Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.01.2010, Az.: 8 Sa 1068/09 E
Auslegung eines Haustarifvertrags; Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) in der jeweils gültigen Fassung; Direktanspruch auf Lohnerhöhung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 18.01.2010
- Aktenzeichen
- 8 Sa 1068/09 E
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 28851
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2010:0118.8SA1068.09E.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Lüneburg - 01.07.2009 - AZ: 3 Ca 19/09 E
Rechtsgrundlage
- § 611 BGB
Redaktioneller Leitsatz
Die Formulierung
"Der Lohn wird zum 1. Juli eines jeden Jahres entsprechend der zwischen der Gewerkschaft ÖTV und dem VKA vereinbarten Lohnerhöhung angepasst, wenn der Tarifabschluss im ersten Halbjahr wirksam wird. ..."
in einer Norm eines Haustarifvertrages gibt einen direkten Anspruch auf die von den Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes im TVöD vereinbarten Lohnerhöhungen. Das ergibt ihre Auslegung.
In dem Rechtsstreit
Kläger und Berufungsbeklagter,
gegen
Beklagte und Berufungsklägerin,
hat die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2010 durch
die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Stöcke-Muhlack,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Prof. Bertrand,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Benthin
für Recht erkannt:
Tenor:
1) Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 1. Juli 2009 - 3 Ca 19/09 E - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2) Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Ansprüche auf Entgelterhöhung entsprechend den im Jahre 2005 für denöffentlichen Dienst neu abgeschlossenen Tarifverträgen.
Hinsichtlich des Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug sowie der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung, die dieses Vorbringen dort erfahren hat, wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen (Bl. 74 bis 87 d. A.).
Nach Rücknahme der Klaganträge, die auf die Entgelterhöhung für die Zeit vom 30. Januar bis zum 30. Juni 2008 gerichtet waren, hat das Arbeitsgericht durch Urteil vom 1. Juli 2009 der Klage mit den verbleibenden Anträgen stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der TVöD finde kraft tariflicher Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Die in § 1 des Haustarifvertrages vom 12. September 1988 vereinbarte Bezugnahmeklausel, nach der der Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) vom 31. Januar 1962 in der jeweils gültigen Fassung mit den nachstehend aufgeführten Änderungen gelte, sei dahin auszulegen, dass kraft dieser Verweisung nach Ablösung der alten Tarifwerke des öffentlichen Dienstes (und damit auch des BMT-G II) derTVöD auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung finde. Es stehe nicht die Auslegung einer einzelvertraglichen Inbezugnahmeklausel im Streit, sondern die Auslegung des Haustarifvertrages. Die Bezugnahme auf das Tarifwerk einer bestimmten Branche oder eines bestimmten Einzelarbeitgebers könneüber den Wortlaut hinaus nur dann als inhaltsdynamische Verweisung ausgelegt werden, wenn sich dies aus besonderen Umständen ergebe. Inhaltlich sei der TVöD als ein den BMT-G II ersetzender Tarifvertrag anzusehen. Die dynamische Anwendung der Entgeltregelungen des TVöD (VKA) entspreche dem im Haustarifvertrag zum Ausdruck gekommenen Willen der Tarifvertragsparteien sowie dem Sinn und Zweck der in § 1 Nr. 6 des Haustarifvertrages gefundenen Regelung. Auch der Verhandlungsvorbehalt in § 4 stehe der Anwendbarkeit des TVöD nicht entgegen, weil er nur greife, soweit die Änderungen die Ziffern des § 1 berührten, was vorliegend nicht der Fall sei.
Gegen das ihr am 13. Juli 2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10. August 2009 Berufung eingelegt und diese am 4. September 2009 begründet.
Sie hält an ihrer erstinstanzlich vertretenen Auffassung fest und führt aus, die in § 1 Satz 1 des Haustarifvertrages enthaltene Bezugnahmeklausel auf den "BMT-G in der jeweils gültigen Fassung" rechtfertige nicht die Annahme einer (inhaltsdynamischen) Verweisung auf den TVöD. Dagegen spreche bereits der Wortlaut. Üblicherweise werde eine solche Formulierung nur als "zeitdynamische" oder auch als "kleine dynamische Verweisungsklausel" verstanden, denn es fehle der Zusatz "und die diesen ersetzenden Tarifverträge". Die Verweisung beschränke sich damit auf Neufassungen, die die Grundkonzeption des Tarifwerkes unangetastet ließen. Der TVöD sei ein vollständig neues Regelwerk. Er sei keine Fassung des BMT-G II, sondern ein ihn ersetzendes Tarifwerk.
Auch die Systematik spreche gegen die Bezugnahme auf den TVöD, weil der Haustarifvertrag in wesentlichen Punkten Abweichendes vereinbare und nicht pauschal auf den BMT-G II verweise. Die unter § 1 Nr. 6 getroffene Modifikation sei ersichtlich unter der Prämisse erfolgt, dass die Tarifvertragsparteien das Lohngefüge, wie es im BMT-G II zum Ausdruck komme, grundsätzlich für sich gelten lassen wollten. Auch § 4 des Haustarifvertrages stütze die Wertung, man wolle sich ändernden tarifvertraglichen Vereinbarungen der Tarifvertragspartner des BMT-G II nicht blind unterwerfen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 1. Juli 2009 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung vom 28. November 2009, auf deren Inhalt Bezug genommen wird (Bl. 130 bis 133 d. A.).
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien zur Sach- und Rechtslage wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
I. Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist von dieser fristgemäß eingelegt und begründet worden (§ 66 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO). Sie ist damit insgesamt zulässig.
II. Die Berufung ist unbegründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Entgelterhöhung in Höhe von 1.392,60 Euro brutto nebst Zinsen, auf eine Sonderzahlung von 225,00 Euro brutto und auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, das Monatsentgelt beginnend mit dem 1. Juli 2009 um insgesamt 175,71 Euro brutto zu erhöhen.
1. Der Anspruch ergibt sich aus § 2 des Arbeitsvertrages i. V. m. § 1 Nr. 6 des Haustarifvertrages für die Arbeitnehmer der A., die nicht künstlerisch tätig sind.
Dabei kann die Entscheidung der Frage dahinstehen, ob der Haustarifvertrag, der in § 1 auf den Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) vom 31. Januar 1962 in der jeweils gültigen Fassung mit nachstehend aufgeführtenÄnderungen verweist, mit seiner sogenannten "kleinen dynamischen Klausel" auch die Änderungen des TVöD und die in der Anlage zum TVöD/VKA wiedergegebenen Tabelle erfasst oder ob der BMT-G II statisch weiter gilt. Die Auffassung der Beklagten, § 1 des Haustarifvertrages verweise nicht pauschal auf den TVöD, kann als richtig unterstellt und von einer statischen Fortgeltung des BMT-G II ausgegangen werden, denn der Anspruch der Klägerin beruht auf § 1 Nr. 6 des Haustarifvertrages, ohne dass es einer Verweisung auf den TVöD durch die Klausel in § 1 "gilt der BMT-G II in der jeweils gültigen Fassung" bedürfte.
a) Die vertragliche Einbeziehung der Vorschriften des Haustarifvertrages in das Arbeitsverhältnis ist hinreichend bestimmt und begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Hierüber besteht zwischen den Parteien auch kein Streit.
b) Die Regelung des § 1 Nr. 6 des Haustarifvertrages kann nur dahin verstanden werden, dass die von den Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes vereinbarten Lohnerhöhungen weiterzugeben sind. Das ergibt die Auslegung von § 1 Nr. 6 des Haustarifvertrages, der bestimmt:
"Der Lohn wird zum 1. Juli eines jeden Jahres entsprechend der zwischen der Gewerkschaft ÖTV und dem VKA vereinbarten Lohnerhöhung angepasst, wenn der Tarifabschluss im ersten Halbjahr wirksam wird. ..."
c) Bei Anwendung der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für den normativen Teil eines Tarifvertrages geltenden Auslegungsgrundsätze (vgl. für viele BAG v. 23. Februar 2005 - 4 AZR 79/04 - AP § 1 TVG Tarifverträge Verkehrsgewerbe Nr. 12; v. 6. Juli 2006 - 2 AZR 587/05 - NZA 2007, 167) ergibt die Norm des Haustarifvertrages einen direkten Anspruch auf die von den Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes im TVöD vereinbarten Lohnerhöhungen. Ausgehend vom Tarifwortlaut und unter Berücksichtigung des maßgeblichen Sinns der Erklärung und bei Abstellen auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, der Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und den Sinn und Zweck der Tarifnorm zulässt, ergibt sich das gefundene Auslegungsergebnis.
aa) Hierfür spricht schon der Wortlaut der Regelung. So sieht Nr. 6 zu § 20 BMT-G II ausdrücklich vor:
"Der Lohn wird zum ... entsprechend der vereinbarten Lohnerhöhung angepasst...".
Hieraus folgt die uneingeschränkte Zusage einer Lohnanpassung in all den Fällen, in denen sich die Gewerkschaft ÖTV (nunmehr Ver.di) und der Kommunale Arbeitgeberverband (VKA) auf eine Lohnerhöhung verständigt haben. Sie wird nicht davon abhängig gemacht, ob oder inwieweit ein Tarifvertrag fortgelten soll. Sie wird auch nicht an andere Voraussetzungen - wie etwa Inhalte, Wortlaut oder Bezeichnung des Tarifwerkes - geknüpft. Ebenso wenig hängt sie davon ab, ob und inwieweit das neu abgeschlossene Tarifwerk im Übrigen Anwendung findet und den Haustarifvertrag abändert. Die Regelung des Haustarifvertrages spricht von "entsprechender Anpassung der vereinbarten Lohnerhöhung". Die Formulierung "Anpassung" ist auf eine Zahlung ausgerichtet.
bb) Für das gefundene Auslegungsergebnis sprechen auch Sinn und Zweck der Norm. Sie will eine gewisse Gleichbehandlung der in der Vergangenheit unter den Geltungsbereich der Tarifverträge desöffentlichen Dienstes gefallenen Beschäftigten der Beklagten erreichen, deren Arbeitsverhältnisse nach der Privatisierung des Theaters in A-Stadt ausgegliedert worden sind. Eine vollständige Gleichsetzung ist nicht gewollt. Das ist den Worten "entsprechend" und "angepasst" mühelos zu entnehmen. Nur der Zahlungsbeginn ist aus wirtschaftlichen Gründen auf einen späteren Termin verschoben worden.
cc) Des weiteren spricht der tarifliche Gesamtzusammenhang für die gefundene Auslegung. Die Nr. 6 fügt sich mühelos in den§ 20 Abs. 2 BMT-G II ein und führt zu einem sinnvollen Ergebnis.
Vollständig lautet die Norm des § 20 BMT-G II (Lohngrundlagen) mit dem in Nr. 6 vereinbarten Zusatz:
"Abs. 1:
Der Lohn wird nach
d) der Arbeitsleistung, der Art und den besonderen Umständen der Arbeit,
e) dem Dienstalter,
f) dem Lebensalter
gebildet.
Welche dieser Lohngrundlagen zugrunde gelegt werden, wird besonders vereinbart.
Abs. 2: Es werden grundsätzlich Monatslöhne gezahlt. Die Monatstabellenlöhne werden im Monatslohntarifvertrag vereinbart. Der Lohn wird zum 1. Juli eines jeden Jahres entsprechend der zwischen der Gewerkschaft ÖTV und dem VKA vereinbarten Lohnerhöhung angepasst, wenn der Tarifabschluss im ersten Halbjahr wirksam wird. ..."
Bei der Gesamtbetrachtung des § 20 BMT-G II findet sich kein Hinweis darauf, dass der Zusatz zum Abs. 2 Satz 2 ausschließlich nur eine Fälligkeitsregelung darstellen soll, ohne die vereinbarten Lohnerhöhungen weiterzugeben. Vielmehr wird die Anpassung zur Mitte des Jahres zugesagt.
dd) Auch die Praktikabilität spricht für das gefundene Auslegungsergebnis. Die Tarifauslegung führt zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung. Dagegen wäre es im vorliegenden Fall weder zweckorientiert noch sachgerecht, die Beschäftigten von den zwischen der Gewerkschaft und dem Arbeitgeberverband vereinbarten Lohnerhöhungen vollständig auszuschließen.
2. Die Voraussetzungen des § 1 Nr. 6 sind erfüllt. Sowohl die Gewerkschaft als auch der Arbeitgeberverband - beide ausdrücklich in der Nr. 6 des Haustarifvertrages benannt - haben die Lohnerhöhung vereinbart. Die Parteien des Haustarifvertrages für das Theater A-Stadt haben nicht auf einen bestimmten Tarifvertrag abgestellt, sondern ausdrücklich nur auf die Verhandlungspartner; das sind die Gewerkschaft ÖTV und der Kommunale Arbeitgeberverband. Angeknüpft wird an die von diesen Tarifvertragsparteien vereinbarten Lohnerhöhungen. An diese soll der Lohn der Beschäftigten der Beklagten "entsprechend angepasst" werden. Zur Berechnung der Höhe wird auf die zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts Bezug genommen.
3. Der Kläger hat den Anspruch auf den sogenannten Sockelbetrag i. H. v. 50 % ebenso wie auf die Sonderzahlung. Beides ist als "Erhöhung der Entgelte des TVöD" vereinbart worden und als Lohnerhöhung im Sinne der Nr. 6 des Haustarifvertrages anzusehen.
4. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte durch das Urteil verpflichtet worden ist, das Bruttomonatsentgelt beginnend mit dem 1. Juli 2009 im Sinne einer Feststellung und die Sonderzahlung mit einem Feststellungsurteil zu zahlen. Es ist - worauf das Arbeitsgericht bereits hingewiesen hat - davon auszugehen, es sei zu erwarten, dass die Beklagte auch auf ein Feststellungsurteil hin leisten werde, sodass vor diesem Hintergrund eine erneute Inanspruchnahme des Gerichts zur Durchsetzung des Anspruchs ausgeschlossen sei. Die Beklagte hat dies im Berufungsverfahren auch nicht in Frage gestellt.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
IV. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Insbesondere fehlt es an einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, auf der die Entscheidung beruht. Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel daher nicht gegeben.
Bertrand
Benthin