich mit Geld- und Wertdiensten. Sie ist Mitglied des Arbeitgeberverbandes Bund Deutscher Geld- und Wertdienste e.V.. Der Kläger, seit 2003 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern beschäftigt, ist im Geldtransportdienst eingesetzt, Bruttomonatsvergütung 2.200,-- €, Stundenlohn 12,-- €. Auf das Arbeitsverhältnis finden Anwendung
- Mantelrahmentarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland vom 01.12.2006, gültig ab 01.01.2007 (MRTV-Bund).
- Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Land Niedersachsen vom 10.10.2005, gültig ab 01.01.2006 (MTV-Niedersachsen).
- Lohntarifvertrag für die Geld- und Wertdienste im Land Niedersachsen (LTV).
§ 6 MRTV-Bund regelt zur Arbeitszeit:
1.1. Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit soll 8 Stunden nicht überschreiten. Sie kann ohne Vorliegen von Arbeitsbereitschaft auf bis zu 10 Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von 12 Kalendermonaten im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Darüber hinaus kann die Arbeitszeit auch ohne Ausgleich über 10 Stunden täglich verlängert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt.
1.2. Die tägliche Ruhezeit beträgt 11 Stunden, mindestens jedoch 9 Stunden. Eine Verkürzung der 11-stündigen Ruhezeit ist nur dann zulässig, wenn ein Ausgleich innerhalb von 3 Monaten vorgenommen wird.
1.3. Bei Kurzeinsätzen besteht ein Vergütungsanspruch von mindestens 4 Stunden. Diese Regelung gilt nicht für Beschäftigte mit Arbeitsverträgen, in denen eine kapazitätsorientierte und/oder variable Arbeitszeit vereinbart ist.
1.4. Die monatliche Regelarbeitszeit kann auf bis zu 264 Stunden ausgedehnt werden, ab dem 1. Oktober 2010 jedoch nur noch auf 248 Stunden.
1.5. Für kerntechnische Anlagen gelten die Arbeitszeitregelungen der länderspezifischen Tarifverträge unter Berücksichtigung der Ziffern 1.1. und 3. dieses Paragrafen.
Die monatliche Regelarbeitszeit im Geld- und Werttransport und für Angestellte beträgt 173 Stunden im Durchschnitt des Kalenderjahres.
Der MTV-Niedersachsen enthält in § 5 Regelungen zur Arbeitszeit in kerntechnischen Anlagen. Gemäß § 8 Ziffer 1 MTV-Niedersachsen beträgt der Mehrarbeitszuschlag 25 %.
Unter dem Datum vom 10.10.2005 haben die Tarifvertragsparteien ergänzend zum MTV-Niedersachsen folgende erste Protokollnotiz vereinbart (gültig ab 01.01.2006):
Der Mehrarbeitszuschlag beträgt gemäß § 8 Ziffer 1. des Manteltarifvertrages 25 %.
Er wird grundsätzlich ab der 265. tatsächlich geleisteten Monatsarbeitsstunde fällig.
Für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst gilt folgende Abweichung:
Der Mehrarbeitszuschlag wird bis zum 31.12.2007 ab der 289. tatsächlich geleisteten Monatsarbeitsstunde, ab dem 01.01.2008 ab der 265. tatsächlich geleisteten Monatsarbeitsstunde fällig.
Für Mitarbeiter der Geld- und Wertdienste ist eine von § 6 Ziffer 1.5 MRTV abweichende Einteilung der monatlichen Regelarbeitszeit zulässig. Für diese Mitarbeiter werden Regelungen bezüglich eines Jahresarbeitszeitkontos getroffen.
Für Mitarbeiter in kerntechnischen Anlagen wird auf § 5 Ziffer 5 des Manteltarifvertrages verwiesen.
In einer weiteren Protokollnotiz vom 10.10.2005 haben die Tarifvertragsparteien vereinbart, dass der zwischenzeitlich gekündigte Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Lande Niedersachsen vom 06.03.1997 (MTV 1997) wieder in Kraft tritt. Der MTV 1997 geht in § 6 Ziffer 1 grundsätzlich von einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden aus und bestimmt für den Sicherheitstransportdienst in Ziffer 4 b, dass für die über die tägliche Arbeitszeit von 8 Stunden hinaus geleistete Arbeitszeit ein Zeitzuschlag gemäß § 14 (von 25 %) gezahlt wird.
Die Beklagte hat bis einschließlich Juni 2008 ab 174. Monatsstunde einen Mehrarbeitszuschlag von 25 % gezahlt. Der Arbeitgeberverband Bund Deutscher Geld- und Wertdienste e.V. hat bis Ende des Jahres 2007 Entgeltübersichten herausgegeben, in denen unter der Rubrik "tarifvertragliche Überstundenzuschläge 25 % ab" vermerkt ist 174. Std.. In den 2008 herausgegebenen Entgeltübersichten erfolgte eine Umstellung auf Mehrarbeitszuschlagspflicht ab 265. Stunde.
Der Kläger hat vorgetragen, die erste Protokollnotiz mit Festlegung der Zuschlagspflicht ab 265. Stunde sei auf den Geld- und Werttransportdienst nicht anzuwenden. Die Regelung betreffe den Wachdienst mit erheblichen Zeiten der Arbeitsbereitschaft. Zu berücksichtigen sei auch, dass am 10.10.2005 durch Protokollnotiz der MTV 1997 wieder in Kraft gesetzt worden sei. Dieser Tarifvertrag sehe einen Mehrarbeitszuschlag bei Überschreitung der täglichen Regelarbeitszeit von 8 Stunden vor. Daraus sei zu entnehmen, dass der Tarifvertrag 1997 zur Schließung etwaiger Tariflücken weiter anwendbar sein sollte. Zumindest sei der geltend gemachte Anspruch nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung begründet.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 381,12 € brutto nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz gemäß § 247 BGB auf einen Betrag von 136,80 € brutto seit dem 16.08.2008, auf einen weiteren Betrag von 88,14 € brutto seit dem 16.09.2008, auf einen weiteren Betrag von 70,17 € brutto seit dem 16.10.2008, auf einen weiteren Betrag von 75,96 € brutto seit dem 16.01.2009 und auf einen weiteren Betrag von 10,05 € brutto seit dem 16.01.2009 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat verwiesen auf die erste Protokollnotiz, die dem Wortlaut nach eindeutig bestimme, dass Zuschlagspflicht erst ab 265. Stunde bestehe. Auf den MTV 1997 könne sich der Kläger nicht berufen, dieser Tarifvertrag sei wieder in Kraft gesetzt worden, um einen möglichst lückenfreien Bestand tariflicher Regelungen zu gewährleisten und dadurch das Erreichen einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu erleichtern. Der Tarifvertrag MTV 1997 sei sodann durch den MTV-Niedersachsen abgelöst worden. Auf die Regelungen des MTV 1997 könne auch zur Lückenausfüllung nicht zurückgegriffen werden. Ansprüche aus betrieblicher Übung seien nicht begründet, eine irrtümliche Tarifanwendung sei hierfür nicht ausreichend.
Das Arbeitsgericht hat in einem Parallelverfahren Auskünfte der Tarifvertragsparteien eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird Bezug genommen auf das Schreiben des Bundesverbandes Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen vom 11.02.2009 (Bl. 152 ff. d.A.) und das Schreiben der Gewerkschaft ver.di vom 18.02.2009 (Bl. 238 ff. d.A.).
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf Tenor und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils wird Bezug genommen.
Mit Berufung wiederholt der Kläger seine erstinstanzlich vorgetragenen Rechtsauffassungen. Insbesondere verweist er darauf, dass die Regelung zur Zuschlagspflicht 265. Stunde in der ersten Protokollnotiz auf den Wachdienst mit erheblichen Bereitschaftszeiten zugeschnitten sei, deshalb nicht für den Geldtransportdienst gelte. Zur Schließung der Regelungslücke, ab welcher Stunde im Geldtransportdienst Mehrarbeitszuschlag zu zahlen sei, könne deshalb auf den am 10.10.2005 wieder in Kraft gesetzten MTV 1997 zurückgegriffen werden. Ergänzend wird Bezug genommen auf die Berufungsbegründung.
Der Kläger beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des am 12.05.2009 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Hannover, Aktenzeichen 13 Ca 42/09, an den Kläger 381,12 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 136,80 € seit dem 16.08.2008, aus 88,14 € seit dem 16.09.2008, aus 70,17 € seit dem 16.10.2008, aus 75,96 € seit dem 16.01.2009 und aus 10,05 € seit dem 16.02.2009 zu zahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie wiederholt ihr erstinstanzliches Vorbringen und vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Regelungen des MTV 1997 durch den MTV-Niedersachsen mit Wirkung vom 01.01.2006 abgelöst worden seien. Auf Zuschlagspflicht nach MTV 1997 könne deshalb nicht zurückgegriffen werden. Nach der ersten Protokollnotiz bestehe Zuschlagspflicht ab 265. Stunde, dies gelte auch für Mitarbeiter im Geld- und Wertdienst. Die Protokollnotiz beziehe sich nicht nur auf Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst, angesprochen sei auch die regelmäßige Arbeitszeit der Mitarbeiter der Geld- und Wertdienste.
Entscheidungsgründe
1. Die Berufung des Klägers ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig, §§ 64, 66 ArbGG. Die Berufung ist begründet.
Der Kläger hat nach § 8 Ziffer 1 MTV-Niedersachsen in Verbindung mit § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund Anspruch auf Mehrarbeitszuschlag in Höhe von 25 %, berechnet nach einer monatlichen Regelarbeitszeit von 173 Stunden. Die Regelung in der ersten Protokollnotiz zum MTV-Niedersachsen, wonach der Mehrarbeitszuschlag grundsätzlich ab der 265. geleisteten Monatsarbeitsstunde fällig wird, steht diesem Anspruch nicht entgegen. Diese Bestimmung gilt nur für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst.
2. MRTV-Bund und MTV-Niedersachsen bilden für das Wach- und Sicherheitsgewerbe ein einheitliches Tarifwerk. Der MRTV-Bund legt grundsätzliche Bestimmungen etwa zur Arbeitszeit fest, die dann ergänzt werden durch manteltarifvertragliche Vereinbarungen in den einzelnen Bundesländern, hier im MTV-Niedersachsen. So bestimmt z.B. § 6 Ziffer 1.5, dass die monatliche Regelarbeitszeit im Geld- und Werttransport 173 Stunden im Durchschnitt des Kalenderjahres beträgt. § 6 Ziffer 3 MRTV-Bund enthält eine Öffnungsklausel für länderspezifische Vereinbarungen zur Regelarbeitszeit und verweist für Mehrarbeitszuschläge auf die Landesregelungen. § 8 Ziffer 1 MTV-Niedersachsen stellt damit eine ergänzende Regelung zum Bundesrahmentarifvertrag dar, indem der Mehrarbeitszuschlag 25 % beträgt.
§ 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund in Verbindung mit § 8 Ziffer 1 MTV-Niedersachsen ergibt dann aber, dass ab 174. Stunde bei Überschreitung der monatlichen Regelarbeitszeit ein Mehrarbeitszuschlag von 25 % zu zahlen ist. Einer besonderen tariflichen Bestimmung, ab welcher Wochen- oder Monatsstunde Überstundenzuschlag zu zahlen ist, bedurfte es nicht. Unter Mehrarbeit ist allein unter Berücksichtigung des Wortlautes die Zeit zu verstehen, die über die festgelegte regelmäßige Arbeitszeit hinausgeht, wobei die Regelarbeitszeit vertraglich oder wie hier tarifvertraglich festgelegt sein kann. Wenn § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund die monatliche Regelarbeitszeit mit 173 Stunden festlegt, folgt daraus, dass zuschlagspflichtige Mehrarbeit im Sinne des § 8 Ziffer 1 MTV-Niedersachsen bei Überschreitung der Regelarbeitszeit ab 174. Stunde vorliegt. Für diese Mehrarbeit ist der Zuschlag von 25 % geschuldet.
3. Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass in der ersten Protokollnotiz zum MTV-Niedersachsen bestimmt ist, dass grundsätzlich ab der 265. tatsächlich geleisteten Monatsarbeitsstunde der Mehrarbeitszuschlag fällig wird. Eine Auslegung der tariflichen Bestimmungen ergibt, dass diese Regelung nur für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst gilt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist der normative Teil eines Tarifvertrages nach den Auslegungsgrundsätzen für Gesetze auszulegen. Ausgehend vom Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist dabei auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Ergibt sich sodann kein zweifelsfreies Auslegungsergebnis, so können weitere Kriterien wie Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, praktische Tarifübung und auch Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse berücksichtigt werden (z.B. BAG vom 07.07.2004, 4 AZR 433/03, AP Nr. 10 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe; BAG vom 23.05.2007, 10 AZR 323/06, AP Nr. 10 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschifffahrt).
Eine Auslegung nach den vorstehenden Grundsätzen ergibt, dass die erste Protokollnotiz zum MTV-Niedersachsen mit der Anknüpfung des Mehrarbeitszuschlages an die 265. tatsächlich geleistete Monatsarbeitsstunde nur eine Regelung für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst enthält.
4. Die Protokollnotiz beinhaltet eine tarifvertragliche Regelung in Ergänzung zum MTV-Niedersachsen. Die Protokollnotiz enthält Regelungen zum Inhalt der Arbeitsverhältnisse z.B. zur Fälligkeit des Mehrarbeitszuschlages. Die Schriftform des § 1 Abs. 2 TVG ist gewahrt, sodass die Protokollnotiz nur als Teil des Gesamttarifwerks und damit als Tarifvertrag gewertet werden kann.
Nach dem Wortlaut des zweiten Satzes der Protokollnotiz besteht Zuschlagspflicht ab 265. Monatsarbeitsstunde. Die Formulierung ist so gewählt, dass die Regelung als maßgebend für alle Bereiche des Wach- und Sicherheitsgewerbes verstanden werden kann. Andererseits ist aber festzustellen, dass die Fälligkeitsregelung in Satz 2 der Protokollnotiz als "grundsätzlich" vereinbart ist; wo es Grundsätze gibt, gibt es Ausnahmen.
Die Protokollnotiz trifft in drei Abschnitten Regelungen zur Arbeitszeit, im ersten Abschnitt für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst, sodann wird im zweiten Abschnitt die Arbeitszeit für Geld- und Wertdienstmitarbeiter angesprochen, im dritten Abschnitt erfolgt ein Hinweis auf Mitarbeiter in kerntechnischen Anlagen.
Allein auf Grund des Wortlautes ergeben sich bereits Zweifel, ob die Zuschlagspflicht ab 265. Stunde für alle Bereiche gelten soll oder ob für Mitarbeiter der Geld- und Wertdienste und Mitarbeiter in kerntechnischen Anlagen besondere Regelungen gelten, ob hier bereits Ausnahmen vom Grundsatz festgelegt sind.
5. Die Protokollnotiz stellt eine Ergänzung des Tarifwerks für das Sicherheitsgewerbe bestehend aus MRTV-Bund und MTV-Niedersachsen dar und ist als ergänzende Protokollnotiz in diesem tariflichen Gesamtzusammenhang zu bewerten.
Lässt man Mitarbeiter bei Werksfeuerwehren und im Objektschutz militärischer Anlagen, § 6 Ziffer 2 MRTV-Bund, außer Betracht, so differenziert die Arbeitszeitregelung im Sicherheitsgewerbe in § 6 Ziffer 1 MRTV-Bund zwischen drei Mitarbeitergruppen: Mitarbeiter im Objektschutzdienst/Separatwachdienst mit einer Regelarbeitszeit von bis zu 264 Stunden (Ziffer 1.4), Mitarbeiter in kerntechnischen Anlagen mit Arbeitszeitregelung in Landestarifverträgen, Mitarbeiter im Geld- und Werttransport mit einer monatlichen Regelarbeitszeit von 173 Stunden im Durchschnitt des Kalenderjahres. Diese Differenzierung der drei Mitarbeitergruppen bei der Arbeitszeitregelung wird in der ersten Protokollnotiz zum MTV-Niedersachsen aufgenommen mit der dargestellten Aufgliederung in drei Teile - 1. Objektschutzdienst/Separatwachdienst, 2. Geld- und Wertdienste, 3. kerntechnische Anlagen. Die Protokollnotiz stellt eine Ergänzung zur Arbeitszeitregelung nach § 6 Ziffer 1 MRTV-Bund dar und legt diese als verbindlich zu Grunde. Dabei korrespondiert die Mehrarbeitszuschlagspflicht ab 265. Stunde mit der Regelarbeitszeit von bis zu 264 Stunden im Objektschutzdienst/Separatwachdienst. Für Mitarbeiter in Geld- und Wertdienst wird quasi die Arbeitszeitregelung in § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund bestätigt und in Bezug genommen. Geschaffen wird eine Öffnungsklausel zur betrieblichen Einteilung der monatlichen Regelarbeitszeit. Schließlich enthält dieser Absatz eine Absichtserklärung zur Schaffung tariflicher Regelungen für Jahresarbeitszeitkonten. Im dritten Teil der Protokollnotiz wird für Mitarbeiter in kerntechnischen Anlagen auf § 5 Ziffer 5 MTV-Niedersachsen verwiesen mit der Konsequenz, dass ausgehend von einer 40-Stunden-Woche bei Überschreitung der gemäß Schichtplan zu leistenden Arbeitszeit ein Zeitzuschlag nach § 8 MTV-Niedersachsen zu zahlen ist.
Die tariflichen Bestimmungen zusammengenommen trennen damit drei Gruppen von Arbeitszeitregelungen. Für den Objektschutzdienst/Separatwachdienst wird wegen der anfallenden Arbeitsbereitschaft eine zulässige Höchstarbeitszeit von 264 Stunden festgelegt. Für Mitarbeiter im Geldtransportdienst und in kerntechnischen Anlagen ist eine Regelarbeitszeit von 40 Stunden pro Woche bzw. 173 Stunden pro Monat festgelegt. Hierbei ist berücksichtigt, dass im Geldtransportdienst im Gegensatz zum Objektschutzdienst/Separatwachdienst Arbeitsbereitschaft im Regelfall nicht anfällt.
Die differenzierte arbeitszeitrechtliche Behandlung der drei Mitarbeitergruppen im Tarifwerk führt zu der Auslegung, dass diese Dreiteilung in der Protokollnotiz aufgenommen worden ist. Dafür spricht insbesondere die jeweilige Verknüpfung zwischen der Arbeitszeitregelung im MRTV-Bund bzw. im MTV-Niedersachsen mit den jeweiligen Festlegungen in der Protokollnotiz. Die Protokollnotiz legt damit Zuschlagspflicht für Objektschutzdienst/Separatwachdienst ab 265. Monatsarbeitsstunde fest, für den Geld- und Wertdienst wird dagegen die monatliche Regelarbeitszeit nach § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund inhaltlich nur bestätigt.
6. Die Auslegung, dass die Beschränkung der Mehrarbeitszuschlagspflicht auf die 265. Monatsarbeitsstunde nicht für den Geld- und Wertdienst gilt, wird im Übrigen durch die Tarifgeschichte und die Tarifpraxis ab 2006 bestätigt.
Der Vorgängertarifvertrag, der MTV 1997, legte in § 6 eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden fest mit Ausnahmen für den Revierfachdienst und Separatwachdienst. Anspruch auf Mehrarbeitszuschlag bestand bei Überschreitung der festgelegten Arbeitszeit. Zwar ist dieser Tarifvertrag mit Inkrafttreten des MTV-Niedersachsen zum 01.01.2006 abgelöst worden, auf seine Bestimmungen kann damit zur Begründung der Klage nicht zurückgegriffen werden. Die Tarifentwicklung zeigt aber, dass es sich bei der Regelarbeitszeit von 173 Monatsstunden und der Mehrarbeitszuschlagspflicht ab 174. Stunde um einen langjährig erreichten Tarifstandard handelt. Dass ein so tiefgehender Einschnitt wie Verlagerung der Zuschlagspflicht von der 174. Stunde auf die 265. Monatsstunde von den Tarifvertragsparteien am 10.10.2005 gewollt war, erscheint dann aber sehr unwahrscheinlich.
Schließlich ist auf die Tarifpraxis hinzuweisen. In ihren Entgeltübersichten hat der Arbeitgeberverband Bund Deutscher Geld- und Wertdienste e.V. noch 2007, also im zweiten Jahr des Inkrafttretens der hier fraglichen Protokollnotiz, angegeben, dass Überstundenzuschläge ab 174. Stunde zu zahlen sind. Ein Wechsel in der Tarifauslegung ist erst 2008 erfolgt. Daraus folgt, dass ein beteiligter Arbeitgeberverband zumindest ursprünglich selbst nicht der Auffassung war, dass die Protokollnotiz vom 10.10.2005 die Mehrarbeitszuschlagspflicht für den Geld- und Wertdienst regelt.
Insbesondere auf Grund des tariflichen Gesamtzusammenhangs folgt damit, dass in der ersten Protokollnotiz zum MTV-Niedersachsen vom 10.10.2005 keine Regelung der Mehrarbeitszuschlagspflicht für den hier fraglichen Bereich getroffen ist, sondern nur für den Objektschutzdienst/Separatwachdienst.
7. Der Kläger hat den geltend gemachten Mehrarbeitszuschlagsanspruch berechnet auf der Basis einer monatlichen Regelarbeitszeit von 173 Stunden und hat bezogen auf den jeweiligen Monat ab 174. Stunde den Zuschlag begehrt. Diese Berechnung ist korrekt, obwohl § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund nicht eine monatliche Regelarbeitszeit von 173 Stunden festlegt, sondern nur bestimmt, dass diese Regelarbeitszeit im Durchschnitt des Kalenderjahres gilt. § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund ist in Anwendung von § 6 Ziffer 3 MRTV-Bund durch die erste Protokollnotiz zum MTV-Niedersachsen ergänzt und geändert worden. Wenn hier bestimmt ist, dass für Mitarbeiter der Geld- und Wertdienste eine von § 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund abweichende Einteilung der monatlichen Regelarbeitszeit zulässig ist, so kann dies nur bedeuten: die Protokollnotiz bestätigt eine monatliche Regelarbeitszeit von 173 Stunden, ermöglicht abweichende betriebliche Einteilungen der monatlichen Regelarbeitszeit und erklärt im Übrigen die Absicht, Regelungen für ein Jahresarbeitszeitkonto zu treffen. Die Protokollnotiz bestimmt damit als monatliche Regelarbeitszeit 173 Stunden, von der allerdings durch betriebliche Regelungen abgewichen werden kann. Weil solche anderweitigen abweichenden Regelungen hier nicht vorliegen, ist die vom Kläger vorgenommene Berechnung der Mehrarbeit auf Monatsbasis korrekt. Im Gegensatz zur Fallgestaltung, die das BAG (Urteil vom 10.03.2004, 4 AZR 126/03) zum MTV 1997 für Mitarbeiter in kerntechnischen Anlagen zu entscheiden hatte, ist hier durch die erste Protokollnotiz vom 10.10.2005 eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit festgelegt.
8. Weil die Berufung begründet ist und der Kläger Anspruch auf die der Höhe nach unstreitigen geltend gemachten Mehrarbeitszuschläge nach §§ 6 Ziffer 1.5 MRTV-Bund, 8 Ziffer 1 MTV-Niedersachsen hat, war die Beklagte zur Zahlung zu verurteilen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über den Wert des Streitgegenstandes beruht auf § 63 Abs. 2 GKG in Anwendung des § 3 ZPO.
Gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG war die Revision zuzulassen.
Schmitz
Leimbrock