Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.09.2010, Az.: 1 TaBV 52/10

Betriebsrat; Mitbestimmungsrecht

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
28.09.2010
Aktenzeichen
1 TaBV 52/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 47916
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG - 07.07.2010 - AZ: 2 BV 6/10

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es besteht eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle zur Regelung des Termins der Sonderzahlung, wenn später eine tarifliche abschließende Regelung zum Auszahlungszeitpunkt der Sonderzahlung in Kraft tritt.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin und Beteiligten zu 2) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 7. Juli 2010 - 2 BV 6/10 - teilweise abgeändert.

Die Anträge des Beteiligten zu 1) werden insgesamt zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Einigungsstelle mit der Regelungsproblematik "Zahlung einer tariflichen Jahressonderzahlung" vor dem Hintergrund zweier manteltarifvertraglicher Regelungen vom 1. April 2006 und vom 8. März 2010 einzusetzen ist. Der Beteiligte zu 1) ist der bei der Beteiligten zu 2) bestehende Betriebsrat. Die Beteiligte zu 2), die R. GmbH schloss mit der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) unter dem 1. April 2006 einen Manteltarifvertrag, der gem. § 1 räumlich für den Betrieb in B. gelten sollte und in § 14 eine jährliche Sonderzahlung vorsah. Der Zeitpunkt der Fälligkeit dieser Zahlung sollte betrieblich geregelt werden.

§ 22 dieses Manteltarifvertrages bestimmte folgendes:

1) Der Tarifvertrag tritt am 1. April 2006 in Kraft und kann mit einer Frist von einem Monat zum Monatsende schriftlich, erstmals zum 31. Dezember 2010, gekündigt werden. Er ersetzt alle bisherigen tarifvertraglichen Regelungen.

2) Dieser Tarifvertrag nimmt an der weiteren Entwicklung des zwischen der R2 GmbH & Co. KG und der Gewerkschaft ver.di (Bundesvorstand) abgeschlossenen Manteltarifvertrages vom 10. Dezember 2002 im gleichen Umfang und zum gleichen Zeitpunkt teil, soweit der Besitzstandstarifvertrag zwischen ver.di und der R. GmbH vom 1. April 2006 dieses nicht ausdrücklich anders regelt. Die Tarifvertragsparteien werden darauf hinwirken, dass sie an den Tarifverhandlungen in diesem Tarifbereich beteiligt werden.

In der Folgezeit wurden im Betrieb der Beteiligten zu 2) jeweils 50 % der tariflichen Jahressonderzahlung mit der Maiabrechnung ausgezahlt, weitere 50 % 6 Monate später. Der Manteltarifvertrag vom 1. April 2006 wurde bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Anhörung vor dem Beschwerdegericht nicht gekündigt.

Unter dem 8. März 2010 schloss die Firma R. GmbH & Co. KG (RIS) mit der Gewerkschaft ver.di einen Manteltarifvertrag, der gem. § 1 räumlich für die am 1. Januar 2009 bestehenden Betriebe der R. auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelten sollte. In § 15 dieses Manteltarifvertrages, der ab 1. April 2010 in Kraft getreten ist, erfolgte eine umfängliche Regelung zur Höhe der auszukehrenden Jahressonderzahlung. In § 15 Abs. 4 ist folgendes bestimmt:

(4) Der Anspruch auf die Jahressonderzahlung setzt voraus, dass sich der Anspruchsberechtigte am 30. November des jeweiligen Kalenderjahres in ungekündigter Stellung befindet; Arbeitnehmer die nach dem 30. September des laufenden Kalenderjahres eingetreten sind, haben keinen Anspruch. Die Sonderzahlungen werden jeweils mit dem Novembergehalt gezahlt. Anspruchsberechtigte, die am 1. Juni des jeweiligen Kalenderjahres sich mindestens 8 Monate in ungekündigter Stellung befinden, erhalten mit der Entgeltabrechnung für den Monat Juni eine Abschlagszahlung in Höhe von brutto 900,00 € für das Tarifgebiet West und in Höhe von brutto 400,00 € für das Tarifgebiet Ost, die jeweils auf die Jahressonderzahlung zum 30. November des jeweiligen Kalenderjahres angerechnet werden. Teilzeitbeschäftigte erhalten 50 % des Anspruchs auf Jahressonderzahlung gemäß Ziffer 1 als Abschlagszahlung.

In der Tarifkommission zur Verhandlung dieses Manteltarifvertrages saßen auch auf Arbeitnehmerseite Vertreter des Betriebes aus B..

Mit der Abrechnung für Mai 2010 brachte die Beteiligte zu 2) keine Zahlung auf die Jahressonderzahlung an die Mitarbeiter aus. Vielmehr erfolgte mit der Abrechnung für Juni 2010 die Zahlung eines Abschlag an die Mitarbeiter, die die Voraussetzungen des Manteltarifvertrages vom 8. März 2010 erfüllten. Der Betriebsrat und Beteiligte zu 1) rügte gegenüber der Arbeitgeberin und Beteiligten zu 2) den veränderten Zahlungszeitpunkt bezüglich der Jahressonderzahlung und bestand auf der weiteren Anwendung des MTV vom 1. April 2006 (Schr. v. 8. Juli 2010, Bl. 22 f d. A.). Dem widersprach die Beteiligte zu 2) mit Schreiben vom 9. Juli 2010. Da eine Verständigung unter den Beteiligten nicht zu erzielen war, verlangte die Beteiligte zu 1) die Einrichtung einer Einigungsstelle, was letztlich zur Einleitung des vorliegenden Beschlussverfahrens führte.

Das Arbeitsgericht Osnabrück hat mit Beschluss vom 7. Juli 2010 antragsgemäß eine Einigungsstelle mit je 2 Beisitzern unter dem Vorsitz des Direktors des Arbeitsgerichts Lingen Schmedt zur Regelungsthematik "Zahlung der tariflichen Jahressonderzahlung" eingesetzt, indessen die Zahl der Beisitzer auf 2 Beisitzer beschränkt. Es hat in seiner Begründung die Einigungsstelle als nicht offensichtlich unzuständig angesehen, da dies voraussetze, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Frage komme. Davon sei hier nicht auszugehen, denn ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG zum "Zeitpunkt der Auszahlung der Sonderzahlung" sei in Betracht zu ziehen. Welcher Zeitpunkt für die Sonderzahlung einzuhalten sei, entscheide sich nach dem Verhältnis des Hausmanteltarifvertrages aus dem Jahre 2006 zu dem bundesweit geltenden Manteltarifvertrag aus dem Jahre 2010. Bisher sei eine Tarifkonkurrenz nach dem Grundsatz der Spezialität gelöst worden, dieser Weg sei aber nun nach einer Entscheidung des BAG vom9. Dezember 2009 - 4 AZR 190/08 - offen. Eine eindeutige Antwort hierzu könne auch die Tarifauslegung insoweit nicht geben, da die in § 22 Abs. 2 MTV 2006 angesprochene "Teilnahme an der weiteren Entwicklung" nicht gleichzusetzen sei mit einem Regelungsinhalt, wonach jeder den Manteltarifvertrag vom 1. April 2006 nachfolgende Tarifvertrag diesen ablöse. Hiergegen spreche auch die Regelung in § 22 Abs. 1 im Tarifvertrag 2006. Danach könne dieser erstmals zum 31. Dezember 2010 gekündigt werden. Vor diesem Hintergrund sei ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht offensichtlich zu verneinen. Zu den weiteren Entscheidungsgründen und dem Vorbringen der Beteiligten im ersten Rechtszug wird auf den Beschluss des Arbeitsgerichts (Bl. 56 - 65 d. A.) und den Akteninhalt Bezug genommen.

Gegen den ihr am 14. Juli 2010 (Bl. 71 d. A.) zugestellten Beschluss des Arbeitsgerichts Osnabrück hat die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 2) Beschwerde nebst Begründung beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingelegt, dort eingehend am 23. Juli 2010 (Bl. 73 d. A.).

Sie hält den vorliegenden Sachverhalt für keinen Fall der zweifelhaften Auflösung der Tarifkonkurrenz. Es handele sich - anders als das Arbeitsgericht es dargestellt habe - keineswegs um eine komplizierte Rechtslage. § 22 Abs. 2 MTV 2006 gebe eine Regelung für den Fall eines weiteren tarifvertraglichen Abschlusses vor; eine diffizile Auslegung hierzu sei nicht erforderlich. Es bleibe bei der Regel, dass der spätere Tarifvertrag den früheren Tarifvertrag ablöse ("lex posterior"). § 15 des MTV 2010 ersetze den § 14 MTV 2006. Eine Wortlautauslegung zu § 22 Abs. 2 MTV 2006 führe zu einer Ablösung des früheren Tarifvertrages und nicht zu dessen Anpassung an die neuen Verhältnisse. Hintergrund für die tarifliche Regelung in § 22 Abs. 2 MTV 2006 sei gewesen, keine mühsamen Neuverhandlungen notwendig zu machen, sondern dass die Tarifvertragsverhandlungen bei Einbindung der Interessen der Arbeitnehmer in B. eine neue Grundlage schaffen sollten. § 22 Abs. 1 MTV 2006 betreffe nicht die Ablösung sondern den hier nicht eingeschlagenen Weg der Kündigung des Tarifvertrages. Bestehe eine tarifliche Regelung, komme auch ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht in Betracht.

Die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 2) stellt den Antrag

1. den Beschluss des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 7. Juli 2010, Az. 2 BV 6/10 abzuändern,

2. und den Antrag des Beteiligten zu 1) zurückzuweisen.

Der Betriebsrat und Beteiligte zu 1) stellt den Antrag

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er tritt den Rechtsausführungen des Arbeitsgerichts Osnabrück bei und unterstreicht, dass selbst bei unterstellter Unzuständigkeit der Einigungsstelle hier der Maßstab der offensichtlichen Unzuständigkeit nicht erfüllt sei, so dass die Einigungsstelle einzurichten sei.

II.

Die zulässige Beschwerde der Arbeitgeberin ist begründet, sie führt zur Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung, da eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle gegeben ist.

1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend den Maßstab der offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle im Rahmen des Bestellungsverfahrens nach § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG beschrieben. Danach können die Anträge des Betriebsrats zur Einsetzung einer Einigungsstelle nur dann zurückgewiesen werden, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt. (Schwab/Weth/Walker ArbGG 2. Aufl. § 98 Rn. 36 f m. w. N.). Eine offensichtliche Unzuständigkeit kann dabei auch dann bestehen, wenn es eine abschließende tarifliche Regelung i. S. d. § 87 Abs. 1 Einigungssatz BetrVG gibt, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats ausschließt (LAG Köln 17. August 2000 - 6 TaBV 46/00 = BB 2001, 831 = NZA - RR 2001, 481).

2. Danach besteht eine offensichtliche Unzuständigkeit der angerufenen Einigungsstelle, weil die tarifliche Regelung aus dem bundesweit geltenden Manteltarifvertrag vom8. März 2010 in § 15 eine abschließende Regelung nicht nur zur Höhe der tariflichen Sonderzahlung sondern auch zu deren Auszahlungszeitpunkt vornimmt. Insoweit gilt dann der Tarifvorrang nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG.

Ein Fall der Tarifkonkurrenz liegt dagegen nicht vor. § 22 Abs. 2 des MTV 2006 hält mit seiner Regelung, dass der Tarifvertrag an der weiteren tariflichen Entwicklung teilnimmt, dass "Tor" offen für ablösende Regelungen. Eine andere Auslegung ist vom Wortlaut, vom tariflichen Zusammenhang und vom Sinn und Zweck der Tarifnorm her und letztlich auch am Maßstab der Praktikabilität nicht zu erwägen.

Die Kündigungsmöglichkeit des Tarifvertrages zum 31. Dezember 2010 steht einer vorherigen Ablösung durch eine andere tarifliche Regelung (lex posterior) nicht entgegen. Damit wird nur ein anderer Weg zur Beendigung des Tarifvertrages angezeigt. Probleme der Tarifkonkurrenz sowie die Rechtsprechungsänderung zum Grundsatz der Tarifeinheit spielen hier keine Rolle (vgl. BAG 7. Juli 2010 - 4 AZR 549/08 Rn. 33 ff zu § 3 Abs. 2 TVG = EzA SD 2010, Nr. 17, 12 - 16), da hier zeitlich eine Betriebsnorm mit Öffnungsklausel durch eine andere ohne Öffnungsklausel ersetzt worden ist. Ein Spielraum für betriebliche Regelungen besteht deshalb ab dem 1. April 2010 nicht mehr. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG kommen daher nicht zum Tragen.

3. Danach waren die Anträge insgesamt zurückzuweisen. Eine Kostenentscheidung ist nach § 2 Abs. 2 GKG nicht zu treffen, da das Beschlussverfahren gerichtskostenfrei ist.

Gegen diese Entscheidung ist nach § 98 ArbGG ein Rechtsmittel nicht gegeben.