Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 26.11.2021, Az.: 12 A 11589/17

Baath; IS; Kollaborateur; Militäroffizier; Saddam-Regime; schiitische Miliz

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
26.11.2021
Aktenzeichen
12 A 11589/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70758
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1, 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17.08.2017 verpflichtet, dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und der Klägerin zu 2. die Flüchtlingseigenschaft unter der Bedingung zuzuerkennen, dass der Verpflichtungsausspruch in Bezug auf den Kläger zu 1. rechtskräftig wird.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten

Tatbestand:

Die Kläger begehren nach einer teilweisen Klagrücknahme noch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Der Kläger zu 1. ist am H. 1975 in I. und die Klägerin zu 2. am J. 1977 ebenfalls in I. (Irak) geboren. Sie sind seit dem Jahr 2002 miteinander verheiratet und beide irakische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit. Im September 2015 reisten sie über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, erhielten zunächst Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchende und stellten am 26.04.2016 Asylanträge.

Der Kläger zu 1. berichtete in seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 27.07.2017, er habe bis zum Jahr 2004 in Bagdad gelebt. Sein Vater sei Militäroffizier im Saddam-Regime gewesen. Nach der Eroberung des Irak durch die Amerikaner sei es im Jahr 2003 zu Hausdurchsuchungen durch die Amerikaner und durch unbekannte Personen gekommen. Sein Vater sei ausgereist und er sei nach K. in der Provinz Salah Al-Din umgezogen. Er sei Fotograf und habe von 2005 bis 2006 für das L. (M.) gearbeitet. Diese Arbeit habe er aufgrund von Drohungen aufgegeben. Auch danach sei er bedroht worden, aber nicht so oft. Am 10.06.2014 sei der IS in K. eingerückt, habe willkürlich Menschen verhaftet, Häuser durchsucht und den Leiter des M. und vermeintliche Kollaborateure mit den Amerikanern getötet. Außerdem hätten irakische Flugzeuge die Stadt bombardiert. Deshalb habe er am 15.06.2014 die Stadt verlassen und eine Wohnung in Kirkuk angemietet. Dort habe er mit seiner Frau, seinen Geschwistern und seiner Mutter gelebt. Im März 2015 sei K. von der Hashd-Alshabi-Miliz befreit worden, die die Häuser geplündert und in der Umgebung der Stadt 250 Menschen festgenommen habe. Am 10.06.2015 habe jemand bei ihnen geklingelt. Sein Bruder N. habe die Tür geöffnet und dann habe es eine Explosion gegeben, bei der sein Bruder, der vor ihm stand, verletzt worden sei. Er wisse nicht, wer für die Explosion verantwortlich gewesen sei. Nach Bagdad habe er nicht zurückkehren können, weil er Sunnit und Angehöriger der Familie O. sei. Die Mitglieder der Familie seien nach der Besatzung als Mitglieder der Baath-Partei bezeichnet worden, einer aus dem Clan sei Stellvertreter des Präsidenten gewesen.

Die Klägerin zu 2. teilte in ihrer Anhörung am 27.07.2017 mit, sie sei in K. als Lehrerin tätig gewesen, bis der IS sie angegriffen habe. Er habe den Schulalltag beeinflusst und Frauen hätten nicht mehr arbeiten und nur noch vollverschleiert auf die Straße gehen dürfen. Es sei Prüfungszeit gewesen und sie sei mit anderen Lehrerinnen zusammen im Auto zur Schule gefahren. An einem Kontrollpunkt seien sie vom IS angehalten und zurückgeschickt worden. Als die Stadt eingenommen wurde, seien sie mit Raketen beschossen worden. Deshalb habe sie nicht mehr gearbeitet. Kurz nach dem IS-Angriff seien sie nach Kirkuk geflohen. Ins Ausland hätten sie zunächst nicht gekonnt. In Kirkuk hätten weder sie noch der Kläger zu 1. Arbeit gefunden. Nachdem das Gebiet im März 2015 befreit worden sei, seien sie dazu aufgefordert worden, zurückzukehren. Das sei wegen der Milizen aber nicht möglich gewesen. Nach Bagdad hätten sie wegen der Probleme zwischen den Sunniten und Schiiten und wegen der Familienzugehörigkeit ihres Mannes nicht zurückgekonnt. Wenn sie dessen Namen gehört hätten, habe es Probleme gegeben. Anhand der Ausweise habe es Tötungen und Verhaftungen gegeben. Vor ihrem Wegzug im Jahr 2004 hätten sie versucht, dort in einem anderen Stadtteil zu leben.

Mit Bescheid vom 17.08.2017 lehnte das Bundesamt es ab, die Kläger als asylberechtigt anzuerkennen oder ihnen die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (Nrn. 1 bis 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Nach Ablauf einer Ausreisefrist 30 Tagen drohte es dem Kläger die Abschiebung in den Irak oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nrn. 5 und 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, den Klägern sei persönlich durch den IS nichts widerfahren. Die vom Kläger zu 1. geschilderten Bedrohungen wegen seiner Tätigkeit für das M. stünden nicht in Zusammenhang mit der Ausreise. Bei der Explosion in Kirkuk fehle es an flüchtlings- bzw. asylspezifischen Verfolgungsgründen. Zudem stehe den Klägern im Irak interner Schutz zur Verfügung. Sie könnten weiterhin in Kirkuk leben, das unter Kontrolle kurdischer Streitkräfte stehe. Gleiches gelte für ihre Herkunftsprovinz Salah Al-Din, K. sei bereits im März 2015 wieder vom IS befreit worden. Durch die Rente der Klägerin zu 2., Aushilfsarbeiten und Unterstützung von im Ausland lebenden Verwandten könnten die Kläger ihren Lebensunterhalt bestreiten. Aus den genannten Gründen drohe den Klägern auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Asylgesetz (AsylG). Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger nicht. Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG seien weder vorgetragen noch ersichtlich.

Am 31.08.2017 haben die Kläger Klage erhoben. Sie machen geltend, sie seien immer wieder in Verbindung mit der Baath-Partei gebracht worden und aufgrund der ihnen zugeschriebenen politischen Überzeugung vermehrt auch vom IS bedroht worden. Die Explosion vor ihrer Haustür sei eine eindeutige Verfolgungshandlung gewesen und habe anstelle des Bruders ebenso gut die Kläger treffen können. Jedenfalls sei ihnen subsidiärer Schutz zu gewähren, da im Irak ein innerstaatlicher Konflikt bestehe, der sich auf die Zivilbevölkerung ausweite. Insbesondere im Rahmen des Kampfes gegen den IS würden durch Regierungstruppen und paramilitärische Milizen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verübt. Aufgrund der Gefahren durch Anschläge des IS und Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien müssten zudem Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festgestellt werden.

In der mündlichen Verhandlung haben die Kläger die Klage hinsichtlich der begehrten Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen.

Nunmehr beantragen sie,

die Beklagte unter Teilaufhebung des Bescheides vom 17.08.2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihnen subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 26.11.2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung kann ein Urteil ergehen, da sie gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann.

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen haben, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Die Beklagte ist zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. In Bezug auf die Ziffern 1, 2 bis 6 ist der Bescheid vom 17.08.2017 daher aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

I. Der Kläger zu 1. hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 Asylgesetz (AsylG). Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Als derartige Verfolgung kann nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten.

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn (a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. § 3b Abs. 2 AsylG stellt klar, dass es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Die Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. ausführlich u. m.w.N. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16 ff.).

Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), einzuholen.

Nach diesen Maßgaben ist dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil ihm sowohl vonseiten des IS als auch vonseiten schiitischer Milizen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund flüchtlingsspezifischer Merkmale droht (nachfolgend unter 1. und 2.) und ihm keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht (nachfolgend unter 3.).

1. Nach der Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass der Kläger zu 1. bei einer Rückkehr in seinen Heimatort K. (alternativ geschrieben P., Q., R., S.) damit rechnen müsste, von Angehörigen oder Sympathisanten des IS wegen der ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung verletzt, entführt oder sogar getötet zu werden.

Die Einzelrichterin hält Vortrag der Kläger insgesamt für glaubhaft. Bei ihrer getrennten Befragung haben sie die Ereignisse übereinstimmend, aber jeweils aus ihrer eigenen Perspektive und mit ihrer eigenen, recht unterschiedliche Erzählstruktur unter Wiedergabe von Details, Gedanken und Emotionen geschildert. Auf Nachfrage konnten sie tiefer in die Erzählungen einsteigen, zeitlich mühelos hin und her springen und vermeintliche Widersprüche auflösen. Teilweise plausibilisierten sie ihr Vorbringen durch die Vorlage von Urkunden wie ihren Dienstausweisen und von Fotos. Im Vergleich zu ihren Angaben vor dem Bundesamt blieben die Aussagen konstant, konnten aber substantiiert und durch aktuelle Entwicklungen ergänzt werden.

Demnach hat der Kläger zu 1. in den Jahren 2005 und 2006 im Bereich Telekommunikation für das örtliche M. gearbeitet, das die Zusammenarbeit zwischen der US-amerikanischen Besatzung und den örtlichen Sicherheitskräften koordinierte. Seinerzeit wurde er – ebenso wie zahlreiche Kollegen – wiederholt mit Drohbriefen aufgefordert, die Tätigkeit für das M. aufzugeben. Nachdem mehrere Kollegen getötet worden waren, beendete der Kläger seine Arbeit dort. Gleichwohl wurde er im Ort weiterhin als „Agent“ bezeichnet und erhielt bis zum Jahr 2014 immer wieder Drohbriefe, denen allerdings keine Taten folgten. Als kurz vor dem Einmarsch des IS im Juni 2014 der ehemalige stellvertretende Leiter des M. entführt und mutmaßlich getötet wurde und der IS nach seinem Einmarsch in der Gegend etliche Personen ermordete, die für die Amerikaner gearbeitet hatten, floh er aus Angst vor dem gleichen Schicksal nach Kirkuk. Die Sorge, massiven Übergriffen durch den IS ausgesetzt zu sein, war seinerzeit begründet und ist es weiterhin. Als ehemaliger Mitarbeiter des M., der in der örtlichen Gemeinschaft noch immer als Kollaborateur mit den Besatzern angesehen wird, erfüllt er das Risikoprofil eines Zivilisten, der verdächtigt wird, mit den irakischen Sicherheitskräften und damit verbundenen Kräften zu kooperieren (vgl. zu diesem Profil UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 78 ff.; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 134 ff.). In seiner Person tritt risikoerhöhend hinzu, dass er (ebenso wie der „verschwundene“ ehemalige stellvertretende Leiter des M.) Mitglied des Stammes O. ist, der enge Verbindungen zum Saddam-Regime hatte und beispielsweise einen Stellvertreter des Präsidenten stellte, dass er den Stammesnamen als Nachnamen trägt und dass sein Vater Militäroffizier im Saddam-Regime war. Zudem war die Klägerin zu 2., als Cousine väterlicherseits des Klägers zu 1. ebenfalls eine Angehörige des Stammes O., langjährig vor Ort als Lehrerin tätig (vgl. zum Risikokprofil von Angehörigen von Stämmen, die mit der Regierung verbunden sind: UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 81 f.; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 138 ff.). Auch wenn die Herrschaft über die Provinz Salah Al-Din im Jahr 2015 vom IS zurückerobert wurde, ist er doch weiterhin mit mehreren hundert aktiven Kämpfern und einer ähnlichen Anzahl von „Schläfern“ vor Ort und verübt Anschläge auf die Bevölkerung und die Sicherheitskräfte. Allein im ersten Halbjahr 2020 wurden in der Provinz Salah Al-Din knapp 70 Anschläge durch den IS registriert, wobei ein ein Schwerpunkt der zunehmenden Aktivität in der Jallam-Wüste gesehen wird, die östlich des Ortes Al Door liegt (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Sicherheitslage, Oktober 2020, S. 157 ff.).

Ein effektiver Schutz vor dem IS kann weder durch den irakischen Staat noch durch die Volksmobilisierungskräfte gewährt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 25.10.2021, S. 15).

2. Daneben droht dem Kläger zu 1. aufgrund besonderer, in seiner Person bestehender Gefährdungsmerkmale eine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der sunnitischen Araber (sog. Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit) durch die vor Ort aktiven schiitischen Milizen.

Die Einzelverfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten durch gemeinsame Merkmale verbundenen Gruppe von Menschen ist von der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Bei der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit werden aus bestimmten Anlässen einzelne oder einige Mitglieder aus einer Gruppe herausgegriffen und einer politischen Verfolgung unterworfen. Die Gruppe als solche bleibt unverfolgt. Demgegenüber liegt eine Gruppenverfolgung vor, wenn die Gruppe als solche Ziel einer politischen Verfolgung ist, so dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe allein deswegen, weil es die gruppenspezifischen Merkmale besitzt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung zu befürchten hat. Bei einer derartigen Gruppenverfolgung – möglicherweise durch historisch gewachsene generelle Abneigungen und Hassgefühle gegen ein Volk oder eine Rasse ausgelöst – ist jeder Angehörige der Gruppe als von deren Verfolgungsschicksal in seiner Person unmittelbar betroffen anzusehen, wenn nicht Tatsachen die dafür sprechende Regelvermutung widerlegen, also Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass der einzelne Gruppenangehörige von der Gruppenverfolgung ausgenommen ist (BVerwG, Urt. v. 30.10.1984 – 9 C 24/84 –, juris Rn. 12).

Die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, setzt nicht voraus, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt. Für eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit, die mit einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" begründet wird, gilt das Erfordernis der Verfolgungsdichte deshalb nicht. Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um ein als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsakteur zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgers zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern – jedenfalls in manchen Fällen – nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des einzelnen aus, so kann hiernach eine "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.2.1996 – 9 B 14/96 –, juris Rn. 4-5 m.w.N.).

Auch wenn es häufige Anschuldigungen gegen schiitische Milizen wegen gewaltsamer Übergriffe gegen Sunniten gibt (EASO, Country Guidance: Iraq, Common Analysis and Guidance Note, Januar 2021, S. 68), ist doch die Verfolgungsdichte nicht hoch genug, um mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak anzunehmen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 05.11.2020 – 9 LA 107/20 -, juris Leitsatz 1 u. Rn. 9 ff.). Bei dem Kläger zu 1. treten jedoch besondere gefahrerhöhende Umstände hinzu, die in der Gesamtschau bei seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgung befürchten lassen.

Der erste Faktor ist seine Herkunft aus dem Ort K., wo bereits eine massive Verfolgung sunnitischer Männer stattgefunden hat. So haben die Kläger im Einklang mit der Erkenntnislage berichtet, dass die schiitischem Milizen, die den sunnitisch geprägten Ort im März 2015 vom IS befreiten, drei Viertel der Häuser des Ortes zerstört und die ungefähr 250 dort gebliebenen Männer verschleppt haben, und dass bis heute nicht bekannt ist, was aus den Männern wurde (vgl. Global Public Policy Institute (GPPI), E. Gaston u. A. Derzsi-Horvath, Iraq After ISIL, Sub-State Actors, Local Forces, and the Micro-Politics of Control, März 2018, S. 72 Fußnote 133). Auch aktuell befinden sich noch schiitische Milizen in K. (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Sicherheitslage, Oktober 2020, S. 160). Zum Zweiten spielen auch in diesem Zusammenhang die offenkundige Zugehörigkeit des Klägers zu 1. zum sunnitischen Stamm O. sowie die exponierte Tätigkeit seines Vaters für das Saddam-Regime eine Rolle. Und schließlich hebt den Kläger auch seine Tätigkeit für das M. hervor, wenngleich dieser Aspekt alleine wohl keine ausschlaggebende Bedeutung für die schiitischen Milizen mehr hätte (vgl. zur abnehmenden Gefährdung (vermeintlicher) Kollaborateure westlicher Streitkräfte durch schiitische Milizen: EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 82 f.).

Die Gefahrprognose wird untermauert durch das von den Klägern dargestellte Schicksal des Onkels mütterlicherseits der Klägerin zu 2., der als sunnitischer Araber und ehemaliger Mitarbeiter des M. beim Einmarsch des IS nach Jordanien geflohen war und bei seiner Rückkehr nach Al Door vor einigen Monaten sofort „verschwand“ und dessen Verbleib bislang nicht aufgeklärt werden konnte.

Ob die schiitischen Milizen der Volksmobilisierungseinheiten als staatliche oder als nichtstaatliche Akteure einzuordnen sind, kann offenbleiben, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass die örtliche Polizei oder andere Organisationen den Kläger zu 1. dauerhaft und wirksam schützen können und wollen. Große Teile der Provinz Salah al-Din werden de facto von Volksmobilisierungseinheiten kontrolliert, während die irakischen Sicherheitskräfte die Kontrolle nur dem Namen nach ausüben (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Sicherheitslage, Oktober 2020, S. 167). Zudem ist bekannt, dass im Irak allgegenwärtige Korruption herrscht, die Anwendung bestehender Gesetze nicht gesichert ist und die Verfolgung von Straftaten unzureichend stattfindet (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 25.10.2021, S. 5, 9, 12). Insgesamt werden den Volksmobilisierungseinheiten illegale wirtschaftliche Tätigkeiten wie räuberische Erpressung, Erhebung von Abgaben, Betrug und Diebstahl nachgesagt. Gegen die großen vom Iran unterstützten schiitischen Milizen greift der Staat nicht durch, selbst wenn sie in die organisierte Kriminalität verwickelt sind (EASO, Irak, Sicherheitslage, Informationsbericht über das Herkunftsland, Oktober 2020, S. 22, 41 f.).

3. Der Kläger zu 1. kann nicht auf eine inländische Schutzalternative nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG verwiesen werden. Zwar wird er nicht landesweit mit einer Verfolgung rechnen müssen. Es kann jedoch nicht erwartet werden, dass der Kläger sich in der Autonomen Region Kurdistan oder im Süden des Landes niederlässt. Für diese Erwartung müssen die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen vor Ort wenigstens so gestaltet sein, dass das Existenzminimum des betroffenen Ausländers gewährleistet ist (BVerwG, Urt. v. 29.05.2008 - 10 C 11/07 - BVerwGE 131, 186, juris Rn. 32; Urt. v. 14.11.2012 - 10 B 22/12 - juris Rn. 9; ausführlich OVG Bremen, Urt. v. 26.05.2020 - 1 LB 56/20 - juris Ls. 1 bis 3 u. Rn. 65 ff.).

a) Zwar sind für den Zuzug in die Autonomen Region Kurdistan aktuell keine Bürgen mehr erforderlich (EASO, Country Guidance: Iraq, Common Analysis and Guidance Note, Januar 2021, S. 169), die humanitäre Situation ist jedoch angespannt.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Autonome Region Kurdistan eine zumutbare interne Schutzalternative darstellt, muss berücksichtigt werden, dass angesichts der anhaltend hohen Zahlen vertriebener Bevölkerungsgruppen in der Region (mehr als 40 Prozent der insgesamt 1,7 Mio. Binnenvertriebenen im Irak und fast alle der 250.000 syrischen Flüchtlinge) und vor dem Hintergrund sich verschlechternder sozio-ökonomischer Bedingungen und steigender Armut in der Autonomen Region Kurdistan sowie aufgrund begrenzter (und rückläufiger) humanitärer Hilfe – vor allem außerhalb von Binnenvertriebenenlagern – ernsthafte Bedenken bezüglich der Grenzen der Aufnahmekapazitäten der Region bestehen. Die Anwesenheit einer großen Zahl vertriebener Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich in und rund um urbane Gebiete, hat Berichten zufolge die lokalen Dienstleistungen und die lokale Infrastruktur belastet, den Kampf um Arbeitsplätze verschärft und zu einem bedeutenden Rückgang des Lebensstandards in der gesamten Autonomen Region Kurdistan beigetragen.

Es wird berichtet, dass Binnenvertriebene in der Autonomen Region Kurdistan Probleme beim Zugang zu Erwerbstätigkeit haben und dass viele von ihnen nur Gelegenheitsjobs finden, wodurch sie kein geregeltes Einkommen haben. Für Binnenvertriebene ist es schwierig, Arbeitsplätze zu finden, die es ihnen ermöglichen, ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten – einschließlich der Kosten für Gesundheitsversorgung, Bildung und Unterkunft – zu decken. Arabische Binnenvertriebene sind Berichten zufolge bei der Arbeitsplatzsuche mit zusätzlichen Schwierigkeiten aufgrund von negativen Vorurteilen und Sprachbarrieren konfrontiert. Für Binnenvertriebene, die außerhalb von Lagern leben, ist es möglicherweise schwierig, mit jenen, die in Lagern leben, zu konkurrieren, da die Lebenshaltungskosten in den Lagern geringer sind und die Lagerbewohner daher niedrigere Löhne akzeptieren können. Der öffentliche Sektor, der eine zentrale Rolle in der Wirtschaft der Autonomen Region Kurdistan spielt, steht Nichtkurden von außerhalb der Region in der Regel nicht offen. Patronage und Vetternwirtschaft unter Familien und Freunden stellen in der Autonomen Region Kurdistan nach wie vor einen wichtigen Faktor bei der Arbeitsplatzsicherung dar, wodurch sich für Personen, die nicht aus dem Gebiet stammen, ein Nachteil ergibt. Angesichts der begrenzten Möglichkeiten zur Sicherung der Existenzgrundlage sind Haushalte Binnenvertriebener zur Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse zunehmend auf negative Bewältigungsstrategien – einschließlich Verschuldung, Kinderehe, Zwangsehe, Kinderarbeit und Reduzierung der Nahrungsaufnahme – angewiesen.

Der fehlende Zugang zu Erwerbstätigkeit führt oft zu Schwierigkeiten beim Zugang zu Nahrung, Gesundheitsversorgung und Unterkunft. Da die Mietpreise in der Autonomen Region Kurdistan relativ hoch und ansteigend sind, sind viele Binnenvertriebene nicht in der Lage, die steigenden Kosten zu zahlen und sind einem Räumungsrisiko ausgesetzt und/oder gezwungen, in Binnenvertriebenenlager umzuziehen. Allerdings unterliegt die Aufnahme in Lager Platzbeschränkungen und wird deshalb durch Wartelisten reguliert. Jene, die in prekären Behausungen wie unfertigen oder verlassenen Gebäuden leben, haben oft keinen oder beschränkten Zugang zu ausreichend Wasser, Strom, Heizung und sanitärer Infrastruktur und sind rauen Wetterbedingungen, z.B. aufgrund von undichten Dächern, Löchern in den Wänden und kaputten Fenstern, ausgesetzt.

Vor diesem Hintergrund vertrat der UNHCR schon vor der Covid-19-Pandemie die Ansicht, dass eine interne Schutzalternative in der Autonomen Region Kurdistan grundsätzlich nicht zumutbar ist. Die einzige Ausnahme stellten nach dem UNHCR Antragsteller dar, bezüglich derer festgestellt werden könne, dass sie basierend auf den individuellen Umständen ihres Falles Zugang haben zu einer angemessenen Unterkunft im geplanten Neuansiedlungsgebiet innerhalb der Autonomen Region Kurdistan (wobei Lager für Binnenvertriebene oder informelle Siedlungen nicht als „angemessene Unterkunft“ gelten), Grundversorgung im geplanten Neuansiedlungsgebiet in der Autonomen Region Kurdistan (z.B. zu Trinkwasser und sanitärer Infrastruktur, Strom, Gesundheitsversorgung und Bildung) und Erwerbsmöglichkeiten oder im Falle von Antragstellern, von denen nicht erwartet werden kann, dass sie ihren eigenen Lebensunterhalt sichern (z.B. weiblich geführte Haushalte, ältere Antragsteller oder Antragsteller mit Behinderungen), erwiesene und nachhaltige Unterstützung, durch die ein angemessener Lebensstandard gewährleistet ist (UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 142 ff. m.w.N.).

Die Situation der Binnenvertriebenen hat sich im Übrigen in den vergangenen Monaten aufgrund der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf den Irak weiter verschärft. Insoweit ist festzustellen, dass die zur Bekämpfung der Pandemie von der irakischen Regierung und der kurdischen Regionalregierung verhängten Beschränkungen erhebliche Auswirkungen auf die irakische Wirtschaft, die Versorgungssituation und den Arbeitsmarkt hatten und haben. Insbesondere der Bereich der Gelegenheitsarbeit hat einen starken Rückgang an Erwerbsmöglichkeiten verzeichnet. Auch hat sich infolge der Pandemie die – durch den niedrigen Ölpreis bereits vorbelasteten – Gesamtwirtschaftslage des Irak verschlechtert. Zwar sind neben der etwa seitens der USA, des UNHCR und der Weltbank geleisteten erheblichen finanziellen und materiellen Unterstützung des Irak Projekte ins Leben gerufen worden, um Betroffenen Möglichkeiten zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu verschaffen. Auf der anderen Seite zeigen die Erkenntnismittel jedoch auch auf, dass insbesondere besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und Flüchtlinge die Hauptlast der Pandemie tragen, mit besonderen Schwierigkeiten bei der Lebensunterhaltssicherung und mit Einschränkungen der humanitären Hilfe konfrontiert sind und dadurch notwendige Dienstleistungen und Grundnahrungsmittel für sie nicht verlässlich verfügbar sind (vgl. (vgl. zum Vorstehenden US Aid, Iraq - Complex Emergency, Fact Sheet #2, vom 8.5.2020; World Bank, World Bank deploys US$ 33.6 million in emergency response to help Iraq face the Coronavirus outbreak, vom 12.5.2020; UNHCR/WFP, UNHCR and WFP extend assistance net to cover displaced and refugee families affected by pandemic, vom 13.5.2020; IOM, SMEs report grave decline in production and sales during COVID-19 pandemic: IOM Iraq study, vom 14.5.2020; US Aid, Food Assistance Fact Sheet Iraq, vom 14.5.2020; WFP, Iraq Market Monitor Report April 2020; IOM, SMEs report grave decline in production and sales during COVID-19 pandemic: IOM Iraq study, vom 14.5.2020; OCHA, Iraq Humanitarian Bulletin April 2020, vom 26.5.2020, S. 3; FAO, World Bank Group, WFP, Iraq COVID-19 Food Security Monitor, Issue 5, 6, 7 und 16, vom 12.5.2020, 19.5.2020, 2.6.2020 und 25.8.2020; WHO, THE COVID-19 PROGRESS REPORT February to July, 2020, 4.9.2020, Ground Truth Solutions, Iraq: How the most vulnerable contend with COVID-19 – and restrictions to keep them safe, 4.9.2020; IOM, IRAQ COVID-19 RESPONSE OVERVIEW #6, 10.11. – 6.12.2020; zur Situation in der Autonomen Region Kurdistan auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand Januar 2021, S. 20; unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie Nds. OVG, Beschl. v. 11.03.2021 – 9 LB 129/19 – juris Rn. 155 ff.).

Der Kläger zu 1. hat als sunnitischer Araber im wehrfähigen Alter aus einem ehemals vom IS besetzten Gebiet und mit einem Nachnamen mit Stammesbezug mit besonderen Vorbehalten zu rechnen. Er und die Klägerin zu 2. haben kein Netzwerk in Kurdistan und sprechen auch nicht kurdisch. Es kann daher nicht angenommen werden, dass es dem Kläger zu 2. gelingen wird, sich in der Autonomen Region Kurdistan anzusiedeln und dort sein Existenzminimum zu sichern.

b) Eine Ansiedlung des Klägers zu 1. in Bagdad scheidet aus, da er dort als Mitglied des Stammes O. und wegen der Aktivitäten seines Vaters bereits bedroht worden und deshalb im Jahr 2004 von Bagdad nach K. gezogen war. Zwar liegen diese Vorfälle lange zurück, es gibt aber auch aktuell noch starke Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen und Verfolgung sunnitischer Araber durch schiitische Milizen (vgl. EASO, Country Guidance: Iraq, Common Analysis and Guidance Note, Januar 2021, S. 68). Neben den seinerzeit maßgeblichen Umständen käme bei einer Rückkehr des Klägers zu 1. nach Bagdad nunmehr noch hinzu, dass er aus einer vom IS besetzten Stadt stammt.

c) Einer Niederlassung des Klägers zu 1. in Basra steht bereits entgegen, dass er dafür einen Bürgen, einen Unterstützungsbrief des Ortsvorstehers und eine Sicherheitsüberprüfung vorweisen müsste (zu den Anforderungen EASO, Country Guidance: Iraq, Common Analysis and Guidance Note, Januar 2021, S. 168). Es ist nicht ersichtlich, wie er diese beschaffen sollte.

Darüber hinaus sind nach Auffassung des UNHCR in den urbanen Gegenden im Südirak die einzigen Personengruppen, denen unter Umständen auch ohne externe Unterstützung eine Niederlassung dort zugemutet werden kann, arabische Schiiten, die entweder alleinstehende körperlich leistungsfähige Männer oder kinderlose Paare im arbeitsfähigen Alter ohne besondere Vulnerabilitäten sind (UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S.141 f.). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger zu 1. nicht.

II. Die Klägerin zu 2. hat als Ehefrau des Klägers zu 1. einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG.

Der unanfechtbaren Anerkennung des Stammberechtigten, die nach § 26 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 AsylG für die Gewährung von Familienflüchtlingsschutz erforderlich ist, steht dabei die rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Anerkennung des Stammberechtigten gleich (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 –, juris Ls. 2.a) u. Rn. 29). Die in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 5 AsylG normierte Voraussetzung, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Stammberechtigten unanfechtbar bzw. rechtskräftig geworden sein muss, berücksichtigt die Einzelrichterin dadurch, dass die Beklagte lediglich verpflichtet wird, die positive Entscheidung bezüglich der Klägerin zu 2. unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der Rechtskraft des den Kläger zu 1. betreffenden Teils des vorliegenden Urteils auszusprechen. Auf diese Weise wird der Eintritt der Voraussetzungen des zu erteilenden Verwaltungsakts gewährleistet.

III. Nach alledem ist die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Neben der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides müssen folglich auch die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (mit dem damit konkludent angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot, vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 55 m.w.N.) in den Ziffern 3 bis 6 aufgehoben werden.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.