Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.03.2021, Az.: 9 LB 129/19

Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund vermeintlicher Gruppenverfolgung von Yeziden in Tilkaif; Kein alleiniges Abstellen auf die Opferzahlen orientierte Lageeinschätzung bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
11.03.2021
Aktenzeichen
9 LB 129/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 14373
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 22.02.2018

Fundstellen

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif der Provinz Ninive i. S. d. § 3 AsylG ist derzeit weiterhin nicht beachtlich wahrscheinlich.

  2. 2.

    In dem Distrikt Tilkaif besteht keine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

  3. 3.

    Die vom Bundesverwaltungsgericht etablierte und hier geteilte Rechtsprechung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nimmt eine allein an Opferzahlen orientierte Lageeinschätzung nicht vor. Vielmehr kommt es auf eine wertende, abschließende Gesamtbetrachtung der Gesamtsituation an (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 21).

  4. 4.

    Die humanitären Verhältnisse in der Autonomen Region Kurdistan-Irak begründen auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie für yezidische Einzelpersonen oder für yezidische Familien mit minderjährigen Kindern nicht generell einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2018 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 6. Kammer - geändert und die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 17. März 1987 in Sina (Provinz Dohuk, Distrikt Semel) geborene Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzstatus sowie weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

Er ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Den Irak verließ er nach eigenen Angaben auf dem Landweg über die Türkei sowie weitere, nicht näher benannte Länder und reiste am 16. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 29. Februar 2016 einen Asylantrag stellte.

Nachdem der Kläger am 22. Oktober 2016 zunächst Untätigkeitsklage gegen die Beklagte beim Verwaltungsgericht Göttingen erhoben hatte, das sich mit Beschluss vom 9. November 2016 für örtlich unzuständig erklärte und die Sache an das Verwaltungsgericht Hannover verwies, hörte ihn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 11. Januar 2017 persönlich an. Dabei erklärte er, er habe vor seiner Ausreise seit etwa 1995 in der Ortschaft Babire (Provinz Ninive) gelebt, wo er auch geheiratet habe. Im Januar 2014 hätten seine Ehefrau und er eine gemeinsame Tochter bekommen, die ebenfalls in Babire geboren sei. In Babire habe er ein eigenes Geschäft mit dem Einbau von Fenstern und Türen gehabt. Seiner Familie sei es finanziell gut gegangen. Nach dem Überfall des sog. Islamischen Staats (im Folgenden: IS) 2014 auf Sindjar sei er mit seiner Ehefrau und seiner Tochter an die türkische Grenze geflohen, die aber geschlossen gewesen sei. Sie hätten sich daraufhin für eine gewisse Zeit in einer Bauruine in Dohuk aufgehalten, bevor er allein über die Türkei hätte ausreisen können. Seine Ehefrau und seine Tochter seien nicht mitgekommen, da sie die Ausreise für zu gefährlich gehalten hätten. Später hätten sie sich jedoch ebenfalls auf den Weg nach Deutschland gemacht. Im Irak hätten sie Angst um ihre Sicherheit gehabt. Ihnen selbst sei vor der Ausreise nichts passiert. Er - der Kläger - sei aber wegen seines Glaubens mehrfach beschimpft und beleidigt worden.

Mit Bescheid vom 15. Mai 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung nach Irak wurde angedroht, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Kläger habe nicht substantiiert vorgetragen, dass er im Irak individuellen Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes ausgesetzt gewesen sei. Auch die Gefahr einer Gruppenverfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit des Klägers könne nicht angenommen werden. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger mit seiner Familie vor der Ausreise nicht in der Provinz Ninive, sondern in der Provinz Dohuk (Kurdistan-Irak) gelebt habe, da die eingereichten Personaldokumente dort ausgestellt worden seien. Auch seine Tochter sei dort geboren. Dies habe der Kläger bei der ersten Frage, ob er Kinder habe, angegeben. Erst auf Nachfrage habe er behauptet, der Geburtsort sei Babire, und dass in Dohuk (Semel) seine Tochter lediglich registriert worden sei. Erkenntnisse, dass Personen yezidischen Glaubens in der Region Kurdistan-Irak einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure, insbesondere den IS, ausgesetzt seien, lägen nicht vor. Die Sicherheits- oder allgemeine Gefahrenlage in Kurdistan rechtfertige darüber hinaus weder die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Letztlich habe der Kläger auch keine individuellen Gefahren i. S. d. § 70 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorgebracht, die ein Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift rechtfertigen könnten.

Der Kläger hat gegen den Bescheid am 22. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger insbesondere vorgebracht, zur Beurteilung der Frage nach dem Vorliegen einer Verfolgungslage sei auf die Provinz Ninive abzustellen, da er aus dieser ausgereist sei. Soweit das Bundesamt zur Begründung seiner entgegenstehenden Auffassung auf den Ausstellungsort der Personaldokumente abstelle, weise er darauf hin, dass es nicht unüblich sei, dass sich kurdische Yeziden in der Provinz Dohuk die persönlichen Papiere ausstellen ließen. Aufgrund der geringen Entfernung und des Umstands, dass man in Dohuk die kurdische Sprache spreche, sei dies günstiger, als für die Ausstellung der Dokumente nach Mossul zu reisen. Zudem sei es für Yeziden schon immer gefährlich gewesen, sich für Behördengänge nach Mossul zu begeben.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Mai 2017 zu verpflichten,

  1. 1.

    ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

  2. 2.

    hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

  3. 3.

    hilfsweise, das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des benannten Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe seine ursprünglich erhobene Untätigkeitsklage zulässigerweise um die Klage gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten erweitert. Dieser verletze ihn in seinen Rechten, weil er einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe. Der Kläger habe zwar nicht dargelegt, dass ihm im Falle der Rückkehr in den Irak aus individuellen, nur in seiner Person liegenden Gründen in Anknüpfung an eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgung drohe. Er habe insbesondere nicht behauptet, aus derartigen Gründen sein Heimatland Irak verlassen zu haben. Jedoch sei er als Angehöriger der yezidischen Glaubensgemeinschaft in seiner Herkunftsprovinz Ninive mit der Provinzhauptstadt Mossul weiterhin und damit auch im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) der Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seine yezidische Religionszugehörigkeit ausgesetzt. Der Kläger habe Anfang August 2014 und damit unmittelbar vor dem Einmarsch der Kampftruppen des IS in die Provinz Ninive in dem Ort Babire gelebt. Es stehe aufgrund der glaubhaften Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger tatsächlich aus dieser Ortschaft stamme. So habe der Kläger zum einen substantiiert und detailliert geschildert, wie er zunächst im Haus seines Vaters in Babire gewohnt und sodann nach Familiengründung ein eigenes Haus bezogen habe. Er sei zudem in der Lage gewesen, die anderen drei Dörfer zu benennen, welche gemeinsam mit Babire den Ort Mujama Al-Risala bildeten. Ferner habe er es vermocht, größere Städte und Sehenswürdigkeiten in der Nähe von Babire zu benennen. Des Weiteren spreche für die Herkunft des Klägers aus Babire, dass er in der mündlichen Verhandlung eine ausführliche Bescheinigung des Büros des geistlichen Oberhaupts der Yeziden vom 18. Februar 2018 vorgelegt habe, der zufolge er Yezide sei und aus Babire stamme.

Obgleich das Dorf formal in der Provinz Ninive zu verorten sei, liege es einem Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien zufolge auf de jure kurdisch verwaltetem Gebiet. Hierunter verstehe man all diejenigen Gebiete, die am 19. März 2003, d. h. dem Zeitpunkt des Einmarsches der alliierten Truppen in den Irak, von den damals noch zwei kurdischen Regionalregierungen kontrolliert worden seien. In Artikel 53 der irakischen Übergangsverfassung, der auch nach Verabschiedung der endgültigen Verfassung nach wie vor in Kraft sei, werde die inzwischen vereinigte Kurdische Regionalregierung explizit als diejenige Regierung anerkannt, die dieses Gebiet, welches sich aus Teilen der Provinzen Dohuk, Erbil, Suleymaniya, Diyala und Ninive zusammensetze, rechtmäßig verwalte. Vor diesem Hintergrund stehe auch der Umstand, dass verschiedene Personaldokumente des Klägers in Dohuk bzw. Semel ausgestellt worden seien, der Glaubhaftigkeit seines Vortrags nicht entgegen. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung nunmehr wiederum angegeben habe, seine Tochter sei in Dohuk geboren, habe er nachvollziehbar damit erklärt, dass es in Babire kein Krankenhaus mit Entbindungsstation gebe.

Zur Überzeugung des Einzelrichters stehe aufgrund der in der mündlichen Verhandlung ausgewerteten Erkenntnismittel weiterhin fest, dass Babire tatsächlich Anfang August 2014 von Kämpfern des IS überrannt und eingenommen worden sei. Der Umstand, dass die kurdische Regionalregierung formal die Sicherheitshoheit über den Ort gehabt habe, führe hier zu keinem anderen Ergebnis, da anders als in der Provinz Dohuk selbst kein wirksamer Schutz gewährleistet worden sei. Der IS habe seinen Angriff von Beginn an aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auf die Yeziden fokussiert und systematisch ihre Vernichtung angestrebt.

Es lägen ferner keine stichhaltigen Gründe vor, welche aus der Sicht des Einzelrichters die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak keinen religiös motivierten Verfolgungsmaßnahmen mehr ausgesetzt sein werde. Zwar stehe die Region um Sindjar nicht mehr unter der Kontrolle des IS. Dies reiche aber im Hinblick auf die massiven Rechtsgutverletzungen, die den Yeziden durch Angehörige des IS drohten, nicht aus, um die aus Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie abzuleitende Vermutung einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr hinreichend zu entkräften. Die Verhältnisse in der Provinz Ninive hätten sich noch nicht so stabilisiert, dass eine Wiederholung religiös motivierter Verfolgungshandlungen gegenüber Yeziden hinreichend sicher ausgeschlossen werden könne. Dass Regierung und Staat den Schutz der Minderheiten und damit auch der Yeziden nicht hinreichend sicherstellen könnten, habe das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht bestätigt.

Der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes stehe auch nicht die Bestimmung des § 3e Abs. 1 AsylG entgegen. Die Voraussetzungen dieser Norm seien in Ansehung des Klägers nicht erfüllt. Insbesondere die Flüchtlingslager im Nordirak stellten keine interne Schutzmöglichkeit dar.

Auf den Antrag der Beklagten hat der Senat die Berufung gegen das angefochtene Urteil mit Beschluss vom 1. Februar 2019 - 9 LA 21/19 - wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Die Beklagte führt zur Begründung der Berufung aus, dass in der Provinz Ninive zumindest seit der Zurückdrängung des IS im Juli 2017 keine Verfolgung der Gruppe der Yeziden stattfinde. Das Bedrohungspotenzial durch den IS sei dort als vergleichsweise gering einzuschätzen. Dies gelte auch für die Gebiete des Sindjar, in denen Yeziden angesiedelt seien. Eine (verfassungs-)rechtliche Diskriminierung von Yeziden bestehe im Irak nicht. Als offiziell anerkannte Minderheit gelten für sie in der irakischen Verfassung verbriefte Minderheitenrechte. Hierzu zähle auch ein Sitz im irakischen Parlament. Die Sicherheitslage im Land nach dem territorialen Sieg über den IS habe sich merklich verbessert. Außerdem gebe es in der Stadt Dohuk, nahe des yezidischen Heiligtums Lalesh, sehr viele Yeziden, die dort weitgehend ohne Unterdrückung oder Verfolgung lebten. Ebenso verhalte es sich in der Region Kurdistan-Irak. Die Region Kurdistan-Irak betrachte Yeziden als Kurden, sie würden dort nicht aus religiösen Gründen verfolgt. Auch in den zentral- und südirakischen Provinzen gebe es keine Hinweise auf Gruppenverfolgungen von Yeziden. Ein Großteil der vor dem IS geflohenen Yeziden habe in der Region Kurdistan-Irak Zuflucht gefunden. Derzeit stelle sich die Sicherheitslage dort weitgehend ruhig und stabil dar.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 22. Februar 2018 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist zunächst auf seinen erstinstanzlichen Vortrag und vertieft diesen. Entgegen der Auffassung der Beklagten führe der Umstand, dass der IS in der Fläche besiegt sei, nicht zu der Annahme, dass von diesem keine Gefahr für Yeziden mehr ausgehe. Vielmehr sei verstärkt mit der Durchführung einer asymmetrischen Kriegsführung mittels verstärkter terroristischer Aktivitäten seitens des IS zu rechnen. Er formiere sich im Untergrund derzeit neu. Seit dem Unabhängigkeitsreferendum der Region Kurdistan-Irak befänden sich die umstrittenen kurdischen Gebiete nicht mehr unter der Kontrolle der Peschmerga, sondern von Truppen der irakischen Zentralregierung einschließlich schiitischer Milizen. Diese seien nicht in der Lage, Yeziden vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Die Region komme daher als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Jedenfalls aber habe er Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes oder auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten. Die Lage der Menschenrechte verschlechtere sich im Irak weiter. Immer wieder komme es zu militärischen Einsätzen der irakischen Armee gegen die Peschmerga, bei denen auch Zivilisten getötet würden. Außerdem habe die Türkei eine Offensive gegen die kurdische Miliz YPG in Nordwestsyrien gestartet und wolle den Einsatz auf weitere Landesteile bis an die irakische Grenze ausweiten. Parallel zur Offensive in Syrien bombardiere die Türkei Stellungen der PKK im Nordirak. Letztlich seien die besonderen Umstände zu berücksichtigen, die die Corona-Pandemie mit sich bringe. In deren Schatten häuften sich seit April/Mai 2020 nächtliche Überfälle, Sprengfallen, Entführungen, falsche Straßensperren und Selbstmordattentate. So nutze der IS die Krise, um seinen Guerillakrieg massiv auszuweiten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat trifft diese Entscheidung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss (§ 130a Satz 1 VwGO), weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Das Einverständnis der Beteiligten ist nach den gesetzlichen Bestimmungen hierfür nicht erforderlich.

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern und die Klage abzuweisen. Die zulässige Klage ist unbegründet, weil der Senat, anders als das Verwaltungsgericht, zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Kläger im für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) auf Grundlage der in diesem Zeitpunkt vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.4.2018 - 2 BvR 2435/17 - juris Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 - 10 C 13.12 - juris Rn. 9) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz hat (II.) und auch kein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG besteht (III.).

I. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i. S. d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG; vgl. auch Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337/9), im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU, sowie EuGH, Urteil vom 25.1.2018 - C-473/16 - juris Rn. 31).

Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 34). Nach § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2) und unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3).

Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. innerstaatliche Fluchtalternative). Zu berücksichtigen sind insoweit die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG). Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen (§ 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 19). Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung" des zugrunde liegenden Art. 2 Buchstabe d der Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung von Verletzungen des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 32; dazu näher VGH BW, Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - juris Rn. 31 ff.).

Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37).

Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15.8.2017 - 1 B 123.17 u. a. - juris Rn. 8; vom 11.7.2017 - 1 B 116.17 u. a. - juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerfG, Beschluss vom 2.7.1980 - 1 BvR 147/80 - juris Rn. 52; dem folgend BVerwG, Urteil vom 31.3.1981 - 9 C 237.80 - juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - 9 C 9.96 - juris Rn. 17), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1997, a. a. O., Rn. 14). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.1982 - 9 C 308.81 - juris Rn. 9). Die Vorschrift privilegiert daher den Vorverfolgten bzw. Geschädigten: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten mithin nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind.

Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 23 zu Art. 4 Abs. 4 der Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304/12), im Folgenden: Richtlinie 2004/83/EG). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a.a.O., Rn. 23). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32.11 - juris Rn. 7).

Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Diese Überzeugungsbildung ist aufgrund der Tatsache, dass unabhängige und gesicherte Informationen vielfach fehlen und die verschiedenen Akteure, auf deren Informationen die Gerichte angewiesen sind, sehr unterschiedliche Interessen verfolgen, erheblich erschwert (vgl. NdsOVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rn. 37 ff.; VGH BW, Urteil vom 2.5.2017 - A 11 S 562/17 - juris Rn. 33 ff.). Deshalb bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen auch zur allgemeinen Lage im Herkunftsland. Besonderes Gewicht ist den Berichten des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28. Juli 1951 und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 10 Abs. 3 Satz 2 b) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180/60); vgl. EuGH, Urteil vom 30.5.2013 - C-528/11 [Zuheyr Frayeh Halaf] - juris Rn. 44). Gewisse Prognoseunsicherheiten sind dabei als unvermeidlich hinzunehmen und stehen der Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen kann trotz alledem aber nicht verzichtet werden. Die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit kann nicht auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden.

Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt nicht schon dann in Betracht, wenn eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht, sondern in der Gesamtsicht der vorliegenden Erkenntnisse lediglich ausreichende Anhaltpunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie die andere Richtung vorliegen, also eine Situation besteht, die einem non-liquet vergleichbar ist (so aber OVG MV, Urteil vom 21.3.2018 - 2 L 238/13 - juris Rn. 41). Die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers. Kann nicht festgestellt werden, dass einem Ausländer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus (siehe zu Vorstehendem insgesamt das Urteil des Senats vom 7.8.2019 - 9 LB 154/19 - juris Rn. 28 ff.; vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.8.2017, a. a. O., Rn. 8; OVG SH, Urteil vom 10.10.2018 - 2 LB 67/18 - juris Rn. 25; OVG NRW, Urteil vom 3.9.2018 - 14 A 837/18.A - juris Rn. 63 ff.).

Nach diesen Maßgaben besteht für den Kläger im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) bei einer Rückkehr in den Irak keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen. Der Kläger hat keine anlassgeprägte Einzelverfolgung geltend gemacht (dazu unter 1.). Er kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif (dazu unter 2.) oder eine individuelle Verfolgung wegen seiner yezidischen Gruppenzugehörigkeit (dazu unter 3.) berufen.

1. Eine ausschließlich an individuelle, in der Person des Klägers liegende Umstände anknüpfende Verfolgungsgefahr (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung) lässt sich seinem Vortrag nicht entnehmen. So hat er im Rahmen seiner Anhörungen vor dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht zu seinem Verfolgungsschicksal ausdrücklich angegeben, dass ihm persönlich nichts passiert sei. Soweit er daneben ohne weitere Konkretisierung vorgetragen hat, er sei wegen seines Glaubens beschimpft und beleidigt worden, reicht dies offensichtlich nicht aus, um das Vorliegen von Verfolgungshandlungen i. S. d. § 3a AsylG annehmen zu können.

2. Allein die Zugehörigkeit des Klägers zu der Glaubensgemeinschaft der Yeziden lässt seine Verfolgung in Anknüpfung an ein Merkmal i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei seiner Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen.

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13 ff.; Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 - juris Rn. 18).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 - juris Rn. 24).

Dabei ist es nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vorgenommen werden. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden. Diese Maßstäbe zur Feststellung einer Gruppenverfolgung gelten auch dann, wenn den Betroffenen schwere Gefahren, insbesondere Gefahren für Leib und Leben drohen. Das Ausmaß der drohenden Gefahr ist in die Bewertung einzubeziehen, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist. Diese Bewertung setzt als Grundlage jedoch Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppenverfolgung voraus, die alle Möglichkeiten der Tatsachenermittlung ausschöpfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 19).

Einen Verzicht auf eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung ausreichen kann, dass derartige Übergriffe "an der Tagesordnung" sind (etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136.96 - juris Rn. 2). Hierbei handelt es sich indes nicht um einen anderen rechtlichen Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte, sondern um eine erleichterte Tatsachenfeststellung im Einzelfall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.12.2002 - 1 B 42.02 - juris Rn. 5 und Beschluss vom 11.11.1999 - 9 B 563.99 - juris Rn. 3 f.).

Die vorgenannten Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 14; Urteil vom 18.7.2006, a. a. O., Rn. 21).

Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a. a. O., Rn. 20).

An den in Bezug auf das Asylgrundrecht für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2011/95/EU hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 als auch der Richtlinie 2011/95/EU in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU und die flüchtlingserheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU definiert. Auch dem - allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen - Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (- C-465/07 [Elgafaji] - juris Rn. 43) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchstabe c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 16 zu der insoweit nahezu wortgleichen Richtlinie 2004/83/EG; offen gelassen im Beschluss vom 24.2.2015 - 1 B 31.14 - juris Rn. 5).

Der Senat ist unter Berücksichtigung dieses Maßstabes aufgrund der im für die Bewertung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Herkunftsregion des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich ist (siehe bereits das Urteil des Senats vom 7.8.2019, a. a. O., Rn. 49 ff.). Er geht dabei zugunsten des Klägers von dessen eigenem Vortrag aus, nämlich, dass er zuletzt tatsächlich in Babire gelebt hat und dass dieser Ort der Provinz Ninive zuzuordnen ist. Nach der Beschreibung der örtlichen Gegebenheiten des Ortes durch den Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht (Nähe zu Tel Keyf, Khatrae, Mossul, dem Mossul-Staudamm, dem Badrike Checkpoint sowie Alkosh), der Verzeichnung des Ortes beim Kartendienst Google Maps sowie nach den Angaben bei Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Babira) liegt der Ort im Distrikt Tilkaif (siehe auch den Beschluss des Senats vom 30.9.2019 - 9 LA 94/19 - n. v.). Auch das Verwaltungsgericht hat bei der Frage nach dem Vorliegen einer Gruppenverfolgung letztlich auf die für diese Region heranzuziehenden tatsächlichen Maßstäbe abgestellt, obgleich es ausgeführt hat, dass Babire de jure unter Kontrolle der Provinz Dohuk stehe (S. 10 des Urteilsabdrucks - UA). Die Sicherheitslage in Tilkaif ist - wie in den anderen Landesteilen Iraks - tendenziell schlechter als in den Provinzen Kurdistan-Iraks (siehe ausführlich das Urteil des Senats vom 13.8.2019 - 9 LB 147/19 - juris Rn. 57 ff.), zu denen Dohuk gehört und auf deren Situation das Bundesamt maßgeblich abgestellt hat. Hat der Berufungsantrag aber unter Zugrundelegung des klägerischen erstinstanzlichen Vorbringens Erfolg, kommt es auf die Frage, ob das Verwaltungsgericht die Provinz Dohuk hätte in den Blick nehmen müssen, nicht mehr an.

In dem Distrikt Tilkaif sind derzeit Verfolgungshandlungen durch den irakischen Zentralstaat (dazu unter a.), den IS (dazu unter b.) oder sonstige Akteure (dazu unter c.) nicht zu erwarten.

a. Eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch den irakischen Zentralstaat wegen deren Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt (so bereits Urteil des Senats vom 30.7.2019 - 9 LB 133/19 - juris Rn. 61 - 67).

Der Begriff "Religion" i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

Wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung i. S. d. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU zu erfüllen, hängt von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten ab. Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere erreicht sein, wenn einem Antragsteller durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 28). Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der (positiven) Religionsfreiheit hat das Bundesverwaltungsgericht den Umstand angesehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.8.2015 - 1 B 40.15 - juris Rn. 11; Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 29). Dies setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste. Die konkrete Glaubenspraxis muss aber für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 30).

Anhaltspunkte für eine unzumutbare und die Annahme einer Verfolgung i. S. d. § 3a AsylG rechtfertigende Beeinträchtigung der Religionsausübung der Yeziden durch den irakischen Zentralstaat bestehen nach diesen Maßstäben nicht.

Die yezidische Religion ist eine monotheistische Religion, nach der Gott allmächtig ist und die Welt erschaffen hat. Ihm untergeordnet sind die sieben Engel und die yezidischen Heiligen. Seit dem 11. Jahrhundert gibt es innerhalb der Yeziden verschiedene Kasten, die nach dem Tod des yezidischen Reformators Sheik Adi eingeführt wurden und in die jeder Yezide hineingeboren wird. Es gibt die Laien ("Murid") und die Geistlichen, die sich wiederum in die Gruppe der "Sheikh" und der "Pir" unterteilen. Jeder Sheik- und Pir-Familie sind von Geburt an Muriden zugeordnet. Die Geistlichen haben die Funktion, die Laien zu betreuen und in der religiösen Lehre zu unterweisen. Man muss als Yezide geboren werden, eine Konversion zur yezidischen Religion ist nicht möglich. Zudem dürfen Yeziden nur innerhalb der Religionsgemeinschaft heiraten, andernfalls werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das Lalish-Tal mit mehreren Grabstätten und Heiligtümern ist der heiligste Ort für Yeziden. Dort befindet sich das wichtigste religiöse Zentrum der yezidischen Glaubensgemeinschaft. Jedes Jahr finden dort religiöse Feste und Zeremonien statt. Ziel eines jeden Yeziden sollte es sein, nach Lalish zu pilgern. Für fundamentalistische und strenggläubige Muslime sind sie eine abtrünnige Sekte und werden als Ungläubige oder Teufelsanbeter angesehen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 17 - 19).

Die Verfassung des irakischen Zentralstaates erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Iraks fest und betont zugleich den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. die Abkehr vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze, fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Yeziden, Sabäer, Schabak und Fayli Kurden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S.12).

Es ist zudem keine staatliche Behinderung der tatsächlichen Religionsausübung für Yeziden - die ausschließlich im Privatbereich erfolgt, da die religiösen Rituale der Yeziden nicht vor Personen, die nicht der Glaubensgemeinschaft angehören, praktiziert werden dürfen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 19) - ersichtlich. Zwar ist die irakische Gesellschaft nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräueltaten gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.1.2019, S.12). Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet seit dem Sturz Saddam Husseins jedoch nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S.12; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 74;). Vielmehr mischt sich der irakische Zentralstaat generell nicht in religiöse Angelegenheiten ein, sondern sorgt für den Schutz religiöser Stätten und Einrichtungen sowie die Sicherheit auf Pilgerwegen (vgl. USDOS, 2019 Report on International Religious Freedom: Iraq, 10.6.2020, S. 5 des Ausdrucks). Einige Gemeindevorsteher der Yeziden bemängeln, dass bei der durch IS-Kämpfer erfolgten Vergewaltigung von Yezidinnen gezeugte Kinder als Muslime registriert worden seien (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S. 12; USDOS, 2019 Report on International Religious Freedom: Iraq, 10.6.2020, S. 5 des Ausdrucks). Auf der anderen Seite haben Anführer der yezidischen Religionsgemeinschaft angekündigt, dass verschleppte Yezidinnen zwar von ihren Gemeinschaften wieder aufgenommen und ohne Scham reintegriert werden sollen, dass dies aber nicht für ihre in IS-Gefangenschaft geborenen Kinder gelte, sodass für diese die Gefahr besteht, ausgesetzt zu werden (ausführlich hierzu: Amnesty International, Legacy of Terror, The Phlight of Yezidi Child Survivors of ISIS, Juli 2020, S. 40 ff.; siehe daneben etwa auch United Nations Human Rights Council, Visit to Iraq - Report of the Special Rapporteur on the human rights of internally displaced persons, 13.5.2020, S. 11; Spiegel Online, Irak, Jesiden verweigern Kindern von IS-Überlebenden die Aufnahme, 28.4.2019).

b. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif i. S. d. § 3 AsylG durch die Terrormiliz IS ist derzeit ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.

aa) Dies gilt selbst dann, wenn man mit dem Verwaltungsgericht (S. 8 UA) annimmt, dass der Kläger angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung, insbesondere im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 69 ff.), bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak - auch als Yezide aus dem Distrikt Tilkaif - von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen ist. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, wäre im Fall des Klägers widerlegt.

Es sprechen nach der Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wäre. Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die (zumindest) im Distrikt Sindjar durch Mitglieder des IS erfolgten, wurden erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Seitdem haben sich die Machtverhältnisse im Irak aber grundlegend geändert. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak nahezu vollständig verloren (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter https://isis.liveuamap.com/). Er hält dort kein Territorium mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 m. w. N.). Es bestehen derzeit auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, den Distrikt Tilkaif zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden, wie zum damaligen Zeitpunkt (zumindest) im Sindjar, flächendeckend zu verfolgen (so bereits das Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 71 - 79; siehe hierzu auch die nachfolgend beschriebenen aktuellen Verhältnisse).

bb) Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Tilkaif, da es dort an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. Die gebotene Relationsbetrachtung zwischen der Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerungsgruppe und der Anzahl sowie des Gewichts der Verfolgungsmaßnahmen i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG ergibt bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen. Selbst wenn man davon ausginge, die wegen einer (unterstellten) Gruppenverfolgung der Yeziden durch den IS vor der Ausreise des Klägers angenommene Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU griffe unabhängig vom Bestehen der territorialen Herrschaft des IS in der Provinz Ninive ein, führte dies zu keinem anderen Ergebnis, da die tatsächliche Vermutung einer begründeten Verfolgungsfurcht aufgrund der nachfolgend dargelegten Umstände durch stichhaltige Gründe widerlegt wäre.

(a) Auf die genaue Ermittlung der im Distrikt Tilkaif aktuell lebenden Yeziden kommt es für die gebotene Relationsbetrachtung - anders als im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O, Rn. 81 ff.) - nicht an, da der Senat für den Betrachtungszeitraum bereits nur wenige in die Bewertung einzustellenden Referenzfälle zu erkennen vermag, die dieser Bevölkerungszahl gegenüberzustellen wären (Urteil des Senats vom 7.8.2019, a. a. O., Rn. 55 ff.).

In die gebotene Relationsbetrachtung sind die in Anknüpfung an ihre religiöse bzw. ethnische Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe gegen Yeziden gerichteten Verfolgungshandlungen im Distrikt Tilkaif einzustellen. Für die Relationsbetrachtung wird dabei auf den Zeitraum ab 2018 abgestellt, da sich die Ausgangslage für die Yeziden im Nordirak mit dem militärischen Sieg der Allianz gegen den IS im Irak Ende 2017 grundlegend geändert und sich die Organisation seitdem von einer territorialen Herrschaftsmacht zu einer aus dem Untergrund operierenden, sich auf Guerilla-Taktik konzentrierenden Gruppe entwickelt hat.

Für diesen Zeitraum ergeben sich aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln keine die vorgenannten Anforderungen erfüllenden Vorfälle.

So gehen zunächst alle Quellen übereinstimmend davon aus, dass seit der Beendigung der territorialen Kontrolle des IS im Irak insgesamt eine kontinuierliche Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage im gesamten Staat und auch in der Provinz Ninive eingetreten ist (vgl. dazu ausführlich Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 95 - 102).

Bei einer genaueren und aktualisierten Betrachtung des Distrikts Tilkaif zeigt sich, dass sich die dortige Sicherheitslage im landesweiten Vergleich nochmals als deutlich besser darstellt. Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), das angibt, konservative Schätzungen zu verwenden, erfasst einzelne sicherheitsrelevante Vorfälle im Irak mit Angabe des Ortes, an dem sich der Vorfall ereignet hat. Nach dem im Internet in Form einer Excel-Tabelle abrufbaren Datensatz (https://www.acleddata.com/data/; abgerufen am 1.3.2021) fanden im Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis zum 28. Februar 2021 von den 13.602 dort aufgelisteten sicherheitsrelevanten Vorfällen 817 in der Provinz Ninive, aber gerade einmal elf im Distrikt Tilkaif statt (vgl. zur örtlichen Verteilung der Vorfälle in der Provinz Ninive auch die graphische Darstellung beim European Asylum Support Office [EASO], Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 132).

In keinem der dort erfassten Vorfälle ist von einer zielgerichteten Tötung bzw. Verletzung eines Yeziden durch Mitglieder oder Sympathisanten des IS die Rede. Allerdings wurde am 4. Oktober 2020 ein Yezide in Biban von nicht identifizierten Männern erschossen. Der Grund hierfür konnte nicht ermittelt werden, das Opfer engagierte sich jedoch für Yeziden, die dem IS entkommen konnten. Im Übrigen zeigen die Berichte, dass sich die Aktivitäten bewaffneter oppositioneller Gruppierungen, wie des IS, in der Region primär gegen staatliche Einrichtungen richten, bei denen Zivilisten allenfalls Zufallsopfer sind. So wird von einem zielgerichtet gegen Sicherheitskräfte eingesetzten Sprengsatz am 19. Mai 2018 berichtet, bei dessen Detonation drei Zivilisten verletzt worden sind. Durch gegen Polizeistreifen eingesetzte Bomben wurden am 27. November 2018 drei und um den 30. Dezember 2019 zwei Zivilisten verletzt. Am 3. März 2020 verletzte ein Sprengsatz, dessen Anschlagsziel unklar ist, ebenfalls zwei Zivilisten. Den Angaben lässt sich nicht entnehmen, dass es sich um Aktivitäten des IS gehandelt hat, vielmehr wird der Akteur jeweils als nicht identifizierte bewaffnete Gruppierung bezeichnet. Am 9. Oktober 2020 indes stürmten Anhänger des IS das Haus des Ortsvorstehers (Mukthar) des Dorfes Deir und erschossen dessen Sohn. Ob sich unter den vorgenannten Opfern Yeziden befanden, ergibt sich aus den Daten nicht.

In dem gesamten Betrachtungszeitraum von über drei Jahren wird lediglich bei zwei Vorfällen von einer zielgerichteten Handlung gegen Zivilisten ausgegangen. Am 3. Februar 2018 sollen zwölf Personen, überwiegend Studenten, von Volksmobilisierungseinheiten entführt worden sein. Der Hintergrund hierfür ist unklar. Am 7. September 2018 starb eine sechsköpfige Familie aufgrund einer womöglich durch den IS an ihrem Wohnhaus angebrachten Sprengfalle, als sie nach der Flucht in ihren Heimatort zurückgekehrt waren. Weitere als die bereits benannten zivilen Todesopfer enthalten die statistischen Erfassungen von ACLED seit Januar 2018 nicht.

Auch sonst ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass Yeziden im Distrikt Tilkaif in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit Übergriffen i. S. d. § 3a AsylG durch den IS ausgesetzt sind. Der Senat verkennt nicht, dass mehrere Quellen von einem Wiedererstarken des IS im Irak berichten (siehe zum Folgenden insgesamt EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 126 f. m. w. N.). Dieses sei etwa durch die steigende Spannung zwischen den USA und Iran sowie durch die Covid-19-Pandemie begünstigt. So seien US-Militärberater abgezogen worden, was die Koordinierung der Geheimdienst- und Luftunterstützung mit den irakischen Streitkräften erschwere (Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The Recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, CTC Sentinal, Mai 2020, S. 12 <22, 25>; siehe auch BFA, Anfragebeantwortung [Grenzgebiet Irak Syrien: Gesteigerte IS-Aktivitäten, Auswirkungen türkischer Militäreinsätze in Syrien], S. 3 f.). Vor allem in der Provinz Ninive nutze der wirtschaftlich noch immer starke IS die dünn besiedelten und schwer zugänglichen Landschaften als Versteck und zur Vorbereitung von Angriffen, versuche aber auch, stärkere Stützpunkte im ländlichen Umfeld größerer Städte zu errichten (Al-Hashimi, ISIS in Iraq: From Abandoned Villages to the Cities, Center for Global Policy - cgpolicy.org -, 5.5.2020, S. 1 des Ausdrucks). Seinen Schwerpunkt habe der IS allerdings im Süden und Südwesten der Provinz (vgl. International Crisis Group [ICG], Averting an ISIS Resurgence in Iraq and Syria, 11.10.2019, S. 3). Folglich wird der Distrikt Tilkaif in der benannten Studie von Knights und Almeida aus Mai 2020 auch nicht als eine der Regionen innerhalb Ninives ausgemacht, in denen der IS aktiv ist (Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The Recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, CTC Sentinal, Mai 2020, S. 12 <23>). Dies deckt sich mit der vorstehend vorgenommenen Analyse der sicherheitsrelevanten Vorfälle.

Bei dem Wiedererstarken des IS ist aber auch in Betracht zu ziehen, dass sich dieser seit seinem Überfall auf den Sindjar 2014 einer internationalen Militärallianz gegenübersieht, die weiterhin fortbesteht. Erst am 29. Oktober 2020 stimmte der Deutsche Bundestag der Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte unter dem Titel "Stabilisierung sichern, Wiedererstarken des IS verhindern, Versöhnung fördern in Irak und Syrien" bis zum 31. Januar 2022 zu (BT-Drucksache 19/22207; BT-Plenarprotokoll 19/186, S. 23473). Zuletzt begannen irakische Streitkräfte im Mai 2020 mit Unterstützung der internationalen Koalitionstruppen eine Militärkampagne gegen den IS, die zu dessen Zurückdrängung führte und während derer mehrere IS-Anführer getötet wurden (UN-Sicherheitsrat, Eleventh report of the Secretary-General on the threat posed by ISIL, 4.8.2020, S. 3). Das US-Verteidigungsministerium (USDOD) stellt in seinem Bericht über die Operation "Inherent Resolve", die ein Teil der internationalen Militärallianz ist, für das dritte Quartal 2020 fest, dass der IS einen Aufstand auf niedriger Ebene aufrechterhalte und dass die Sicherheitskräfte zunehmend in der Lage seien, Druck auf den IS auszuüben (USDOD, Operation Inherent Resolve - Lead Inspector General Report to the United States Congress, Juli-September 2020, S. 15). Knights und Almeida (Remaining and Expanding: The Recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, CTC Sentinal, Mai 2020, S. 12 <25>) bezeichnen den IS Anfang 2020 als Schatten seines alten Selbst ("shadow of its old self"); er sei etwa ein Drittel so stark wie in 2013 oder 2017. Hiervon ausgehend kann der Senat nicht erkennen, dass der IS zeitnah in der Lage wäre, im Distrikt Tilkaif einen Einfluss zu erlangen, der mit dem im Sindjar zwischen 2014 und 2017 vergleichbar wäre. Der Kläger selbst nennt keine konkreten Vorfälle, die eine entgegenstehende Annahme rechtfertigen könnten, sondern verweist lediglich allgemein auf die Gefahr eines Wiedererstarkens des IS.

Angesichts der Existenz einer Vielzahl von Berichten über die aktuelle Sicherheitssituation im Irak sowie miteinander harmonierenden statistischen Erfassungen zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern im Distrikt Tilkaif ist auch nicht ersichtlich, dass es eine nennenswerte Dunkelziffer nicht erfasster Vorfälle gäbe.

Anhaltspunkte für sonstige aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsausübung der Yeziden im Distrikt Tilkaif durch den IS sind ebenfalls nicht ersichtlich.

Auf den IS sind seit seiner Verdrängung aus der Herkunftsregion des Klägers dort auch keine Vertreibungen in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit mehr zurückzuführen (vgl. zu dem Distrikt Sindjar zum damals entscheidungsrelevanten Zeitpunkt: Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 106).

(b) Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, das Fehlen von Übergriffen auf Yeziden sei dem Umstand geschuldet, dass in dem Distrikt nach dem Eroberungsfeldzug des IS keine Yeziden mehr lebten.

So waren in dem Distrikt Tilkaif im Dezember 2009 nach den Angaben des Distrikt-Gouverneurs 35.000 Yeziden beheimatet, was einem damaligen Bevölkerungsanteil in Höhe von etwa 22,58 % entsprach (vgl. Assyria Council of Europe, Iraq, The Struggle to Exist, Februar 2010, S.12). Die Anzahl der Yeziden dürfte sich in den Folgejahren angesichts der hohe Geburtenrate - allein im Zeitraum von September 2011 bis September 2013 lag das Wachstum der yezidischen Bevölkerung bei etwa 2,5 % (vgl. EZKS, Gutachten vom 16.9.2013, S. 12) - weiter erhöht haben.

Die Erkenntnisse zu der Situation im nordöstlichen Teil der Provinz Ninive legen nahe, dass der Vormarsch des IS in der Heimatregion des Klägers nicht zu so starken und andauernden Fluchtbewegungen von Yeziden geführt hat, wie es im Distrikt Sindjar der Fall gewesen ist. So hat der IS nicht den gesamten Distrikt Tilkaif eingenommen, die im nördlichen Teil des Distrikts liegende Stadt Alqosh wurde beispielsweise nicht durch den IS besetzt. Hinzu kommt, dass der IS in Teilen der Region nur kurzzeitig die territoriale Herrschaft ausübte und viele Bewohner yezidischer Dörfer (so z. B. aus Khartala, Mahad und Babire, dem hier angenommenen Heimatort des Klägers) nur zeitweilig geflohen und bereits im Jahr 2015 zurückgekehrt sind (vgl. EZKS, Gutachten vom 7.9.2015, S. 2).

Dies deckt sich mit den Angaben der International Organization for Migration (kurz: IOM; Iraq, Displacement Crisis 2014 - 2017, Oktober 2018, S. 34), nach denen es bereits vor dem militärischen Sieg über den IS im Irak in dem Distrikt Tilkaif in den Jahren 2015 bis 2017 insgesamt 68.898 Rückkehrer gegeben hat, wobei die Rückkehrbewegungen im Kalenderjahr 2017, dem Jahr der Befreiung Mossuls von der Herrschaft des IS, deutlich zugenommen, sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als versechsfacht hatten. Nach den statistischen Erfassungen des Global Protection Cluster (Iraq Protection Cluster: Ninewa Returnees Profile, Januar 2018, S. 2) sind bis März 2018 insgesamt 13.333 Familien nach Tilkaif zurückgekehrt, nach den Angaben der IOM (Displacement Tracking Matrix, DTM Round 118, November 2020) bis Ende Oktober 2020 insgesamt 16.867 Familien bzw. 101.202 Personen. Dass sich darunter keine oder kaum Yeziden befänden, ist nicht ersichtlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass arabische Familien erst seit Anfang August 2017 in den Distrikt Tilkaif zurückkehren dürfen (vgl. Global Protection Cluster, Iraq Protection Cluster: Ninewa Returnees Profile, Januar 2018, S. 2). Geht man mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon aus, dass der Anteil der Yeziden an den Rückkehrern ihrem Bevölkerungsanteil im Dezember 2009 entspricht, ist bei Zugrundelegung der Zahlen der IOM von 19.033 yezidischen Rückkehrern allein bis Mai 2018 auszugehen (22,58 % von der Gesamtzahl von 84.294 Personen).

Hinzu kommt, dass der Eroberungsfeldzug des IS im Distrikt Tilkaif im Vergleich zum Distrikt Sindjar zu deutlich niedrigeren Opferzahlen geführt haben dürfte. So konnten die meisten Bewohner - zumindest in den in der Region liegenden und auch von Yeziden bewohnten Orten Bahzani, Baschika im Distrikt Al-Hamdaniya - fliehen und wurden nicht vom IS getötet oder verschleppt (vgl. EZKS, Gutachten vom 7.9.2015, S. 2 und vom 14.1.2015, S. 2). Berichte über hohe Opferzahlen unter Yeziden in dem Distrikt Tilkaif sind dem Senat zumindest nicht bekannt und werden von dem Kläger auch nicht geltend gemacht.

Die Annahme, dass eine nennenswerte Anzahl an Yeziden im Distrikt Tilkaif lebt, deckt sich im Übrigen auch mit den Erkenntnissen des Senats aus anderen den Irak betreffenden Asylverfahren. So gab ein yezidischer Kläger in der mündlichen Verhandlung des Senats am 7. August 2019 glaubhaft an (vgl. Urteil des Senats vom 7.8.2019, a. a. O.), dass seine Schwester zusammen mit ihrem Mann in dem in Tilkaif liegenden Ort Khatare und seine jüngste Schwester mit zwei seiner Brüder sowie drei oder vier seiner Onkel in dem ebenfalls im Distrikt Tilkaif liegenden Ort Dokhata lebt, in dem nach seinen Angaben derzeit 40 yezidische Familien beheimatet sind. Darüber hinaus teilte er mit, dass weitere Onkel von ihm in Beban leben, das auch im Distrikt Tilkaif liegt.

(c) Angesichts der fehlenden Referenzfälle erbringt eine quantitative Betrachtung - unabhängig von der genauen Anzahl der derzeit in dem Distrikt lebenden Yeziden - keine beachtliche aktuelle Verfolgungswahrscheinlichkeit für alle Yeziden aus dem Distrikt Tilkaif in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit. Eine wertende Betrachtung des statistischen Materials vermag unter diesen Umständen kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen.

c. Ebenso wenig ist eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif durch andere Akteure beachtlich wahrscheinlich.

Die Gräueltaten des IS während dessen territorialer Herrschaftsgewalt im Nordirak vermögen mangels innerer Verknüpftheit (vgl. zu dieser Anforderung BVerwG, Urteil vom 18.7.2006, a.a.O., Rn. 26) eine tatsächliche Verfolgungsvermutung durch andere Akteure nicht zu begründen. Vor dem Einmarsch des IS war die tatsächliche Ausübung der Religion gewährleistet (vgl. Urteil des Senats vom 19.3.2007 - 9 LB 373/06 - juris Rn. 64 - 66). Der Senat hat in seinem Urteil vom 7. August 2019 (a. a. O., Rn. 77 - 82) ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass die Religionsausübung für die Yeziden nach der Verdrängung des IS aus der Provinz Ninive noch in relevanter Weise behindert werde. Anhaltspunkte für aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsfreiheit der Yeziden im Distrikt Tilkaif liegen im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der Entscheidung nicht vor.

3. Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Yeziden aus dem Distrikt Tilkaif. Ist eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich dies aber aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 24; Urteil vom 30.10.1984 - 9 C 24.84 - juris Rn. 12).

In der Vergangenheit waren yezidische Intellektuelle mit öffentlich sichtbarem Erfolg bzw. Einfluss oder yezidische Würdenträger, wenn sie regelmäßig yezidische Einrichtungen besuchen, Yeziden im Alkoholgeschäft oder im Gaststätten- und Hotelgewerbe sowie in der Vergnügungsindustrie, in Schönheits- oder Frisiersalons oder Yeziden, die - etwa als Polizisten oder Taxifahrer - in häufigen Kontakt zur moslemischen Bevölkerung traten oder aufgrund typischer Kleidungsstücke oder anderer Merkmale als Yeziden auffielen, besonders gefährdet (vgl. EZKS, Gutachten vom 26.10.2005, S. 8 - 9). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. März 2020 i. d. F. vom 14. Oktober 2020 (S. 17) sind vor allem Journalisten, Blogger, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte, alle Mitglieder des Sicherheitsapparats (Polizisten, Soldaten), Mitarbeiter der Ministerien oder von Provinzregierungen, Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Yeziden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, medizinisches Personal sowie LGBTI-Personen besonders gefährdet. Ob bei diesen Personengruppen letztlich die Gefahr einer Verfolgung besteht, lässt sich nach Auffassung des erkennenden Senats nicht allgemein und grundsätzlich beantworten, sondern ist eine Frage der konkreten Umstände des Einzelfalls. Zu prüfen ist bei Übergriffen jeweils auch, ob wirklich ein Bezug zum yezidischen Glauben besteht, also nicht unabhängig davon auch bei anderen Personen eine entsprechende Gefährdung vorhanden ist. Im vorliegenden Fall erübrigt sich eine solche Einzelfallprüfung, weil der Kläger nicht zu einer der genannten Personengruppen gehört.

II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.

Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

Nach § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG muss der drohende ernsthafte Schaden ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor ernsthaftem Schaden zu bieten (Nr. 3).

Die Gewährung subsidiären Schutzes setzt voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht (vgl. Urteile des Senats vom 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 53; vom 19.9.2016 - 9 LB 100/15 - juris Rn. 52; vom 7.9.2015 - 9 LB 98/13 - juris Rn. 26; VGH BW, Urteile vom 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 161; vom 5.12.2017 - A 11 S 1144/17 - juris Rn. 178). Das ergibt sich aus dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." in Art. 2 Buchstabe f der Richtlinie 2011/95/EU (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 20 zu Art. 2 Buchstabe e der Richtlinie 2004/83/EG; siehe auch BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 Buchstabe b der Richtlinie 2004/83/EG). Der darin enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 20), der bei der Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt (vgl. EGMR, Urteil vom 28.2.2008 - Nr. 37201/06 [Saadi v. Italy] - HUDOC Rn. 125, 140). Das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 20).

Hat ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten, oder war er von einem solchen unmittelbar bedroht, kommt ihm auch hier die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach ist dies ein ernsthafter Hinweis darauf, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift begründet für den von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 21 und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 - juris Rn. 15 zu Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG).

1. Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger keine Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG.

Die Formulierung "die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe" in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG ist richtlinienkonform auszulegen als "die Todesstrafe oder Hinrichtung". Denn im zugrunde liegenden Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU wurde die Formulierung "die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder" durch Berichtigung vom 30. Juni 2017 (ABl. L 167/58) korrigiert in "die Todesstrafe oder Hinrichtung oder".

Die Todesstrafe oder eine Hinrichtung würde dem Kläger im Irak allenfalls dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, wenn davon auszugehen ist, dass ihm dies droht, weil er als Yezide aus dem Distrikt Tilkaif verfolgt würde. Dies ist nach den vorstehenden Ausführungen (unter I. 2.) aber nicht der Fall.

2. Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

Die Formulierung "Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung" in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wird weder im Asylgesetz noch in der dadurch umgesetzten Richtlinie 2011/95/EU definiert.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts unter Beachtung der durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017 - C-578/16 PPU - juris Rn. 59 m. w. N.). Für die Richtlinie 2011/95/EU ergibt sich dies auch aus deren 16. Erwägungsgrund. Danach befolgt die Richtlinie insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Nach Art. 4 der Charta darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Dieses Verbot entspricht dem in Art. 3 EMRK aufgestellten Verbot. Es hat nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihm in der Europäischen Menschenrechtskonvention verliehen wird (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017, a. a. O., Rn. 67). Dementsprechend orientiert sich die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017, a. a. O., Rn. 68 m. w. N.). Dies gilt entsprechend für § 4 AsylG, durch den Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU umgesetzt wurde (vgl. Urteile des Senats 24.9.2019, a. a. O., Rn. 60; vom 19.9.2016, a. a. O., Rn. 52; vom 7.9.2015, a. a. O., Rn. 24, jeweils zu § 4 AsylVfG sowie BVerwG, Urteile vom 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 22; vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 15 und 25, jeweils zu § 60 Abs. 2 AufenthG a. F.).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EGMR, Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 [Tarakhel v. Switzerland] - HUDOC Rn. 93 m. w. N.). Art. 3 EMRK findet auch Anwendung, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Personen(-gruppen) ausgeht, sofern nachgewiesen ist, dass die Gefahr tatsächlich besteht und die staatlichen Behörden des Zielstaats nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (vgl. EGMR, Urteile vom 23.8.2016 - 59166/12 [J.K. and others v. Sweden] - HUDOC Rn. 80 und vom 5.9.2013 - 886/11 [K. A. B. v. Sweden] - HUDOC Rn. 69; siehe auch Urteil des Senats vom 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 42). Dem entspricht die Regelung des § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG (s. o.).

Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen, sowie - in einigen Fällen - vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers ab (vgl. EGMR, Urteil vom 4.11.2014, a. a. O., Rn. 94; Urteile des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 62; vom 19.9.2016, a. a. O., Rn. 52; vom 7.9.2015, a. a. O., Rn. 25). Eine unmenschliche Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK hat der Gerichtshof angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (vgl. EGMR, Urteil vom 9.7.2015 - 32325/13 [Mafalani v. Croatia] - HUDOC Rn. 69 m. w. N.). Von einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie beim Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist, ferner, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (vgl. die Zusammenfassung in EMGR, Urteil vom 3.9.2015 - 10161/13 [M. und M. v. Croatia] - HUDOC Rn. 132). Angesichts der fundamentalen Bedeutung von Art. 3 EMRK hat sich der Gerichtshof zudem eine gewisse Flexibilität für solche Fälle vorbehalten, in denen die Ursache der Gefahr auf Umständen beruht, die nicht in der direkten oder indirekten Verantwortung der staatlichen Behörde liegen oder die für sich genommen nicht die Standards von Art. 3 EMRK verletzen (vgl. EGMR, Urteil vom 27.5.2008 - 26565/05 [N. v. United Kingdom] - HUDOC Rn. 32 m. w. N.).

a) Die von dem Kläger geschilderte Flucht vor dem IS aus seinem Heimatdorf Babire im Distrikt Tilkaif vermag eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung im Falle seiner Rückkehr in den Irak nicht zu rechtfertigen, da nicht (mehr) von einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilklaif auszugehen ist (s. o. unter I. 2.).

b) Auch die dortige schlechte humanitäre Lage rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, da diese nicht auf einen Akteur i. S. d. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG zurückzuführen ist.

Trotz der identischen Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und Art. 3 EMRK führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.

Daher können schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 10 ff.; Beschluss vom 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 6, 13; Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 66; Beschluss des Senats vom 31.5.2018 - 9 LA 61/18 - juris Rn. 6 - 13; so auch VGH BW, Urteile vom 17.1.2018, a. a. O., Rn. 168 ff.; vom 5.12.2017, a. a. O., Rn. 183 ff.). Sie können nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (nur) ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen. Denn die Gewährung subsidiären Schutzes setzt - wie ausgeführt - voraus, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht (vgl. auch Art. 6 der Richtlinie 2011/95/EU). Nach dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU fallen "diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen", ausdrücklich nicht unter diese Richtlinie. Dementsprechend hat der Gerichtshof der Europäischen Union bereits entschieden, dass Art. 15 Buchstabe b der Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG dahin auszulegen war, dass der darin definierte ernsthafte Schaden eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die ein an einer schweren Krankheit leidender Antragsteller bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland erfahren könnte, auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in diesem Land zurückzuführen ist, ohne dass ihm die Versorgung absichtlich verweigert würde (vgl. EuGH, Urteil vom 24.4.2018 - C-353/16 - juris Rn. 58 und Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - juris Rn. 41).

Dem folgend besteht kein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung subsidiären Schutzes, da die humanitären Bedingungen im Distrikt Tilkaif derzeit nicht auf einen Akteur i. S. d. § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG zurückzuführen sind.

So ist den Erkenntnismitteln weiterhin nicht zu entnehmen, dass der irakische Staat oder die autonome Region Kurdistan-Irak als staatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 1 AsylG) ein Interesse an einer Verschärfung oder Aufrechterhaltung der schlechten humanitären Lage zeigen und diese auf ihre Handlungen oder Unterlassungen zurückzuführen ist (siehe hierzu das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 68).

Es ergeben sich auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte, dass die humanitäre Situation auf Handlungen oder Unterlassungen der in der Region ansässigen Milizen als quasistaatliche Akteure (vgl. § 3c Nr. 2 AsylG) zurückzuführen ist.

Handlungen, die der IS als nichtstaatlicher Akteur (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG) während seiner Gebietsherrschaft in der Region vollzogen hat, wie die Zerstörung und Plünderung von Wohnhäusern (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Jesiden in der Provinz Ninawa, 11.2.2019, S. 9 f.) sowie die Zerstörungen in der Landwirtschaft (vgl. Amnesty International, Dead Land, Islamic State's Deliberate destruction of Iraq's farmland, 13.12.2018) sind nicht (mehr) geeignet, einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes zu rechtfertigen. Entscheidender Zeitpunkt für die Frage, ob ein ernsthafter Schaden durch einen Akteur i. S. d. § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG droht, ist vorliegend gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 2 AsylG derjenige, in dem die Entscheidung gefällt wird. Dabei ist hier zu beachten, dass der militärische Sieg über den IS Ende 2017 eine Zäsur darstellt. Eine (hier möglicherweise bestehende) Fortwirkung vorangegangener Handlungen oder Unterlassungen des IS kann zwar mitursächlich für die aktuelle humanitäre Lage sein. Allein dies genügt aber nicht, um davon auszugehen, dass der drohende Schaden noch immer vom IS als Akteur i. S. d. § 3c AsylG ausgeht. Vielmehr müssten die früheren Handlungen oder Unterlassungen des IS noch einen wesentlichen Beitrag für die derzeitige humanitäre Lage darstellen (Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 70). Nach Auffassung des Senats lässt sich dies nicht feststellen.

Es liegen auch keine aktuellen Handlungen oder Unterlassungen des IS vor, die als wesentlicher Beitrag zur aktuellen humanitären Lage zu bewerten sind. Nachdem der IS die territoriale Herrschaftsgewalt verloren und sich zu einer aus dem Untergrund operierenden Terrorgruppe entwickelt hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S. 16), ist er derzeit nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht in der Lage, die humanitären Verhältnisse in der Region wesentlich zu beeinflussen, obgleich er zu immer komplexeren Anschlägen fähig zu sein scheint (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 26). Des Weiteren ergeben sich weiterhin keine ausreichenden Anhaltspunkte, dass der IS derzeit überhaupt primär das Ziel verfolgt, die humanitäre Lage im Distrikt Tilkaif durch seine Aktivitäten zu verschlechtern (siehe für den Distrikt Sindjar bereits das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 71).

c) Dem Kläger droht im Fall einer Rückkehr in den Irak auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder eine erniedrigende Behandlung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aufgrund der allgemeinen Situation der Gewalt im Irak.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann zwar eine allgemeine Situation der Gewalt im Abschiebezielstaat für sich genommen in Fällen ganz extremer allgemeiner Gewalt ("in the most extreme cases of general violence") eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nach sich ziehen, wenn eine tatsächliche Gefahr einer Fehlhandlung ("ill-treatment") infolge des bloßen Umstands der Anwesenheit im Zielstaat besteht ("where there is a risk of ill-treatment simply by virtue of an individual being exposed to such violence on return") (vgl. EGMR, Urteile vom 13.12.2016 - 41738/10 [Paposhvili v. Belgium] - HUDOC Rn. 86; vom 23.8.2016, a. a. O., Rn. 53; vom 9.4.2013 - 70073/10 und 44539/11 [H. und B. v. United Kingdom] - HUDOC Rn. 91 f.; vom 29.1.2013 - 60367/10 [S. H. H. v. United Kingdom] - HUDOC Rn. 73 und 79; vom 28.6.2011 - 8319/07 und 11449/07 [Sufi und Elmi v. United Kingdom] - HUDOC Rn. 218 und 241; vom 20.1.2009 - 32621/06 [F.H. v. Sweden] - HUDOC Rn. 90).

Der Begriff "Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers" in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist aber dahingehend auszulegen, dass er nur solche Situationen erfasst, in denen der den subsidiären Schutz Beantragende spezifisch der Gefahr ausgesetzt ist, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden. Demgegenüber umfasst der in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG definierte Schaden infolge willkürlicher Gewalt, da er in "einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" des Antragstellers besteht, eine Schadensgefahr allgemeinerer Art (vgl. EuGH, Urteil vom 17.2.2009 - C-465/07 - juris Rn. 32 f. zu Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG). Eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erforderliche spezifische Gefahr ist für den Kläger nicht erkennbar (s. o.).

3. Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht.

Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG können auch erfüllt sein, wenn sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt auf einen Teil des Staatsgebiets beschränkt und dem Ausländer die gesetzlich definierte Gefahr in diesem Landesteil droht. In diesem Fall ist Bezugspunkt für die Gefahrenprognose der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat, etwa weil Familienangehörige getötet worden sind oder diese Gebiete ebenfalls verlassen haben. Auch soweit die nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände begründet worden ist, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z. B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage), und es mangels Existenzgrundlage und Zukunftsperspektive eine nachvollziehbare Haltung ist, nicht in die Herkunftsregion zurückkehren zu wollen, behält diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose aus (Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 76; vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., Rn. 13 f. zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F.).

Mit den oben (vor I. 2. a.) angestellten Erwägungen stellt der Senat als Bezugspunkt für die Gefahrenprognose hier auf den Distrikt Tilkaif in der Provinz Ninive ab.

Es kann offen bleiben, ob im Distrikt Tilkaif in der Provinz Ninive derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Jedenfalls besteht für den Kläger dort im Rahmen eines etwaigen solchen Konflikts keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt. Dies gilt selbst dann, wenn man die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU für anwendbar hielte, da stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass der Kläger erneut von einem solchen Schaden bedroht ist.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass und unter welchen Voraussetzungen eine ernsthafte individuelle Bedrohung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.2.2014 - 10 C 6.13 - juris Rn. 24; Beschluss vom 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris Rn. 7; Urteile vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 17 ff.; vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 32 ff.; vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 - juris Rn. 34 ff.).

Danach genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.2.2014, a. a. O., Rn. 24). Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008, a. a. O., Rn. 34 zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F.). Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 18 m. w. N.).

Fehlen individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 18 m. w. N.). Erforderlich ist insoweit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 18 m. w. N.). Für die individuelle Betroffenheit von der Gefahr bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, zu umfassen hat, sowie einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage (vgl. BVerwG, Urteile vom 13.2.2014, a. a. O., Rn. 24; vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 23). Allerdings sieht das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls ein Risiko von 1:800 (0,125 %), in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nichts zu ändern vermag (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 23 zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F.).

Diese Maßstäbe legt auch der Senat zugrunde (vgl. Urteile des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 82; vom 19.9.2016, a. a. O., Rn. 69 ff.; vom 7.9.2015, a. a. O., Rn. 44 ff.; so auch VGH BW, Urteil vom 17.1.2018, a. a. O., Rn. 189 ff.; BayVGH, Beschluss vom 11.12.2017 - 13a ZB 17.31374 - juris Rn. 7; OVG RP, Beschluss vom 1.9.2017 - 8 A 11005/17 - juris Rn. 9; OVG LSA, Urteil vom 23.7.2014 - 3 L 53/12 - juris Rn. 26; SächsOVG, Urteil vom 26.2.2013 - A 4 A 702/08 - juris Rn. 60).

a) Für den Kläger sind bei einer Rückkehr in den Distrikt Tilkaif in der Provinz Ninive besondere gefahrerhöhende Umstände nicht ersichtlich.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Yeziden derzeit bei einer Rückkehr nach Tilkaif nach der Verdrängung des IS einer gegenüber anderen Bewohnern der Region erhöhten Gefahr ausgesetzt wären. Nach den oben bereits im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vorliegen einer Gruppenverfolgung getätigten Ausführungen stehen weder der Distrikt Tilkaif noch die Yeziden derzeit im Mittelpunkt der Aktivitäten des IS. Auch in Bezug auf die weiteren Handlungsakteure in der Region, insbesondere der schiitischen Milizen, ist dies nicht ersichtlich. Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Yeziden in nennenswertem und im Verhältnis zu anderen Bewohnern des Distrikts überproportionalem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. dazu im Einzelnen ACCORD, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, 2.10.2020).

Es ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Tätigkeit des Klägers als Fenster- und Türenbauer eine besondere Gefahrerhöhung begründet.

Dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in Tilkaif im Vergleich zu sonstigen Bewohnern verstärkt Übergriffen ausgesetzt sind, kann den vorliegenden Erkenntnismitteln ebenfalls nicht entnommen werden.

b) In dem Distrikt Tilkaif besteht auch keine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

aa) Hinsichtlich der grundsätzlich vorzunehmenden Gegenüberstellung der Bewohnerzahl mit der Anzahl der Referenzfälle verkennt der Senat nicht, dass die Angaben zur Bevölkerungszahl auf Schätzungen beruhen und die statistischen Erfassungen der bekannt gewordenen Opferzahlen kein abschließendes Bild der Lage zeichnen. Es ergeben sich indes keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Zahlen nicht ansatzweise aussagekräftig sind und daher von einer Einbeziehung der statistischen Erfassungen gänzlich abzusehen wäre (siehe ausführlich hierzu das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 88 - 92 m. w. N.).

bb) Im vorliegenden Einzelfall mag diese Grundannahme hinsichtlich der Bevölkerungszahl von Tilkaif etwa aufgrund der geringen Größe des Gebiets, des zum Teil unsicheren Grenzverlaufs oder der auch dort zu verzeichnenden enormen Fluchtbewegungen in der Vergangenheit angezweifelt werden können. Vergleichbar mit der Frage nach der Gruppenverfolgung gegenüber Yeziden kommt es auch hier aber auf eine konkrete Ermittlung der Zahl an potentiell betroffenen Personen ausnahmsweise nicht an. Vorstehend (unter I. 2. b. bb. [a.]) konnte der Senat bereits nur wenige in die dort notwendige Bewertung einzustellende Referenzfälle erkennen, die der Zahl der in Tilkaif lebenden Yeziden gegenüberzustellen wären. Dabei hat er nicht nur die konkret gegen Yeziden gerichteten, sondern alle sicherheitsrelevanten Vorfälle ermittelt, deren Zahl im Gegensatz zur Bevölkerungszahl auf hinreichend verlässlichen Grundlagen basieren. Die obigen Ausführungen werden in Bezug genommen. Auf dieser Basis kann auch für die Gesamtbevölkerung davon ausgegangen werden, dass das Risiko, infolge etwa eines Anschlags als Zivilperson getötet oder verletzt zu werden, im Distrikt Tilkaif äußerst gering ist. Nach den obigen Daten waren seit Anfang des Jahres 2018 elf sicherheitsrelevante Vorfälle zu verzeichnen. Insgesamt kam es zu acht Todesopfern, die allerdings auf gezielten Tötungen beruhten. Zehn Zivilisten wurden bei den genannten Ereignissen in Summe verletzt. Selbst bei Annahme einer besonders hohen Dunkelziffer müsste die Bevölkerungszahl von Tilkaif noch immer unrealistisch gering angesetzt werden, um zu einem Gefahrengrad zu gelangen, der eine andere Beurteilung rechtfertigte.

Die in einem Vorlagebeschluss an den Gerichtshof der Europäischen Union zum Ausdruck gebrachte Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, wonach die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im vorliegenden Zusammenhang nicht allein von einer Mindestzahl an bereits zu beklagenden zivilen Opfern abhängig gemacht werden dürfe (VGH BW, Beschluss vom 29.11.2019 - A 11 S 2374/19, A 11 S 2375/19 - juris), führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar mag diese Auffassung im Ergebnis zutreffend sein (vgl. den Schlussantrag des Generalanwalts im vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg angestrengten Vorabentscheidungsverfahren vom 11.2.2021 - C-901/19 - juris). Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage verkennt jedoch, dass die vom Bundesverwaltungsgericht etablierte und hier geteilte Rechtsprechung eine allein an Opferzahlen orientierte Lageeinschätzung nicht vornimmt. Vielmehr kommt es auch bisher bereits auf eine wertende, abschließende Gesamtbetrachtung der Gesamtsituation an (BVerwG, Urteil vom 20.5.2020, a. a. O., Rn. 21). Vorliegend sind indes keine Gesichtspunkte vorgetragen oder erkennbar, die in diesem Rahmen zu einem anderen Ergebnis führten.

III. Die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (i. V. m. Art. 3 EMRK) liegen nicht vor.

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 - 1 B 25.18 - Asylmagazin 2018, 376 = juris Rn. 8).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EGMR, Urteile vom 13.12.2016 - 41738/10 [Paposhvili v. Belgium] - HUDOC Rn. 173; vom 23.8.2016, a. a. O., Rn. 79; vom 14.4.2015 - 65692/12 [Tatar v. Schweiz] - HUDOC Rn. 39; vom 4.11.2014, a. a. O., Rn. 93; vom 23.10.2014 - 17239/13 [Mamazhonov v. Russia] - HUDOC Rn. 128). Insoweit sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, Urteile vom 23.8.2016, a. a. O., Rn. 83; vom 5.9.2013 - 61204/09 [I. v. Sweden] - HUDOC Rn. 56; vom 6.6.2013 - 2283/12 [Mohammed v. Austria] - HUDOC Rn. 95; vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 72; vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 216; hierzu bereits Beschluss des Senats vom 25.5.2018 - 9 LA 64/18 - juris Rn. 6).

Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr anwendbar, sondern auch dann, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind. Allerdings muss gezeigt werden, dass die Gefahr real ist und die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (vgl. EGMR, Urteile vom 23.8.2016, a. a. O., Rn. 80; vom 5.7.2016 - 29094/09 [A. M. v. The Netherlands] - HUDOC Rn. 79). Insofern können Gefahren, die unabhängig von der Verantwortlichkeit eines der in § 3 c AsylG genannten Akteure bestehen und daher als Anknüpfungsmerkmal für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG in der Regel ausgeschlossen sind, ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nach sich ziehen (siehe hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen den Beschluss des Senats vom 31.5.2018, a. a. O., Rn. 10 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geht der sachliche Schutzbereich des nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK über denjenigen des unionsrechtlichen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 AsylG nicht hinaus, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.6.2013, a. a. O., Rn. 25; s. a. Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 105).

Wie bereits ausgeführt, kann eine allgemeine Situation der Gewalt im Abschiebungszielstaat für sich genommen nur in Fällen ganz extremer allgemeiner Gewalt ("in the most extreme cases of general violence") eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nach sich ziehen, wenn die Gefahr einer Fehlbehandlung ("ill-treatment") infolge des bloßen Umstands der Anwesenheit einer Person im Zielstaat besteht ("where there is a risk of ill-treatment simply by virtue of an individual being exposed to such violence on return") (vgl. EGMR, Urteile vom 13.12.2016, a. a. O., Rn. 86; vom 23.8.2016, a. a. O., Rn. 53; vom 9.4.2013, a. a. O., Rn. 91 f.; vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 73 und 79; vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 218 und 241). Dabei verwendet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das Beweismaß zu Art. 3 EMRK den Begriff "real risk". Dieser entspricht dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 22; Urteile des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 106 und vom 20.7.2015 - 9 LB 320/14 - juris).

Der für die Beurteilung der Gefahr einer Fehlbehandlung erforderliche Gefahrengrad bemisst sich bei bewaffneten Unruhen im Abschiebungszielstaat u. a. nach den Gefahren, die sich aus den (verbreiteten) Kampfmethoden der Konfliktparteien für die Zivilbevölkerung ergeben, der Intensität und Ausdehnung des Konflikts sowie schließlich der auf Grund der Kampfhandlungen getöteten, verletzten und vertriebenen Zivilpersonen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 241; s. a. EGMR, Urteil vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 91; s. a. Nds. OVG, Urteil vom 26.1.2012 - 11 LB 97/11 - juris Rn. 55). Dabei zieht der Senat (so schon im Urteil vom 29.1.2019, a. a. O., Rn. 44) im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen einer allgemeinen Situation der Gewalt nicht die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.2.2014, a. a. O., Rn. 24, vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 22 und vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 33) entwickelten Kriterien für die Bestimmung der für den subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hinreichenden Gefahrendichte heran (anders BayVGH, Urteil vom 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - Rn. 38; VGH BW, Urteile vom 9.11.2017 - A 11 S 789/17 - juris Rn. 259 und vom 17.1.2018, a. a. O., Rn. 495). Denn da sich Art. 15 Buchstabe c der Richtlinie 2011/95/EU (vormals 2004/83/EG, Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung) inhaltlich von Art. 3 EMRK unterscheidet, während Art. 15 Buchstabe b der Richtlinie 2011/95/EU (vormals 2004/83/EG) im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 17.2.2009, a. a. O., LS 2 und Rn. 28), obliegt die Prüfung eines nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG anders als die Prüfung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG dem Maßstab des Art. 3 EMRK unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, auf die auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zurückzugreifen ist (s. o.).

Auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat können in ganz besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12; Beschluss vom 8.8.2018, a. a. O., Rn. 9; Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., Rn. 23 und 25).

Zwar haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat weder notwendig noch einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. EGMR, Urteile vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 74; vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 278; vom 20.1.2009, a. a. O., Rn. 92; vom 11.1.2007 - 1948/04 [Salah Sheekh v. The Netherlands] - HUDOC Rn. 141). Denn Art. 3 EMRK dient hauptsächlich dem Schutz bürgerlicher und politischer Rechte (vgl. EGMR, Urteil vom 27.5.2008, a. a. O., Rn. 44).

Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel zurückzuführen sind, um mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten umzugehen, können aber in Anwendung des in einem solchen Fall maßgeblichen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 282), im Verfahren N. v. The United Kingdom entwickelten strengen Maßstabs in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen (vgl. EGMR, Urteile vom 29.1.2013, a. a. O., Rn. 75; vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 278; siehe auch EGMR, Urteil vom 13.12.2016, a. a. O., Rn. 183 zu solchen ganz besonderen Ausnahmefällen). Dieser Maßstab gilt auch für Abschiebungen in den Irak (siehe ausführlich hierzu das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 111 - 115).

Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen (BVerwG, Urteil vom 4.7.2019, a. a. O., Rn. 12; siehe aus der Rechtsprechung des EuGH zuletzt die Urteile vom 19.3.2019 - C-297/17 u. a. - juris Rn. 89 ff., - C-163/17 - juris Rn. 91 ff. ["besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit"]). Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.8.2018, a. a. O., Rn. 11). Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 28.6.2011, a. a. O., Rn. 278, 282 f.) als auch die des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., Rn. 23) machen deutlich, dass bei "nichtstaatlichen" Gefahren für Leib und Leben ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK "zwingend" sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.2019, a. a. O., Rn. 12; Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., LS 3; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 8.11.2018 - 13a B 17.31918 - juris Rn. 20).

In Anwendung des vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für das Beweismaß zu Art. 3 EMRK verwendeten Begriffs der tatsächlichen Gefahr ("real risk") (vgl. EGMR, Urteil vom 28.2.2008, a. a. O., Rn. 125, 140), der dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 22), muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (vgl. VGH BW, Urteil vom 11.4.2018, a. a. O., Rn. 141). Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urteil vom 9.1.2018 - 36417/16 [X. v. Sweden] - HUDOC Rn. 50).

2. Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., Leitsatz 2 und Rn. 26 m. w. N.; Urteile des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 118 und vom 29.1.2019, a. a. O., Rn. 53).

Dies wird für den Kläger vorrangig die Region Kurdistan-Irak sein, nicht dagegen der Distrikt Tilkaif in der Provinz Ninive, der hier als Herkunftsregion angenommen wird.

In die Region Kurdistan-Irak sind in der Vergangenheit über den internationalen Flughafen in Erbil Rückführungen aus Deutschland erfolgt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020, S. 26). Zwar finden vereinzelt auch wieder Abschiebungen nach Bagdad statt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020, S. 26). Bei dem Flughafen in Erbil handelt es sich jedoch um den zu Tilkaif nächstgelegenen internationalen Flughafen im Irak, über den Rückführungen erfolgen. Dabei gibt es grundsätzlich Direktflüge von Deutschland nach Erbil mit Lufthansa und Iraqi Airways, von denen zumindest erstere problemlos für Rückführungen genutzt werden können. Darüber hinaus bestehen noch indirekte Verbindungen nach Erbil u. a. mit Austrian Airways, Turkish Airways und Qatar Airways (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020, S. 26).

Zudem ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnismitteln, dass die Einreise von Kurden, auch für yezidische Kurden, in die Region Kurdistan-Irak und deren dortiger Aufenthalt grundsätzlich problemlos möglich ist (siehe ausführlich hierzu das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 122 - 124).

3. Unter Zugrundelegung der dargestellten, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK entwickelten Kriterien sind trotz der widrigen Lebensbedingungen in der Region Kurdistan-Irak die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht allgemein für alle aus dem Irak stammende Yeziden gegeben. Die im Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Erkenntnisse lassen auch nicht den Schluss darauf zu, dass yezidische Personen in Kurdistan-Irak generell ohne Hinzutreten weiterer Umstände so gefährdet wären, dass ihnen bei ihrer Rückkehr stets eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohte. Entscheidend für die Frage, ob Art. 3 EMRK einer Abschiebung nach Kurdistan-Irak entgegensteht, sind vielmehr die individuellen Umstände im Einzelfall.

Der Senat hat im Urteil vom 24. September 2019 (9 LB 136/19) ausgeführt, dass die Sicherheitslage im Irak prekär sei, in der Region Kurdistan-Irak derzeit aber noch keine allgemeine Situation einer solchen extremen allgemeinen Gewalt vorliege, die es rechtfertige, yezidischen Familien generell Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zu gewähren (a. a. O., Rn. 128 - 145). Die humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak seien ebenfalls schwierig. Ein ganz außergewöhnlicher Fall mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts wegen der humanitären Bedingungen könne nach den seinerzeit vorliegenden Erkenntnissen im Falle einer yezidischen Familie mit minderjährigen Kindern indes noch nicht allgemeingültig festgestellt werden (a. a. O., Rn. 146 - 247). Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK seien auch bei einer Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage und der humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak für den vorgenannten Personenkreis nicht generell gegeben (a. a. O., Rn. 248).

Die Entwicklungen seit Erlass dieses Urteils führen weder im Hinblick auf die Sicherheitslage (hierzu unter a) noch in Bezug auf die humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak (hierzu unter b) oder die Gesamtbetrachtung (hierzu unter c) zu einer anderen Bewertung. Dies gilt selbst dann, wenn man unterstellt, dass der Kläger nicht allein, sondern mit seiner Familie in den Irak zurückkehren würde (zum Erfordernis, im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG bei im Bundesgebiet "gelebter" Kernfamilie die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen, siehe BVerwG, Urteil vom 4.7.2019, a. a. O., Rn. 15 ff.).

a) Allgemein scheint die Sicherheit in der Region Kurdistan-Irak zumindest in den Grenzregionen indes stärker als bisher gefährdet zu sein, wenngleich etwa das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 17.3.2020, S. 25) die Lage in Erbil und Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung weiterhin als vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak bewertet. So verortet EASO bei einer Auswertung der ACLED-Daten für den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Juli 2020 die meisten und die drittmeisten der ausgewählten sicherheitsrelevanten Vorfälle (Kampfhandlungen, Explosionen und Gewalt gegenüber Zivilisten) in Dohuk bzw. Erbil (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 33). Die weit überwiegende Zahl dieser Vorfälle geht auf die Verschärfung der Konflikte in der irakisch-türkischen und in der irakisch-iranischen Grenzregion zurück. ACCORD (Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Sicherheitslage; Kampfhandlungen, Anschlagskriminalität vom 27. März 2020, S. 2) ordnet diesen Konflikten für das Jahr 2019 381 der 382 Vorfälle in der Provinz Dohuk zu; von den 373 Vorfällen in der Provinz Erbil seien lediglich sieben als Gewalt gegen Zivilisten einzustufen; unter den 15 sicherheitsrelevanten Vorfällen in der Provinz Sulaymaniyah seien acht Luftangriffe der türkischen Armee. Insgesamt fanden türkische Luftangriffe sowie Kämpfe zwischen türkischen Kämpfern und türkischen Streitkräften in den Bezirken Zahko, Amedi (Dohuk) und Soran (Erbil), türkische Luftangriffe in den Bezirken Pishdar und Sulaymaniyah (Sulaymaniyah) statt. Die türkischen Militäroperationen im Nordirak gegen die PKK verstärkten sich zwischen Januar und Mai 2020. Türkische Beamte erwähnten laut EASO, dass etwa 150 mutmaßliche Stellungen der PKK bei den Operationen ins Visier genommen worden seien. Auch militante iranisch-kurdische Gruppen nutzten die Region Kurdistan-Irak, um Angriffe gegen den Iran über die Grenze hinweg zu starten. Der Iran seinerseits nahm solche Gruppen innerhalb Kurdistan-Iraks ins Visier. Im Juli 2019 erklärte der Iran offiziell, dass die Revolutionsgarden Trainingslager und andere Orte in Kurdistan-Irak, die von iranischen Oppositionsgruppen genutzt wurden, mit Drohnen, Raketen und Artillerie angegriffen hatten. Der Iran hielt auch 2020 seinen Druck auf diese Gruppen aufrecht (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 30). Die Anzahl der zivilen Opfer im Zusammenhang mit den vorgenannten Vorgängen ist bislang jedoch relativ gering (siehe hierzu noch unten).

Anzeichen für ein signifikantes Erstarken des IS, von dem in der Vergangenheit ohnehin ein vergleichsweise moderater Gefährdungsgrad in der Region ausgegangen war, sind nicht ersichtlich (vgl. etwa die graphische Darstellung der Verteilung von IS-Aktivitäten innerhalb des Irak bei EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 30). In den Berichten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zum Stand der UN-Unterstützungsmission für Irak (UNAMI) vom 21. Februar 2020, vom 6. Mai 2020 und vom 11. August 2020 ist zwar erwähnt, dass der IS während der Berichtsperiode (seit März 2020) vornehmlich auch in der Provinz Erbil aktiv war (vgl. die Berichte des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der Resolution 2470 [2019] vom 21.2.2020, Rn. 23 und vom 6.5.2020, Rn. 24 bzw. zur Umsetzung der Resolution 2522 [2020] vom 11.8.2020, Rn. 19). Im vorangegangenen Bericht sowie im Folgebericht des Generalsekretärs vom 22. November 2019 bzw. vom 10. November 2020 findet die Provinz insofern aber keine Erwähnung (vgl. die Berichte des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der Resolution 2470 [2019] vom 22.11.2019, Rn. 29 bzw. zur Umsetzung der Resolution 2522 [2020] vom 10.11.2020, Rn. 26, in dem allerdings [Rn. 28] ein Raketenangriff auf den Internationalen Flughafen von Erbil erwähnt wird, den mehrere bewaffnete Gruppierungen für sich reklamierten). EASO verzeichnet für das Jahr 2019 einzelne, auf den IS bezogene sicherheitsrelevante Vorfälle für den in der Provinz Erbil gelegenen Distrikt Makhmur (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 173 f.).

Im Hinblick auf innenpolitische Unruhen in Kurdistan-Irak verzeichnet EASO nach einer Auswertung der ACLED-Daten für den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Juli 2020 539 friedliche sowie acht gewalttätige Demonstrationen (riots) mit den Schwerpunkten jeweils in Sulaymaniyah. Anlass für die Proteste war zumeist die wirtschaftliche Situation in der Region wie etwa die Vorenthaltung von Arbeitslöhnen (EASO, Iraq: The protest movement and treatment of protesters and activists, Oktober 2020, S. 25 ff.). Im Juni 2020 kam es darüber hinaus im Nachgang an die Verhängung eines "Lockdowns" zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu Protesten in Sulaymaniyah, die sich auch gegen den Mangel an Arbeit und die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen richteten. Die Sicherheitskräfte zerstreuten die Demonstranten, indem sie in die Luft schossen (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 187). Ein Teil der staatlichen Beschränkungen wurde daraufhin wieder zurückgenommen (EASO, Iraq: The protest movement and treatment of protesters and activists, Oktober 2020, S. 25 f.). Insgesamt wird von - auch präventiven - Verhaftungen von Aktivisten und Journalisten berichtet (EASO, Iraq: The protest movement and treatment of protesters and activists, Oktober 2020, S. 35 f.).

Die Minenbelastung in der Region Kurdistan-Irak ist weiterhin hoch. In letzter Zeit wurden gerade in Kurdistan-Irak weitere Verdachtsflächen verzeichnet, es konnten aber auch Flächen geräumt werden. Mine Action Review geht davon aus, dass Ende 2019 etwa 214 Quadratkilometer innerhalb der Region als vermint gelten mussten, wobei allein 142 Quadratkilometer dieser Fläche in der Provinz Sulaymaniyah lagen (Mine Action Review, Clearing the Mines 2020, Oktober 2020, S. 145).

Der Sicherheitsapparat Kurdistan-Iraks wird unverändert als wirksam eingeschätzt. So berichtet etwa das Overseas Security Advisory Council (OSAC) der USA, die Polizei- und Militäreinheiten der Region Kurdistan-Irak könnten schnell auf Sicherheitsvorfälle, Terroranschläge und kriminelle Aktivitäten reagieren. Sie verfügten über ausreichende Ausbildung sowie über moderne Waffen und Sicherheitsausrüstung. Spezialisierte Einheiten, wie z. B. Teams zur taktischen Reaktion und zur Beseitigung von Sprengstoffen, verfügten über eine verbesserte Ausbildung und Ausrüstung (US OSAC, Iraq 2020 Crime & Safety Report: Erbil, S. 7).

Trotz der erwähnten Verschärfung der Sicherheitslage in den Grenzregionen von Kurdistan-Irak sind die gemeldeten Zahlen an Opfern aus der Zivilbevölkerung weiterhin verhältnismäßig gering.

EASO geht aufgrund einer Anfrage bei UNAMI davon aus, dass im Jahr 2019 in Dohuk sechs Personen getötet und 30 Personen verletzt wurden. Für den Zeitraum von Januar bis Juli 2020 werden zehn getötete und zwei verletzte Personen verzeichnet. Für Erbil listet EASO fünf getötete und zwölf verletzte Personen im Jahr 2019 sowie vier Getötete und einen Verletzten im genannten Zeitraum des Jahres 2020 auf. Für Sulaymaniyah werden drei getötete und elf verletzte Personen in 2019 sowie sieben Verletzte zwischen Januar und Juli 2020 gezählt (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 163, 175, 188). In der Region insgesamt stehen daher im Jahr 2019 67 Geschädigte (14 Getötete und 53 Verletzte) sowie von Januar bis Juli 2020 24 Geschädigte (14 Getötete und zehn Verletzte) einer von EASO angenommenen Bevölkerungszahl von 5.449.364 Personen gegenüber (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 155). Dies entspricht einem Anteil von 0,00123 % bzw. 0,00044 %. Von den von EASO bei UNAMI für den Irak insgesamt ermittelten Opferzahlen (341 Getötete und 566 Verletzte, also 907 Geschädigte im Jahr 2019 bzw. 121 Getötete und 184 Verletzte, also 305 Geschädigte von Januar bis Juli 2020) entfallen 7,39 % bzw. 7,89 % auf die Region Kurdistan-Irak.

Eine Analyse der ACLED-Daten für die Jahre 2019 und 2020 bestätigt den vorstehenden Befund. Im Datensatz für das Jahr 2019 verzeichnet ACLED für die Region Kurdistan-Irak 26, für das Jahr 2020 57 zivile Todesopfer. Im Januar und Februar 2021 waren insgesamt 16 zivile Todesopfer zu verzeichnen. Die Zahlen liegen zwar höher als die von EASO zugrunde gelegten Werte und mögen für das Jahr 2020 auch einen Anstieg aufzeigen. Im Verhältnis zur Gesamtsituation im Irak liegen aber auch diese Zahlen noch deutlich zu niedrig, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu begründen.

Die aktuellen Erkenntnismittel geben auch weiterhin keinen Anlass, von einer erhöhten Gefährdung von Yeziden in Kurdistan-Irak auszugehen.

b) Die humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak begründen für yezidische Einzelpersonen oder für yezidische Familien mit minderjährigen Kindern ebenfalls nicht generell einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK.

Dabei ist der Senat weiterhin der Auffassung, dass die Lebensbedingungen in Kurdistan-Irak allgemein schwierig sind. Sie rechtfertigen nach den vorliegenden Erkenntnissen indes nicht für jeden aus dem Ausland in den Irak zurückkehrenden Yeziden die Annahme eines ganz außergewöhnlichen Falles mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts wegen der humanitären Bedingungen in der Region Kurdistan-Irak (vgl. zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 29.9.2020 - 9 A 949/18.A - juris Rn. 9; Beschluss vom 25.3.2020 - 9 A 2113/18.A - juris Rn. 10; VG München, Urteil vom 9.11.2020 - M 19 K 17.39041 - juris Rn. 39 ff.; VG Magdeburg, Urteil vom 16.10.2019 - 4 A 248/18 - juris Rn. 42 ff.; a. A. hinsichtlich der Zumutbarkeit der Region Kurdistan-Irak als inländische Fluchtalternative VG Gelsenkirchen, Urteil vom 4.3.2020 - 15a K 5013/18.A - juris Rn. 176 ff.). Vielmehr bedarf es im jeweiligen Einzelfall einer umfassenden Abwägung der die Lebensbedingungen erschwerenden sowie begünstigenden Faktoren. Dies gilt grundsätzlich auch für Familien mit kleinen Kindern, wobei hier erschwerende Umstände oftmals ein anderes Gewicht erlangen können als bei einem alleinstehenden, nicht arbeitsunfähigen Mann.

Der Senat hat die humanitäre Lage für Rückkehrer in die Region Kurdistan-Irak in seinem Urteil vom 24. September 2019 (9 LB 136/19) eingehend unter den Gesichtspunkten "Unterkunft" (a. a. O., Rn. 149 - 210), "Arbeitsmarkt" (a. a. O., Rn. 211 - 226), "Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen" (a. a. O., Rn. 227 - 241) sowie "staatliche und nichtstaatliche Unterstützung" (a. a. O., Rn. 242 - 247) analysiert. Auf diese Ausführungen wird verwiesen. Die Entwicklungen seit dem Erlass der Entscheidung geben - auch unter Berücksichtigung der Corona-Pandemie - keinen hinreichenden Anlass zu einer im Ergebnis anderen Bewertung.

Allgemein ist zunächst zu konstatieren, dass die Zahl der in Kurdistan-Irak untergekommenen Binnenvertriebenen sukzessive abnimmt, wenngleich aufgrund der beschriebenen Konflikte in den Grenzregionen auch Fluchtbewegungen innerhalb der Region zu verzeichnen sind (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 165 f.). IOM schätzt deren Zahl bezogen auf den Gesamtirak zum Stand Oktober 2020 auf unter 1,3 Millionen Personen, von denen in etwa 650.000 Personen in der kurdischen Autonomieregion untergekommen sind (IOM, Displacement Tracking Matrix Dataset Round 118, November 2020). Das Innenministerium der Region Kurdistan-Irak geht für den gleichen Zeitpunkt von etwa 730.000 Binnenvertriebenen in der Region aus, denen es etwa 260.000 Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, dem Iran, der Türkei und Palästina, hinzurechnet (Innenministerium Kurdistan-Iraks, Humanitarian Situational Report, Oktober 2020). Im Juni 2015 lebten in Kurdistan-Irak etwa zwei Millionen Binnenvertriebene und Flüchtlinge (Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 148). Nach Angaben des US Departement of State (2019 Report on International Religious Freedom: Iraq vom 10.6.2020, S. 2) befinden sich unter den derzeit Binnenvertriebenen im Irak etwa 360.000 Yeziden.

IOM (Displacement Tracking Matrix Dataset Round 118, November 2020) geht davon aus, dass landesweit aktuell 69 % der inländisch vertriebenen Haushalte in Privatwohnungen, 23 % in Vertriebenenlagern und 8 % in kritischen Unterkünften leben. Bezogen auf die drei kurdischen Provinzen weichen die - im Datensatz nicht ausdrücklich ausgewiesenen, sondern vom Senat anhand der Daten ermittelten - Werte (70 %, 26 % bzw. 4 %) hiervon leicht ab. In dem die Datenerhebung begleitenden Bericht rechnet IOM die vorstehenden, auf Haushalte bezogenen Zahlen auf Individualpersonen um (IOM, Iraq Master List Report 118, September-October 2020). Demnach lebten landesweit Ende Oktober 2020 935.412 Personen (72 %) in privaten Unterkünften, 252.750 Personen (20 %) in Vertriebenenlagern und 101.550 Personen (8 %) in kritischen Unterkünften. Unabhängig vom jeweiligen Bezugspunkt der Zahlen ist im Vergleich zu den Annahmen des Senats im Urteil vom 24. September 2019 (61 %, 31 % bzw. 8 %; a. a. O., Rn. 150) demnach festzustellen, dass sich die Verteilung zugunsten der Privatunterkünfte verschoben hat.

Allerdings muss hierbei beachtet werden, dass die irakische Regierung in letzter Zeit stärker dazu übergeht, die schon länger angekündigte Schließung oder Zusammenlegung von Vertriebenenlagern umzusetzen (vgl. United Nations Human Rights Council [UNHRC], Visit to Iraq - Report of the Special Rapporteur on the human rights of internally displaced persons vom 23.5.2020, Rn. 27 f.). Während die Anzahl der Lager landesweit im Laufe des Jahres 2019 bereits von 118 auf 71 gesunken war (UNOCHA, Humanitarian Bulletin Iraq, Oktober 2019, S. 1), betrug sie Anfang Oktober 2020 noch 43 (UNOCHA, Humanitarian Bulletin Iraq, Oktober 2020, S. 1). Bis zum 6. Dezember 2020 wurden 15 weitere Lager geschlossen oder in einen "inoffiziellen Standort" (informal site) umgewandelt (vgl. UNOCHA, Iraq: Camp Closure Status, 6.12.2020). Die Maßnahme, die von der Regierung durch die angebliche Normalisierung der Lage in den Herkunftsregionen und mit der Reintegration der Vertriebenen gerechtfertigt wird (NZZ, Kein Ort, nirgends, für die Vertriebenen im Irak, 2.12.2020) steht unter Kritik vor allem der Hilfsorganisationen, etwa, da sie während der Corona-Pandemie und vor Beginn des Winters erfolgte. Sie befürchten darüber hinaus, dass die ehemaligen Bewohner der geschlossenen Lager in ihren Herkunftsorten keine intakte und sichere Unterkunft finden (siehe etwa die Pressemitteilungen von Ärzte ohne Grenzen [Iraq: Imminent Laylan camp closure risks humanitarian consequences] vom 24.11.2020 oder von UNAMI [Statement from the United Nations Resident and Humanitarian Coordinator, Irena Vojackova-Sollorano, on IDP camp closures in Iraq] vom 30.11.2020). Tatsächlich haben die Schließungen zu sekundären Fluchtbewegungen, also zum erneuten Verlassen des Heimatortes, geführt: IOM geht für die erste Dezemberhälfte 2020 davon aus, dass 29 % der Haushalte, die ein Lager aufgrund seiner Schließung verlassen mussten, nicht nach Hause zurückgekehrt sind (IOM, DTM Emergency Tracking - Movement of Camp IDPs [30.11. - 13.12.2020], Dezember 2020, S. 1). Von den genannten Maßnahmen (bisher) nicht betroffen sind indes die Lager, die unter Verwaltung der Region Kurdistan-Irak stehen (vgl. UNOCHA, Iraq: Camp Closure Status, 6.12.2020; IOM, DTM Emergency Tracking - Movement of Camp IDPs [30.11. - 13.12.2020], Dezember 2020, S. 3). Im Gegenteil haben UNHCR und das Innenministerium Kurdistan-Iraks am 2. Dezember 2020 ein Partnerschaftsabkommen unterzeichnet, um die Versorgung von jeweils ca. 100.000 Flüchtlingen und Binnenvertriebenen in 35 Lagern in der Region zu erleichtern (vgl. die gemeinsame Presseerklärung von UNHCR und dem Innenministerium Kurdistan-Iraks vom 2.12.2020 [Ministry of Interior - Kurdistan Regional Government to support refugees and displaced people in camps through partnership with UNHCR]). Die Schließung von Vertriebenenlagern in anderen Landesteilen Iraks hat demnach keine Auswirkungen auf die Beurteilung der Situation des Klägers.

Kritisch ist derzeit die Lage von Binnenvertriebenen, denen zu Unrecht eine Zusammenarbeit mit dem IS unterstellt wird (siehe allgemein: EASO, Iraq: Treatment of Iraqis with perceived affiliation to ISIL, Oktober 2020). Im November 2020 berichtete Amnesty International von willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen, unfairen Gerichtsverfahren sowie von willkürlichen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit gegenüber solchen Personen aus den Jahren 2016 und 2017 (Amnesty International, Displaced Iraqis in Cycle of Abuse and Stigmatization, November 2020, S. 13 ff.). Human Rights Watch attestiert der irakischen Justiz, dass zumindest die strafrechtliche Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die mit dem IS in Verbindung gebracht werden, im Ansatz Menschenrechtsstandards genügt (HRW, Iraq: Step Toward Justice for ISIS Child Suspects, 13.12.2020). Für alle Betroffenen tritt jedoch hinzu, dass sich dieser Personenkreis aufgrund der Zuschreibung in der Regel nicht traut, in die Heimatregion zurückzukehren oder, dass sich in der Heimatregion eine derartige Zuschreibung erst aufgrund des langen Verbleibs im Vertriebenenlager entwickelt (International Crisis Group, Exiles in Their Own Country: Dealing with Displacement in Post-ISIS Iraq, 19.10.2020, S. 3 f.). Anzeichen dafür, dass der Kläger eine derartige Gefahr tatsächlich zu gegenwärtigen hätte, bestehen indes nicht. Bei ihm als Yeziden scheint dies auch eher fernliegend.

Die wirtschaftliche Lage in der Region Kurdistan-Irak, die über ein vergleichsweise großes Ölvorkommen verfügt, ist allgemein von einem derzeitigen Einbruch des Ölpreises bestimmt (EASO, Key socio-economic indicators for Bagdad, Basra and Erbil, September 2020, S. 40).

Weiter in die Betrachtung einzubeziehen sind die aus der derzeitigen Corona-Pandemie folgenden humanitären Bedingungen im Irak. Auch diese können grundsätzlich in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen (vgl. den Beschluss des Senats vom 13.1.2021 - 9 LB 150/20 - juris Rn. 26).

Zum Zeitpunkt 1. März 2021 geht die Weltgesundheitsorganisation (https://bit.ly/2Oy1eC8) davon aus, dass sich seit dem Beginn der Pandemie im Irak 699.088 Personen mit dem Virus infiziert haben und dass insgesamt 13.428 Personen im Zusammenhang mit der Pandemie verstorben sind. Die Johns-Hopkins-Universität (https://coronavirus.jhu.edu/region/iraq) und das Projekt "Coronatracker" (https://www.coronatracker.com/de/country/iraq) weisen die gleichen Daten aus. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen innerhalb der letzten sieben Tage lag in etwa zwischen 3.200 und 4.400. Hieraus ergibt sich laut Weltgesundheitsorganisation, dass sich innerhalb einer Woche rechnerisch etwa 68,6 Personen pro 100.000 Einwohner mit dem Coronavirus infiziert haben (so genannte Sieben-Tage-Inzidenz). Der Höchstwert in dieser Statistik lag im September 2020 bei 81,1.

Die Weltgesundheitsorganisation weist darüber hinaus Werte für jede einzelne Provinz aus. Anders als für den Gesamtirak, in dem die Fallzahlen nach einer relativen Tiefphase zu Beginn des Jahres 2021 nunmehr wieder steigen, zeigt sich für die Autonome Region Kurdistan-Irak, dass sich weiterhin der Anstieg der Infektionszahlen verlangsamt und die Zahl der aktiven Fälle abnimmt. Demnach liegt die Zahl der Gesamtinfektionen derzeit in der Provinz Erbil bei 38.025 (606 mehr als in der Vorwoche), in der Provinz Dohuk bei 36.484 (291 mehr als in der Vorwoche) und in der Provinz Sulaymaniyah bei 34.642 (281 mehr als in der Vorwoche). Verstorben sind in der Provinz Erbil bislang 934 (vier mehr als in der Vorwoche), in der Provinz Dohuk 737 (fünf mehr als in der Vorwoche) und in der Provinz Sulaymaniyah 1.850 Personen (drei mehr als in der Vorwoche). Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt derzeit in der Provinz Erbil bei 31,0 (Höchstwert: 174,2, November 2020), in der Provinz Dohuk bei 21,4 (Höchstwert: 221,6, November 2020) und in der Provinz Sulaymaniyah bei 12,3 (Höchstwert: 110,9, Juli 2020). Die Reproduktionszahl R, also die Anzahl der Personen, die im Durchschnitt von einem Fall angesteckt werden, liegt in der Region Kurdistan-Irak derzeit bei 1,34.

Auf Grundlage von Daten von UNHCR weist die Weltgesundheitsorganisation zudem Fallzahlen hinsichtlich der Vertriebenen und Flüchtlinge (sowohl innerhalb als auch außerhalb von Lagern) aus. Demnach haben sich in der Provinz Erbil seit Beginn der Pandemie 52 Personen mit dem Coronavirus infiziert, vier Personen sind verstorben. In der Provinz Dohuk sind bisher 197 Infektions- und 32 Todesfälle, in der Provinz Sulaymaniyah 16 Infektionsfälle und ein Todesfall zu verzeichnen.

Der Senat verkennt indes nicht, dass es hinsichtlich der Fallzahlen eine beträchtliche "Dunkelziffer" geben dürfte. Dies liegt schon darin begründet, dass in der Region Kurdistan-Irak laut Weltgesundheitsorganisation täglich lediglich etwa 6.300 PCR-Tests vorgenommen werden. Auch dürften die derzeitigen Mutationen des Coronavirus die Fallzahlen erhöhen. Doch auch unter Berücksichtigung dieser Umstände ist nicht erkennbar, dass die Fallzahlen für den Irak insgesamt oder für die Region Kurdistan-Irak deutlich höher lägen als in Deutschland oder in anderen Ländern. Insbesondere ist derzeit nicht erkennbar, dass sich der Irak wie andere Staaten einer "zweiten Infektionswelle" gegenübersähe.

Das Gesundheitssystem des Irak scheint für die Behandlung der Infizierten derzeit ausreichend Kapazitäten zur Verfügung zu haben. So verzeichnet die Weltgesundheitsorganisation in ihren tagesaktuellen Statistiken (s. o.) auch die Art des Umgangs mit den Erkrankten. Von diesen werden derzeit etwa 2.178 Personen (ca. 5 %) im Krankenhaus betreut, wobei bei asymptomatischen und milden Krankheitsverläufen derzeit generell keine Aufnahme in ein Krankenhaus erfolgt (UNHCR, Iraq Covid-19 Update, 7.10.2020, S. 1). 410 Personen (ca. 19 % der Krankenhausfälle) werden intensivmedizinisch betreut. Der Höchststand dieser Zahlen war im August 2020 zu verzeichnen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich zeitweilig 5.525 Personen in stationärer Behandlung, von denen 564 Personen einer intensivmedizinischen Betreuung bedurften. Allerdings ist zu beachten, dass die Statistik keine Daten zur Region Kurdistan-Irak enthält.

Das Global Camp Coordination and Camp Management (CCCM) Cluster und UNOCHA haben im Oktober 2020 eine Einschätzung abgegeben, inwieweit die im Irak zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Vertriebenenlager auf einen möglichen Ausbruch des Coronavirus innerhalb des Lagers vorbereitet sind. Sie haben hierfür das Risiko eines Ausbruchs, die Verletzlichkeit, die vor Ort vorhandenen Bewältigungskompetenzen und das Ausmaß der Vorbereitung für jedes Lager mit einem Punktwert von 0 bis 100 bewertet, wobei der Wert 100 einen besonders besorgniserregenden Zustand dokumentieren soll. Den höchsten Durchschnittswert (37) erhielt ein Lager in der Provinz Diyala. Der höchste Durchschnittswert für ein Lager in der Region Kurdistan-Irak beträgt 36 (CCCP-Cluster, UNOCHA, Iraq COVID-19 Camp Vulnerability Index, Oktober 2020). Dies und die oben ausgewiesenen niedrigen Fallzahlen für die Vertriebenenlager dokumentieren nach Auffassung des Senats, dass die in Kurdistan-Irak befindlichen Unterkünfte in der Lage sind, angemessen auf eine Infektion von Bewohnern mit dem Coronavirus zu reagieren.

Am 27. Dezember 2020 hat der Irak den Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer im Wege der Notfallzulassung zugelassen (arabnews.com, Iraq grants emergency approval for Pfizer COVID-19 vaccine, 27.12.2020). Die Ankunft der ersten von mittlerweile acht Millionen erworbenen Dosen, die für eine Immunisierung von 20 % der Bevölkerung ausreichen, wurde für Februar 2021 erwartet; die irakische Regierung hat angekündigt, dass die Impfung für die Bevölkerung kostenlos sein soll (al-monitor.com, First doses of Pfizer-BioNTech COVID-19 vaccine to hit Iraq by February, 11.1.2021). Auch die Region Kurdistan-Irak solle einen Teil der Dosen erhalten (rudaw.net, Iraq signs deal with Pfizer for 1.5 million doses of COVID-19 vaccine, 21.12.2020).

Hieraus allein ergeben sich freilich noch keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Auswirkungen, die die Pandemie für die verschiedenen Lebensbereiche der Bevölkerung eines Landes hat.

Auch die Regierungen Gesamt-Iraks und der Region Kurdistan-Irak haben ab dem Jahr 2020 zu für die Bevölkerung einschneidenden Maßnahmen gegriffen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. So wurden ab März 2020 die Außengrenzen geschlossen und inländische Reisebeschränkungen eingeführt. Schulen und Universitäten wurden ebenso wie Geschäfte und kulturelle Einrichtungen geschlossen. Der Irak befand sich demnach ebenso wie andere Staaten in einem "Lockdown", der durch Ausgangssperren ergänzt wurden (UNHCR, Iraq Covid-19 Update, 25.3.2020, S. 1). Diese Maßnahmen waren, abgesehen von zwischenzeitlichen Lockerungen während des Fastenmonats Ramadan, bis September 2020 in Kraft und wurden ab dann schrittweise gelockert (UNHCR, Iraq Covid-19 Update, 7.10.2020, S. 1). Das neue Schuljahr begann im Gesamt-Irak am 29. November 2020 mit Präsenz in der Schule an einem Tag in der Woche; in der Region Kurdistan-Irak blieben die Schulen bislang geschlossen, während die Universitäten öffneten (UNHCR, Iraq Covid-19 Update, 6.12.2020, S. 1). Das Verbot von Ansammlungen und Großveranstaltungen gilt weiterhin. Außerdem besteht die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung (worldaware.com, Intelligence Alert: Authorities in Kurdistan, Iraq Make Wearing of Facemasks Mandatory in Some Public Places). Seit Dezember 2020 werden die Maßnahmen wieder verschärft, vor allem, um die Ausbreitung der neuen und hochansteckenden Mutationen des Virus einzudämmen. Dazu gehört im föderalen Irak die Schließung aller Einkaufszentren, Cafés und Restaurants zwischen 19:00 Uhr und 6:00 Uhr täglich. Die kurdische Regionalregierung hat unter anderem gesellschaftliche Versammlungen, Treffen und Konferenzen untersagt, während Restaurants und Cafés täglich bis Mitternacht geöffnet bleiben dürfen. Es gibt derzeit keine Reisebeschränkungen zwischen den einzelnen irakischen Provinzen oder zwischen der Autonomen Region Kurdistan-Irak und den übrigen Landesteilen (IOM, Covid-19 Mobility Restrictions and Public Health Measures - 1 to 31 December 2020, Januar 2021, S. 2).

Gemeinsam mit der Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO) und dem International Trade Centre (ITC) der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation untersucht IOM derzeit fortwährend die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf kleine und mittlere Unternehmen im Irak. Die Ergebnisse zeigen, dass kleine und mittlere Unternehmen zwischen Februar und September 2020 einen Produktionsrückgang von durchschnittlich 53 % und einen Beschäftigungsrückgang von 27 % zu verzeichnen hatten. Zwischen Juni und September 2020 hätte etwas mehr als ein Viertel der Unternehmen Schwierigkeiten bei der Beschaffung ihrer wichtigsten Betriebsmittel gehabt. Die Hälfte der Eigentümer hätte sich mit geringeren Inlandsumsätzen konfrontiert gesehen. 38 % der befragten Unternehmen hätten berichtet, dass sie im September 2020 Gefahr liefen, dauerhaft zu schließen. Zwischen Juni und September 2020 hätten die Unternehmen vermehrt um Zahlungsaufschub gebeten, um der angespannten finanziellen Lage zu begegnen. Demgegenüber hätten im Juni die Mehrzahl der Unternehmen noch auf die Entlassung von Mitarbeitern zurückgegriffen. Dies habe möglicherweise zu einer gewissen Erholung auf dem Arbeitsmarkt beigetragen. Die Ergebnisse zeigten auch, dass die Umsätze in allen Sektoren zwischen Juni und September 2020 gestiegen seien, was möglicherweise auf eine belebte Wirtschaftstätigkeit und auf höhere Verkaufspreise zurückzuführen sei (IOM, FAO, ITC, Panel Study II: Impact of COVID-19 on Small- and Medium-Sized Enterprises in Iraq September 2020, November 2020).

Im Juli 2020 haben die Weltbank und UNICEF den Versuch unternommen, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie für den Irak einzuschätzen (Weltbank/UNICEF, Assessment of COVID-19 Impact on Poverty and Vulnerability in Iraq, Juli 2020). Danach lebten im Zeitraum 2017/2018 20 % der Bevölkerung Gesamt-Iraks, jedoch nur 5,5 % der Bevölkerung in der Region Kurdistan-Irak unterhalb der Armutsgrenze. Die Studie geht davon aus, dass die Pandemie und die ihrethalben ergriffenen staatlichen Maßnahmen unter anderem in Form des Rückgangs von Arbeitseinkommen, der Erhöhung der Lebensmittelpreise (zum Public Distribution System für Lebensmittel im Irak vgl. das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 229) oder der Einschränkung des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport und anderen Dienstleistungen Einfluss auf den Lebensunterhalt der irakischen Haushalte haben werden. Die sich hieraus ergebenden Folgen werden für die Region Kurdistan-Irak jedoch als milder im Vergleich zu den übrigen Landesteilen eingeschätzt. So wirke sich etwa eine Erhöhung der Lebensmittelpreise in dieser Region weniger stark auf die Armut der Bevölkerung aus, da diese einen geringeren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufzuwenden habe als die Bevölkerung in den übrigen Landesteilen; verhältnismäßig starke Auswirkungen ergeben sich allerdings für die Gruppe der armutsgefährdeten Personen in Kurdistan-Irak (vgl. Weltbank/UNICEF, a. a. O., S. 7. 10). Des Weiteren wird angenommen, dass eine vollständige Ausgangssperre die Armutsrate im Irak um zehn, in Kurdistan-Irak indes lediglich um fünf Prozentpunkte erhöhte (vgl. Weltbank/UNICEF, a. a. O., S. 11). Auch kombinierte Analysen, die die Erhöhung der Nahrungsmittelpreise, die Reduzierung des Arbeitseinkommens und verschiedene Stufen von Ausgangsbeschränkungen berücksichtigen, zeigen, dass die Region Kurdistan-Irak bezogen auf die Armutsrate deutlich stabiler ist als die übrigen Landesteile. Anders ist dies wiederum bezogen auf die armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen (vgl. Weltbank/UNICEF, a. a. O., S. 12 ff.). Da ausgehend von den eingangs dargestellten Maßstäben ein nationales Abschiebungsverbot aufgrund der humanitären Bedingungen im Zielstaat indes lediglich in ganz besonderen Ausnahmesituationen in Betracht kommt, ist der Armutsgefährdung in der wertenden Gesamtbetrachtung ein geringeres Gewicht beizumessen als der tatsächlichen Armut.

IOM und UNDP beleuchten in einer Studie aus November 2020 (Impact of COVID-19 on Social Cohesion in Iraq) die Folgen der Corona-Pandemie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Irak. Sie gehen unter anderem davon aus, dass im März und April 2020 die Anzahl der Beschäftigten im privaten Sektor um 40 % gesunken ist. Insgesamt sorge die Pandemie eher für eine Verstärkung der ohnehin schon bestehenden Trennung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen des Landes. Auch nähmen die Proteste gegen die Regierung zu. Hierdurch spanne sich auch die Sicherheitslage an. Nicht ausgeschlossen sei es allerdings, dass die Pandemie die Bevölkerung, vergleichbar mit dem Kampf gegen den IS, näher zusammenbringe.

Die Pandemie hat auch Auswirkungen auf das irakische Bildungssystem. Während die Möglichkeiten, die im Land erfolgten Schulschließungen über online-basierten Fernunterricht zu kompensieren, landesweit ohnehin begrenzt sind, gaben im April 2020 83 % der befragten Kinder in Vertriebenenlagern an, keinen Unterricht erhalten zu haben (Norwegian Refugee Council, The Great Disconnect - How remote learning in Iraq ist leaving the most vulnerable further behind, Oktober 2020, S. 1; siehe hierzu auch UNHCR, Iraq Protection Monitoring of Refugees in Response to COVID-19, Round 2, November 2020, S. 4 f.). Das Assessment Capacities Project (ACAPS) geht davon aus, dass die von Schulschließungen betroffenen Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2019/2020 mindestens fünf Monate Schulunterricht verpasst hätten. Darüber hinaus sei aber kurzfristig zu befürchten, dass wirtschaftlich bedürftige Familien aufgrund der aktuellen Situation dazu übergehen könnten, ihre Kinder zu verheiraten oder arbeiten oder betteln zu schicken, um an Einkommen zu gelangen. Dies schade langfristig der emotionalen Entwicklung der Kinder und hindere sie daran, in Zukunft selbst erfolgreich zu wirtschaften (ACAPS, Education in Iraq, Impact of COVID-19, protests, and pre-existing crises on needs, November 2020).

Das Global Protection Cluster - ein Netzwerk von Nichtregierungs- und internationalen Organisationen unter Führung des UNHCR - untersuchte im Oktober 2020 mittels Befragungen von 3.930 Personen aus 18 Provinzen die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Binnenvertriebene innerhalb und außerhalb von Vertriebenenlagern im Irak während der vorangegangenen sechs Monate (Global Protection Cluster, Comparative analysis of six months of protection monitoring in response to COVID-19, Oktober 2020). Als bedeutendste Einschränkung wird dort die Beschränkung der Bewegungsfreiheit genannt, die indes alle Einwohner des Irak traf und nach Rücknahme des über das gesamte Land verhängten Lockdowns abnahm. Gleichwohl verhängten einzelne Vertriebenenlager eigene Ausgangsbeschränkungen. Ausnahmen wurden aber zugelassen. Zudem waren die Maßnahmen in den Lagern der Region Kurdistan-Irak weniger streng als in anderen Landesteilen. Hinsichtlich der sozialen Auswirkungen der Pandemie wird von den Vertriebenen am häufigsten der Verlust von Arbeitsplätzen oder des Lebensunterhalts genannt (74 % der innerhalb sowie 88 % der außerhalb von Vertriebenenlagern lebenden Personen). Hierauf folgen Schwierigkeiten, die Miete zu bezahlen (64 % der Befragten, die nicht in Vertriebenenlagern untergekommen sind), die Grundversorgung an Lebensmitteln und Medikamenten sicherzustellen (45 % / 56 %), der fehlende Zugang zu humanitärer oder staatlicher Hilfe und sodann der fehlende Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen oder Lebensmitteln. In Bezug auf die zuletzt genannten Posten weist der Bericht keine Prozentzahlen aus. Hinsichtlich der Gesundheitsversorgung berichten die Befragten zwar, selbst einen Zugang zu besitzen. 30 % der Bewohner von Vertriebenenlagern und von 45 % der außerhalb solcher Lager untergebrachten Vertriebenen geben aber an, dies treffe nicht für alle Mitglieder ihrer Gemeinschaft zu. Dass trotz der vorstehenden Werte relativ selten von Zwangsräumungen berichtet werde, könne durch verschiedene Bewältigungsmechanismen der betroffenen Haushalte erklärt werden. 19 % der Befragten, die nicht in einem Vertriebenenlager untergekommen seien, gäben demnach an, aufgrund der Situation in eine andere Unterkunft umgezogen zu sein. Daneben reduzierten 69 % der insgesamt Befragten ihren Lebensmittelkonsum, 65 % nutzten ihre Ersparnisse, 62 % nähmen Schulden auf und 59 % verzichteten auf den Kauf von Non-Food-Artikeln.

Eine Studie von UNHCR aus November 2020 zur Situation der Flüchtlinge im Irak (Iraq Protection Monitoring of Refugees in Response to COVID-19, Round 2) brachte als wesentliche Erkenntnisse hervor, dass sich die meisten befragten Haushalte gut über das Coronavirus informiert fühlten. Fast alle befragten Haushalte (94 %) besäßen mindestens ein Smartphone, wobei etwas weniger Haushalte Zugang zum Internet hätten (84 %). Auch UNHCR berichtet, dass es zu Zwangsräumungen verhältnismäßig selten komme, hauptsächlich aufgrund der Unfähigkeit, die Miete zu zahlen. Mehr als die Hälfte der Haushalte hätten berichtet, dass sie als Reaktion auf die Corona-Pandemie den Konsum von Nahrungsmitteln reduziert, weitere Schulden aufgenommen oder ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätten. Im Vergleich zum vorherigen Betrachtungszeitraum sei es zu einem starken Anstieg des Prozentsatzes der Haushalte gekommen, die von Kinderheirat (42 %), Kinderarbeit (17 %) und/oder dem Verkauf von Haushaltsgegenständen (17%) berichtet hätten, um Geld zu verdienen. Ferner sei zu beobachten, dass andere als mit dem Coronavirus zusammenhängende Krankheiten seltener behandelt würden. Fast 40 % der insoweit pflegebedürftigen Personen hätten noch keine Behandlung erhalten. Auch hätten finanzielle Engpässe zum Abbruch von Behandlungen geführt. Auf unter 50 % gesunken sei allerdings der Prozentsatz der Befragten, die angegeben hätten, sich aufgrund der Situation ängstlich zu fühlen. Lediglich ein Fünftel der Befragten (im Vergleich zu einem Drittel im vorangegangenen Befragungszeitraum) habe angegeben, dass ihr psychologischer Zustand ihren Alltag behindere.

Der Irak erhält indes bei seinen Bemühungen um die Eindämmung der Corona-Pandemie Hilfe von internationalen Partnern. So unterstützt etwa UNHCR den Zugang von Familien zu grundlegenden Hygieneartikeln durch die Verteilung von Bargeldhilfe und Sanitärkits. Bis November 2020 haben auf diese Weise insgesamt 100.335 vertriebene Familien (über 565.500 Personen) finanzielle Unterstützung erhalten. Darüber hinaus sind bisher über 77.780 Pakete mit Hygieneartikeln an Frauen und Mädchen in den Flüchtlings- und Binnenvertriebenenlagern verteilt worden (UNHCR, Iraq Covid-19 Update, 10.11.2020, S. 2).

In Anbetracht der Herausforderungen der Corona-Pandemie unternahmen die Vereinten Nationen eine konzertierte Aktion, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) koordiniert wurde, um die irakische Regierung bei der Entwicklung von Lösungen und Abhilfemaßnahmen zu unterstützen. Eine schnelle Bewertung der Gesundheitseinrichtungen zeigte die dringende Notwendigkeit, den Umgang mit positiven Fällen zu verbessern und angemessene Isolations- und Quarantäneprotokolle zu implementieren. Als Reaktion darauf unterstützte die WHO in Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) die irakische Regierung bei der Entwicklung einer Kampagne unter anderem zur Verhaltensänderung und arbeitete mit UNHCR zusammen, um Broschüren und Poster sowie persönliche Schutzausrüstung in Gesundheitseinrichtungen und an Einreisehäfen zu verteilen. Gemeinsam mit IOM stellte sie weiterhin Schulungen und technisches Fachwissen an Grenzübergängen und Flughäfen zur Verfügung und stärkte weiterhin die nationale Gesundheitsinfrastruktur durch die Bereitstellung von Beatmungsgeräten, persönlicher Schutzausrüstung und spezieller Laborausrüstung sowie die Unterstützung bei der Einrichtung von 140 Isolierzimmern mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium (Bericht des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der Resolution 2522 [2020] vom 10.11.2020, Rn. 69). Die Hilfsaktionen bleiben nicht singulär. So meldete etwa WHO im Dezember 2020 die Lieferung weiterer Medizinprodukte in den Irak (WHO, WHO hands over essential health commodities to the Ministry of Health to contain COVID-19 in Iraq, 16.12.2020). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die Europäische Union (EU) etwa starteten im November 2020 ein Programm zur Verbesserung der Arbeitssicherheit im Irak während der Corona-Pandemie (ILO, COVID-19: EU and ILO project to improve labour governance and working conditions in Iraq, 23.11.2020).

Der berechnete Bedarf zur Finanzierung angemessener humanitärer Maßnahmen im Irak beläuft sich laut Angaben des Generalsekretärs der Vereinten Nationen auf 662,2 Millionen Dollar, davon 264,8 Millionen Dollar für COVID-19-bezogene Arbeit und 397,4 Millionen Dollar für andere Arbeitsbereiche. Zum 1. Oktober 2020 waren der humanitäre Aktionsplan und der COVID-19-Aktionsplan zu 68 % bzw. 44 % finanziert (Bericht des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der Resolution 2522 [2020] vom 10.11.2020, Rn. 71).

Zur Reaktion auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie stellten die Vereinten Nationen einen sozioökonomischen Reaktionsplan für den Irak auf, um die Kluft zwischen humanitären, entwicklungspolitischen und friedensfördernden Bemühungen zu überbrücken. Der auf 1,4 Milliarden US-Dollar geschätzte Plan (der im November 2020 zu 40 Prozent finanziert war) stellt in den Worten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen ein integriertes Unterstützungspaket dar, um die wichtigsten Bedürfnisse zu erfüllen und Menschen zu schützen, die Gefahr laufen, zurückgelassen zu werden (Bericht des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der Resolution 2522 [2020] vom 10.11.2020, Rn. 78).

Unter Berücksichtigung und Gewichtung der vorstehenden Ausführungen ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger aufgrund der aktuellen humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak kein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zusteht. Auch wenn die derzeitige Lage angespannt ist, wird es dem Kläger gelingen, eine eigenständige Existenz aufzubauen. Zum einen hat er bereits vor seiner Ausreise einen wirtschaftlichen Betrieb eigenständig und mit Erfolg geführt, sodass er die für einen Wiederaufbau notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen oder zumindest für den Arbeitsmarkt weitaus attraktiver sein dürfte als andere Rückkehrer. Zum anderen besteht durch die in der Autonomen Region Kurdistan-Irak noch immer betriebenen Vertriebenenlager und die internationale Unterstützung des Irak für den Kläger und gegebenenfalls seine Familie eine hinreichende Basis bei einer Rückkehr.

c) Auch eine Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage und der humanitären Situation in Kurdistan-Irak führt nach Einschätzung des Senats unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel noch nicht dazu, dass allgemein alle aus dem Irak stammenden Yeziden bzw. yezidischen Familien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wären bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten müssen, wenn sie nach Kurdistan-Irak zurückkehrten. Zwar ist sowohl die Sicherheitslage als auch die humanitäre Lage in der Region angespannt, es lässt sich aber für den vorgenannten Personenkreis noch keine Extremsituation feststellen, die es rechtfertigt, ihnen generell Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zu gewähren.

IV. Für den Kläger besteht auch kein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituation liegt bei dem Kläger nicht vor. Insbesondere hat er keine gesundheitlichen Gründe vorgetragen.

Schließlich besteht für den Kläger auch kein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung hinsichtlich der Republik Irak.

Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG können allgemeine Gefahren grundsätzlich kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen. Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe im Abschiebungszielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und die Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a AufenthG befunden wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.6.2013, a. a. O., Rn. 13 m. w. N. zu § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG a. F.).

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebungszielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen kann, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, a. a. O., Rn. 13; Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., Rn. 38). Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (vgl. BVerwG, Urteile vom 29.9.2011 - 10 C 24.10 - juris Rn. 20; vom 8.9.2011 - 10 C 14.10 - juris Rn. 23; vom 29.10.2010 - 10 C 10.09 - juris Rn. 15). Dies bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 8.9.2011, a. a. O., Rn. 23; vom 29.9.2011, a. a. O., Rn. 20). Insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013, a. a. O., Rn. 38; s. a. Urteil des Senats vom 19.9.2016, a. a. O., Rn. 83). Dabei sieht das Bundesverwaltungsgericht diesen Maßstab als strenger an als den bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzulegenden Maßstab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, a. a. O., Rn. 13). Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus (vgl. Urteil des Senats vom 29.1.2019, a. a. O., Rn. 188 ff.; VGH BW, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 453; BayVGH, Urteil vom 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 61).

Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel und der zu § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK dargelegten individuellen Verhältnisse des Klägers geht der Senat davon aus, dass für ihn bei einer Rückkehr in den Irak eine extreme Gefahrensituation im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Der Senat ist der Überzeugung, dass sich der Kläger in Kurdistan-Irak ein Leben - zumindest am Rande des Existenzminimums - wird aufbauen können und keiner extremen Gefahrenlage ausgeliefert wäre. Insoweit wird auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK verwiesen.

Die Abschiebungsandrohung beruht auf § 34 AsylG, §§ 59, 60 AufenthG und begegnet keinen rechtlichen Bedenken.

Auch die von der Beklagten vorgenommene Befristung der Sperrwirkung der Abschiebung gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ist rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere sind insoweit keine Ermessensfehler ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.