Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 31.01.2023, Az.: 4 LB 246/19

Albinismus; Asyl; wirtschaftliches Existenzminimum; Flüchtlingseigenschaft; Gruppenverfolgung; Klagebegehren; Ruanda; Streitgegenstand; Vitiligo; Weißfleckenkrankheit; Asyl - Ruanda; Verfolgung von Menschen mit Albinismus oder Vitiligo

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
31.01.2023
Aktenzeichen
4 LB 246/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 16296
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0131.4LB246.19.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 24.07.2019 - AZ: 3 A 765/17

Fundstelle

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zur Auslegung des Klagebegehrens im Asylprozess.

  2. 2.

    In Ruanda besteht derzeit keine Gruppenverfolgung von Menschen, die wegen Albinismus oder Vitiligo weißhäutig sind.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen - 3. Kammer (Einzelrichter) - vom 24. Juli 2019 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in der Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil, mit dem sie verpflichtet worden ist, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der 1970 geborene Kläger ist ruandischer Staatsangehöriger. Trotz seiner schwarzafrikanischen Ethnie ist er aufgrund der bei ihm weit vorangeschrittenen Weißfleckenkrankheit (Vitiligo) weißhäutig. Er reiste am 20. Juni 2016 mit einem Flug von Entebbe (Uganda) und Zwischenhalt in Istanbul (Türkei) nach Frankfurt am Main und stellte im Folgenden in Deutschland einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung am 21. September 2017 gab der Kläger an, er habe in Ruanda von 1993 bis 1998 Wehrdienst geleistet, danach die Secondary School besucht und anschließend studiert. Er habe Abschlüsse in den Fächern Maschinenbau (Bachelor) und Logistik (Master) erworben. Nach einer zweijährigen Tätigkeit für die Lutheran World Federation habe er vor seiner Ausreise zuletzt vier Jahre lang von 2011 bis 2015 für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gearbeitet, zuletzt für sechs Monate im Südsudan. Grund für seinen Asylantrag sei, dass er in seinem Heimatland keine Sicherheit mehr gehabt habe. Lokale Vertreter der Regierungspartei Ruandische Patriotische Front (RPF) hätten ihn seit 2009 immer wieder zu Treffen der Partei eingeladen und aufgefordert, in die Partei einzutreten; das habe er aber abgelehnt. Außerdem habe er Konflikte mit seiner Frau gehabt, die nicht akzeptiert habe, dass eine Nichte von ihm mit in dem gemeinsamen Haushalt in Kigali gelebt habe. Nach seiner Rückkehr aus dem Südsudan nach Ruanda im November 2015 hätten ihn Unbekannte wöchentlich mehrmals in SMS-Nachrichten bedroht. Darin habe es geheißen, dass er Geld aus dem Sudan erhalten hätte und dass er aufpassen müsse, nicht abzuheben und arrogant zu werden. "Sie wollten, dass ich bodenständig bleibe. Den Job im Sudan hätte ich ja nur bekommen, weil mir jemand diesen Job gegeben hatte." Ähnliche Dinge hätten auch Soldaten in seinem Beisein geäußert, die seine Frau seit Beginn der Eheprobleme immer wieder zu ihnen nach Hause eingeladen habe. Die Soldaten hätten bei diesen Besuchen nicht direkt von ihm geredet, aber er habe gewusst, dass er gemeint sei. Er habe aufgrund dessen gedacht, dass sie ihn irgendwann töten würden. Außerdem habe er in Ruanda keine Meinungsfreiheit mehr gehabt. Da sein Vater Hutu und seine Mutter Tutsi sei und er somit nicht einer Volksgruppe zugerechnet werden könne, sei er zudem schon während der Schulzeit ethnisch diskriminiert worden.

Mit Bescheid vom 4. Dezember 2017 lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), die Anerkennung von Asyl (Nr. 2) sowie die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Beklagte forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Ruanda zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids, im Fall einer Klageerhebung nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens auf (Nr. 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 15. Dezember 2017 zugestellt.

Auf die daraufhin vom Kläger am 19. Dezember 2017 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil vom 24. Juli 2019 die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und die Ziffern 1., 4., 5. und 6. des Bescheides vom 4. Dezember 2017 aufgehoben. Der Kläger habe einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da ihm im Falle einer freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehr nach Ruanda mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem Schutzbereich des § 3 AsylG unterfallende Rechtsverletzungen drohten. Das Gericht gehe in Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden Mehrheit der zu Ruanda an verschiedene Verwaltungsgerichte erstatteten Auskünfte zusammengefasst davon aus, dass die ruandische Regierung in besonderer Weise um ein positives Bild des Landes in den Augen der Weltöffentlichkeit besorgt sei und von den Staatsangehörigen Ruandas erwartet werde, sich dieses Anliegen zu eigen zu machen und sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen, während zugleich innerstaatliche Kritik oder Opposition unterdrückt würden; dass die ruandische Regierung im Rahmen dieser Politik das Stellen von Asylanträgen im Ausland durch Einwohner generell als dem Ruf Ruandas in der Welt abträglich und konkret als Ablehnung des Ruandischen Staates durch den Antragsteller betrachte; dass die Regierung mit dehnbaren Straftatbeständen ein erhebliches Sanktionspotential für politisch abweichende Ansichten geschaffen habe und durch einen hierarchischen Aufbau von Verwaltung und Regierungspartei zu kleinräumiger Überwachung in der Lage sei; dass die ruandische Regierung Einschüchterung, Gewalt und Freiheitsentziehungen bei der Unterdrückung jeglicher Opposition willkürlich und ohne effektive justizielle Kontrolle einsetze und im Ergebnis abgelehnte und abgeschobene Asylbewerber bei ihrer Befragung durch die Sicherheitsbehörden mit hinreichender Sicherheit Gefahr laufen, unabhängig vom Wahrheitsgehalt solcher Vorwürfe mit oppositionellen Bestrebungen in Verbindung gebracht und entsprechend behandelt zu werden, ohne dass ihnen effektiver (Rechts-)Schutz zur Seite stehe. Die in dem angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, sei angesichts der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenstandslos. Die Aufhebung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung folge aus § 34 Abs. 1 AsylG und diejenige des Einreise- und Aufenthaltsverbots aus § 11 Abs. 1 AufenthG.

Der Senat hat auf Antrag der Beklagten mit Beschluss vom 1. November 2019 - 4 LA 194/19 - die Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage zugelassen, ob die ruandische Regierung das Stellen von Asylanträgen im Ausland durch Einwohner Ruandas generell als dem Ruf Ruandas in der Welt abträglich und als Ablehnung des ruandischen Staates durch den Asylantragsteller betrachtet und ob zurückkehrenden bzw. nach Ruanda rückgeführten Asylantragstellern somit eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird, die bei Rückkehr zu einer politischen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bzw. Art. 16a Abs. 1 GG führt. Der Beschluss ist der Beklagten am 5. November 2019 zugestellt worden.

Die Beklagte bezieht sich in der am 6. November 2019 erfolgten Begründung der Berufung auf ihre Ausführungen im Zulassungsantrag, auf die Gründe des Senatsbeschlusses vom 1. November 2019 sowie auf die Begründung ihres Bescheides vom 4. Dezember 2017. Ferner hat die Beklagte auf Aufforderung des Berichterstatters zu etwaigen Bedrohungen, Repressalien und Benachteiligungen vorgetragen, denen von Albinismus oder Vitiligo betroffene Menschen in Ruanda ausgesetzt sind. Sie meint, der Erkenntnismittellage sei eine allgemeine Verfolgungssituation von Personen mit Vitiligo oder Albinismus nicht zu entnehmen; Ruanda scheine sich im Umgang mit den Betroffenen im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern als gemäßigt darzustellen. Der Kläger habe zu seiner Erkrankung und sich daraus ergebenden Ausgrenzungen auch erstmals im gerichtlichen Verfahren vorgetragen, ohne konkrete Ausgrenzungsereignisse zu schildern.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 24. Juli 2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er meint, dass er aufgrund seiner Weißfleckenkrankheit, die bei ihm mittlerweile zu einer Außenwahrnehmung als Albino geführt habe, im Falle der Rückkehr nach Ruanda mit einer lebensbedrohlichen Verfolgung durch die Mehrheitsbevölkerung rechnen müsse und nicht mit staatlichem Schutz rechnen könne, und verweist hierzu auf Presseberichte. Deshalb habe er Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf subsidiären Schutz und auf die Feststellung von Abschiebungsverboten; letztere bestünden auch mangels Möglichkeit der Existenzsicherung in Ruanda. Darüber hinaus leide er infolge seiner begründeten Angst vor einer lebensgefährlichen Verfolgung unter einer massiven psychischen Erkrankung, die sich im Falle der Rückkehr nach Ruanda erheblich verschlechtern würde und dort nicht behandelbar sei.

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2023 zu seinem Verfolgungsschicksal informatorisch befragt worden. Hinsichtlich des Inhalts der Befragung wird auf die Verhandlungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten, über die der Berichterstatter im Einverständnis mit den Beteiligten anstelle des Senats entscheidet (vgl. §§ 87a Abs. 2 und 3, 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat Erfolg.

I. Streitgegenstand der Klage und auch des Berufungsverfahrens ist in der Hauptsache das Verpflichtungsbegehren des Klägers auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Als Hilfsanträge umfasst das Klagebegehren darüber hinaus die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten sowie die Aufhebung der Abschiebungsandrohung. Soweit der Berichterstatter des Senats in der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2023 geäußert hat, er tendiere dazu, das erstinstanzliche Klagebegehren dahingehend einschränkend auszulegen, dass nur die Asylberechtigung und die Flüchtlingseigenschaft Streitgegenstand des Verfahrens seien, hält er an dieser Ansicht nicht fest (1.). Außerdem ist auch die Anfechtung der von der Beklagten gemäß § 11 AufenthG verfügten Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots Streitgegenstand des Berufungsverfahrens (2.).

1. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist hinreichend geklärt, wie Klageanträge im Asylprozess unter Berücksichtigung der typischen Interessenlage des im Verwaltungsverfahren unterlegenen Asylsuchenden typischerweise zu verstehen sind. Aufgrund des Rangverhältnisses der asylrechtlichen Ansprüche richtet sich das Rechtsschutzbegehren in aller Regel vorrangig als Hauptantrag auf die Verpflichtung des Bundesamtes zur Gewährung von Asyl und/oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Für den Fall, dass dieses Hauptbegehren insgesamt ohne Erfolg bleibt, sind zusätzliche nachrangige Rechtsschutzbegehren die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter nachrangig die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten sowie gegebenenfalls auch nur die Aufhebung der Abschiebungsandrohung. Der typischen Interessenlage des im Verwaltungsverfahren unterlegenen Asylsuchenden entspricht es, sein dem Verwaltungsgericht unterbreitetes Rechtsschutzbegehren in diesem Sinne sachdienlich umfassend auszulegen, wenn es nicht ausnahmsweise deutlich erkennbar eingeschränkt sein sollte (zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. 21.11.2006 - 1 C 10.06 -, juris Rn. 12 m.w.N.; vgl. auch Bay.VGH, Beschl. v. 7.11.2017 -15 ZB 17.31475 -, juris Rn. 18).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger sein Rechtsschutzbegehren nicht deutlich erkennbar auf die Anerkennung als Asylberechtigter und/oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingeschränkt. Er hat zwar bei der Klageerhebung am 19. Februar 2017 ausdrücklich nur beantragt, "den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 04.12.2017 (...) hinsichtlich der Verwehrung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, mir die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen". Der Wortlaut des Klageantrags spricht jedoch nicht ausschlaggebend für eine einschränkende Auslegung des Klagebegehrens. Denn zum einen war der Kläger zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht anwaltlich vertreten. Zum anderen hat er die Klage zur Niederschrift bei der Rechtsantragstelle des Verwaltungsgerichts erhoben. Es ist also durchaus möglich, dass ihm die konkrete Formulierung des Antrags von Seiten der Justizbediensteten, die den Antrag aufgenommen hat, "in den Mund gelegt" worden ist.

Auch aus den beiden nachfolgenden schriftlichen Äußerungen des Klägers im erstinstanzlichen Verfahren, mit denen die Klage begründet worden ist, ergeben sich keine durchgreifenden Anhaltspunkte für eine Beschränkung des Klagebegehrens. Der vom Kläger noch ohne rechtsanwaltlichen Beistand verfasste Schriftsatz vom 2. Februar 2018 enthält als einzigen ausdrücklichen Bezug zu den asylrechtlichen Streitgegenständen zwar (nur) die Bitte, "meiner Klage stattzugeben und mir den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen." Der Kläger hat in diesem Schriftsatz aber unter anderem auch ausgeführt, dass er im politisch instabilen Ruanda völlig unsicher sei und trotz seiner Hochschulausbildung weder ein sicheres Leben führen noch eine Arbeitsstelle finden könne. Dieses Vorbringen lässt erkennen, dass auch die Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes oder der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes - jeweils unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Existenzsicherung im Herkunftsland bzw. Abschiebungszielstaat - der Interessenlage des Klägers entspricht. In der von der zwischenzeitlich mandatierten Prozessbevollmächtigten des Klägers verfassten weiteren Klagebegründung mit Schriftsatz vom 24. Mai 2019 ist dieses Vorbringen zwar nicht wiederholt worden. Dort ist nur davon die Rede, dass der Kläger Anspruch auf eine Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe, da er bei einer Rückkehr in sein Heimatland als Regimegegner angesehen und verfolgt werde und zudem aufgrund seiner fortgeschrittenen Weißfleckenerkrankung der ständigen Gefahr ausgesetzt sei, verstümmelt oder getötet zu werden. In dem Schriftsatz finden sich aber umgekehrt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass das weitergehende Vorbringen des Klägers in seinem vorangegangenen Schriftsatz vom 2. Januar 2018 nunmehr nicht mehr weiterverfolgt werden solle. Außerdem enthält die von der Prozessbevollmächtigten verfasste Klagebegründung vom 24. Mai 2019 auch keinen ausdrücklich formulierten Klageantrag, der gegebenenfalls für eine Einschränkung des Klagebegehrens hätte sprechen können.

2. Die in dem mit der Klage angegriffenen Bescheid unter 6. ausgesprochene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ebenfalls Streitgegenstand der von der Beklagten eingelegten Berufung. Das Verwaltungsgericht hat auch diesen Verwaltungsakt aufgehoben, wie sich aus dem Tenor und den Entscheidungsgründen des Urteils unzweifelhaft ergibt. Die Beklagte ist deshalb auch insoweit durch das mit der Berufung angegriffene Urteil beschwert, und der von ihr gestellte Berufungsantrag, das erstinstanzliche Urteil zu ändern und die Klage (insgesamt) abzuweisen, umfasst auch diesen Streitgegenstand. Für die Bestimmung des Streitgegenstands der Berufung kommt es daher (noch) nicht darauf an, ob das vom Kläger anhängig gemachte Klagebegehren so auszulegen ist, dass davon auch die Anfechtung der Befristung gemäß § 11 AufenthG mit umfasst ist (siehe dazu unten III.6.a.).

II. Die Berufung ist zulässig.

Die Berufungsbegründung vom 6. November 2019 genügt den inhaltlichen Mindestanforderungen des § 124a Abs. 6 Satz 3 i. V. m. Abs. 3 Satz 4 VwGO. Danach muss die Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten. Diesen Anforderungen genügt die Berufungsbegründung. Eine Bezugnahme auf das Zulassungsvorbringen im Begründungsschriftsatz ist zulässig und kann - je nach den Umständen des Einzelfalles - für eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung ausreichen, sofern der Zulassungsantrag den inhaltlichen Anforderungen an eine Berufungsbegründung genügt, ihm mithin eindeutig zu entnehmen ist, dass und weshalb das erstinstanzliche Urteil angefochten wird (BVerwG, Beschl. v. 12.4.2021 - 1 B 18.21 -, juris Rn. 5 und Beschl. v. 14.2.2018 - 1 B 1.18 -, juris 5; Senatsurt. v. 14.3.2022 - 4 LB 20/19 -, juris Rn. 25; vgl. ferner 10. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 23.12.2020 - 10 LB 195/20 -, juris Rn. 10). Dies ist hier der Fall. Denn in dem von ihr in Bezug genommenen Zulassungsantrag hat die Beklagte unter Auseinandersetzung mit den zu Ruanda vorliegenden Erkenntnismitteln hinreichend dargelegt, aus welchen Gründen die entscheidungserhebliche Tatsachenfrage, "ob die ruandische Regierung das Stellen von Asylanträgen im Ausland durch Einwohner Ruandas generell als dem Ruf Ruandas in der Welt abträglich und als Ablehnung des ruandischen Staates durch den Asylantragsteller betrachtet und ob zurückkehrenden bzw. nach Ruanda rückgeführten Asylantragstellern somit eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird, die bei Rückkehr zu einer politischen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bzw. Art. 16a Abs. 1 GG führt", nach ihrer Ansicht anders als vom Verwaltungsgericht vorgenommen zu beantworten sei. Mit der Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Bescheid vom 4. Dezember 2017 wird zudem hinreichend deutlich, aus welchen Gründen die Klage nach Auffassung der Beklagten auch im Übrigen abzuweisen sei.

III. Die Berufung ist auch begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des erkennenden Gerichts keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 AsylG (1.). Entsprechendes gilt für die Asylanerkennung gemäß Art. 16a Abs. 1 GG (2.)

Die Klage ist auch hinsichtlich der Hilfsanträge unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 AsylG (3.). Entsprechendes gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf das Herkunftsland Ruanda (4.). Auch die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig (5.).

Hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG ist die Berufung der Beklagten bereits deshalb begründet, weil die Klage sich nicht (auch) gegen diesen Verwaltungsakt richtet und das Verwaltungsgericht daher insoweit mit seinem Urteilsausspruch über das Klagebegehren hinausgegangen ist (6.).

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 AsylG.

a. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a)) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b)) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die folgenden Handlungen gelten: (1.) die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (2.) gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder (3.) eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung. Gemäß § 3c AsylG sind Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann (1.) der Staat, (2.) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (3.) nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Eine nähere Umschreibung der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe wegen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, deren Vorliegen zu prüfen ist, enthält § 3b Abs. 1 AsylG. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG).

Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in Verbindung mit § 3b AsylG konkretisierten Verfolgungsgründen sowie den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne "wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein. Für eine derartige "Verknüpfung" reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Ein bestimmter Verfolgungsgrund muss nicht die zentrale Motivation oder alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme sein; indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 13; Urt. v. 22.5.2019 - 1 C 10.18 -, juris Rn. 16 und Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 13).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (ständige Rspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22; Urt. v. 1.3.2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12; Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32; Beschl. v. 15.8.2017 - 1 B 120.17 -, juris Rn. 8; Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 14 und Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab bedingt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen, zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevanten Tatsachen unter anderem die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und die persönlichen Umstände zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15 m. w. N.; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 23, 31). Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15; Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 14 und Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 14).

Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die tatsächliche Gefahr ("real risk") einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (BVerwG, Beschl. v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 -, juris Rn. 37 und Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15).

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG und Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 16).

Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigenden Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Hierbei ist für das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung maßgeblich (BVerwG, Urt. v. 17.6.2020 - 1 C 35.19 -, juris Rn. 9). Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu den seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 20). Das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gilt auch bei unsicherer Tatsachengrundlage (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 21 und Beschl. v. 28.4.2017 - 1 B 73.17 -, juris Rn. 10). In diesen Fällen bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland; hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 21 und Urt. v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 19). Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt nicht schon dann in Betracht, wenn eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht, sondern in der Gesamtsicht der vorliegenden Erkenntnisse lediglich ausreichende Anhaltpunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie die andere Richtung vorliegen, also eine Situation besteht, die einem non-liquet vergleichbar ist. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist vielmehr tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers. Kann das Gericht nicht das nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit gewinnen, dass einem Ausländer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 18; vgl. ferner 9. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 11.3.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 38 m. w. N.).

Das Gericht muss auch die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen, wobei allerdings der sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat angemessen zu berücksichtigen und deshalb den glaubhaften Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen ist, als dies sonst in der Prozesspraxis bei Parteibekundungen der Fall ist (BVerwG, Urt. v. 9.12.2010 - 10 C 13.09 -, juris Rn. 19; Beschl. v. 10.5.2002 - 1 B 392.01 -, juris Rn. 5 und v. 29.11.1996 - 9 B 293.96 -, juris Rn. 2). Ob eine Aussage glaubhaft ist und welches Gewicht den die Aussage bestätigenden oder ihr widersprechenden anderen Erkenntnismitteln zukommt, ist eine Frage der Beweiswürdigung im jeweiligen Einzelfall (BVerwG, Beschl. v. 29.11.1996 - 9 B 293.96 -, juris Rn. 2; Bay. VGH, Urt. v. 23.3.2017 - 13a B 17.30011 -, juris Rn. 31; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 19.9.2002 - 2 L 407/02 -, juris Rn. 7). Grundsätzlich ist unter Angabe genauer Einzelheiten ein in sich stimmiger Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung die Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris Rn. 8 und Urt. v. 30.10.1990 - 9 C 72.89 -, juris Rn. 15; OVG D-Stadt, Urt. v. 27.10.2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris Rn. 38; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.5.2018 - 1 A 2/18.A -, juris Rn. 65 und Urt. v. 14.2.2014 - 1 A 1139/13.A -, juris Rn. 35). Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Beschl. v. 19.10.2001 - 1 B 24.01 -, juris Rn. 5 und Urt. v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris Rn. 8; ferner VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.8.2021 - A 3 S 271/19 -, juris Rn. 27).

b. Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Ruanda keine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

aa. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Ruanda ausgereist, so dass ihm nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zu Gute kommt.

(1.) Hinsichtlich des vom Kläger geschilderten Anschlags, der Anfang 2016 mit einem fahrenden Auto auf ein von ihm als Fahrgast genutztes Motorrad-Taxi verübt worden sein soll, konnte das Gericht nicht die notwendige volle Überzeugung von der Wahrheit dieses Geschehens erlangen.

Da der Kläger diesen Vorfall erst in der mündlichen Verhandlung über die Berufung erwähnt hat, handelt es sich gegenüber der Anhörung im Asylverfahren um erheblich gesteigertes Vorbringen. Auf Nachfrage des Berichterstatters in der Berufungsverhandlung, warum er den Vorfall mit dem Auto bei seiner Befragung durch das Bundesamt nicht erwähnt habe, hat der Kläger geäußert, dass man bei einer solchen Befragung sehr gestresst sei, und dann erzähle man die Dinge, die einem in dieser Stresssituation einfallen. Diese Erklärung für die erhebliche nachträgliche Steigerung seines Vorbringens sieht das erkennende Gericht nicht als plausibel an. Denn bei seiner Anhörung hatte der Kläger auf Nachfrage noch geäußert: "Vor der Ausreise gab es keine Übergriffe auf mich. Es kam niemand zu mir, um mich anzugreifen oder mich persönlich und direkt zu bedrohen." Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich bei der Anhörung im Asylverfahren für den Kläger um eine Stresssituation gehandelt hat, ist nicht nachvollziehbar, dass er sich seinerzeit selbst auf Nachfrage nicht an einen auf ihn verübten Anschlag erinnern konnte, der damals erst wenige Monat zurückgelegen hat.

(2.) Aus dem weiteren Vorbringen des Klägers ergibt sich selbst bei einer Wahrunterstellung keine Vorverfolgung, die eine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgungsgefahr begründet.

(a.) Der Kläger hat bei seiner Anhörung geschildert, dass er seit 2009 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2016 von lokalen Vertretern der Regierungspartei Ruandische Patriotische Front (RPF) immer wieder gedrängt worden sei, in die Partei einzutreten und an örtlichen "Meetings" der RPF teilzunehmen. Seine nachhaltige Weigerung, dem Folge zu leisten, hat aber gemäß seinen Schilderungen nicht dazu geführt, dass er Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG ausgesetzt war oder ihm solche Handlungen zumindest angedroht worden sind. Auf die Frage bei der Anhörung, wie die lokalen Vertreter der RPF auf seine mehrfachen Weigerungen zur Teilnahme an Treffen der Partei reagiert hätten, hat der Kläger gesagt: "Die sind dann einfach wieder gegangen." Soweit der Kläger mitgeteilt hat, dass aufgrund seiner Weigerung, in die Partei einzutreten, lokale Stellen sich geweigert hätten, seine Hochschulzeugnisse zu beglaubigen, handelt es sich dabei nicht um ein behördliches Vorgehen, das das Gewicht einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG hat, zumal der Kläger bei der Anhörung noch angefügt hat, dass er dann an einem anderen Ort die Hochschulzeugnisse habe beglaubigen lassen können. Die in diesem Zusammenhang gestellte unmittelbare Nachfrage nach sonstigen Schwierigkeiten mit staatlichen Behörden in Ruanda hat der Kläger ausdrücklich verneint. Er sei ja auch nicht oft bei Behörden gewesen. Alles in allem hat der Kläger somit gemäß seinen Angaben trotz der regelmäßigen Aufforderungen, in die RPF einzutreten und an lokalen Versammlungen der Partei teilzunehmen, vor seiner Ausreise in Ruanda ein im Wesentlichen von staatlichen Stellen nicht beeinträchtigtes Leben geführt.

(b.) Der Kläger hat bei der Anhörung darüber hinaus geäußert, dass er in seinem Heimatland den Eindruck gehabt habe, dass er keine Meinungsfreiheit mehr habe und sich deswegen gefangen und eingeengt gefühlt habe; er habe schlicht keinen Platz mehr in der Gesellschaft gehabt, und keiner habe ihn akzeptieren wollen. Aus diesem vagen und denkbar allgemein gehaltenen Vorbringen ergeben sich jedoch weder greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlungen noch für hierfür ursächliche gesetzliche Verfolgungsgründe. Das gilt namentlich auch deshalb, weil der Kläger vor seiner Ausreise gemäß seinen Angaben nicht politisch aktiv gewesen ist. Außerdem hat er auch nicht näher erläutert, welche Meinungen er nicht äußern konnte und welche negativen Erfahrungen er mit Sanktionierung von Meinungsäußerungen gemacht hat.

(c.) Außerdem hat der Kläger im Rahmen der informatorischen Befragung in der Berufungsverhandlung geäußert, dass seine Probleme in Ruanda nicht aus der Politik gerührt hätten, sondern aus dem privaten Konflikt mit seiner Ehefrau. Auf die unmittelbar anschließende Nachfrage des Berichterstatters, ob er sich bei einer Rückkehr in sein Heimatland ausschließlich wegen seines Asylantrags in Deutschland bedroht fühlen würde, hat er als weiteren Bedrohungsfaktor ebenfalls nur den Konflikt mit seiner Ehefrau genannt. Die auch bereits in der Anhörung im Asylverfahren vom Kläger erwähnten Konflikte mit seiner Ehefrau, durch die er sich gemäß seinem Vorbringen und nach dem Eindruck, den der Berichterstatter in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, für den Fall einer Rückkehr nach Ruanda offenbar erheblich bedroht fühlt, knüpfen aber als rein privater zwischenmenschlicher Konflikt ersichtlich nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG an.

(d.) Entsprechendes gilt, soweit der Kläger angegeben hat, dass er in den letzten Monaten vor seiner Ausreise in SMS-Textnachrichten von anonymer Seite bedroht worden sei. Es ist insoweit bereits zweifelhaft, ob diesem Sachverhalt bei einer Wahrunterstellung das Gewicht einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG zukommt. Bei der Anhörung hat der Kläger erklärt, dass in den Nachrichten etwa gestanden habe, er müsse aufpassen, nicht abzuheben und arrogant zu werden, nachdem er Geld aus dem Sudan erhalten habe (gemeint ist damit offenbar die Vergütung, die der Kläger aufgrund seiner Arbeit für das UN-Welternährungsprogramm erhalten hat); er solle bodenständig bleiben; den Job im Sudan habe er ja nur bekommen, weil ihm jemand diesen Job gegeben hätte. Ähnlich hat der Kläger sich auch in der Berufungsverhandlung zum Inhalt der Textnachrichten geäußert. Sinngemäß hätten darin Sachen gestanden wie: "Jetzt, wo du einen besseren Job hast und mehr Geld verdienst, denkst du, dass du etwas Besseres bist"; Todesdrohungen hätten die Nachrichten aber nicht enthalten. Hieraus ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger in den Textnachrichten physische Gewalt im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG angedroht worden ist.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass den an den Kläger gesandten SMS-Nachrichten zumindest das Gewicht von psychischer Gewalt im Sinne der soeben genannten Regelung zukommt, fehlt es aber jedenfalls an der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG. Aus den Schilderungen des Klägers ergeben sich keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass die Droh-Nachrichten an ihn aus einer an einen gesetzlichen Verfolgungsgrund anknüpfenden Motivation geschickt worden sind. Das gilt umso mehr, als das Vorbringen des Klägers einen Zusammenhang zwischen den SMS-Nachrichten und den bereits erwähnten privaten Konflikten mit seiner Ehefrau nahelegt. So hat er bei seiner Anhörung im Asylverfahren geäußert, dass seine Frau hin und wieder auch Soldaten zu ihnen nach Hause eingeladen habe, die subtil ähnliche Dinge ausgesprochen hätten, wie sie auch in den Textnachrichten enthalten gewesen seien; die Soldaten hätten zwar nicht direkt über ihn geredet, er habe aber gewusst, dass er gemeint sei. Für die Annahme, dass die SMS-Nachrichten nach dem eigenen Dafürhalten des Klägers in einem Zusammenhang mit seinen ehelichen Konflikten gestanden haben, spricht im Übrigen auch, dass er bei seiner informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung geäußert hat, seine Probleme in Ruanda hätten nicht aus der Politik, sondern aus dem privaten Konflikt mit seiner Ehefrau hergerührt.

(e.) Hinsichtlich der vom Kläger bei der Anhörung ferner geschilderten ethnischen Diskriminierung hat er in der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2023 klargestellt, dass er lediglich während seiner Schulzeit deswegen Probleme gehabt habe. Da diese Ereignisse somit bereits Jahrzehnte zurückliegen, ist auch unter diesem Gesichtspunkt nicht ersichtlich, dass er vor seiner Ausreise im Jahr 2016 noch von einer aktuell fortwirkenden Vorverfolgung betroffen war.

(f.) Schließlich hat der Kläger vor seiner Ausreise in seinem Heimatland auch keine Vorverfolgung wegen der bei ihm weit vorangeschrittenen Weißfleckenkrankheit (Vitiligo) erfahren. Bei seiner Anhörung im Asylverfahren hat er keinerlei Angaben gemacht, die auf eine hieran anknüpfende Verfolgung hindeuten. Er hat lediglich erwähnt, dass er sich nach seiner Ausreise aus Ruanda Mitte Juni 2016 unter anderem auch kurz in Tansania aufgehalten habe; er habe dieses Land aber bereits nach wenigen Tagen wieder verlassen, nachdem er erfahren habe, dass "Leute wie ich mit dieser Albino-Krankheit in Tansania stark diskriminiert und bedroht werden." In der mündlichen Verhandlung hat er, vom Berichterstatter gefragt nach seinen Erfahrungen in Ruanda wegen seiner Weißfleckenerkrankung, angegeben, er sei in seinem Heimatland wegen seiner Erkrankung nie angegriffen oder direkt bedroht worden. Es sei ihm nur passiert, dass Leute auf ihn gezeigt und gesagt hätten: "Das ist ein Deal." Damit hätten sie sagen wollen, dass man ein Geschäft machen und damit Geld verdienen könne, ihn zu töten oder zu verstümmeln. Der Berichterstatter hat in der mündlichen Verhandlung aber nicht den Eindruck gewonnen, dass der Kläger diese Redensweise als ernst gemeinte Bedrohung erlebt hat, zumal er noch angefügt hat, dass nach seiner Kenntnis Tötungen und Verstümmelungen von weißhäutigen Afrikanern bisher in Ruanda selbst - anders als in Nachbarländern wie Tansania - nicht vorkämen.

bb. Ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt auch nicht aus nach seiner Ausreise aus seinem Heimatland eingetretenen Umständen (sog. Nachfluchtgründen). In Ruanda ist nach den maßgebenden heutigen Verhältnissen eine Gruppenverfolgung von Personen, die wegen Albinismus oder - wie der Kläger - wegen der Weißfleckenkrankheit - weißhäutig sind, nicht gegeben. Eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr besteht für den Kläger auch nicht deshalb, weil er nach seiner Ausreise aus Ruanda in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat.

(1.) Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Diese Vorschrift setzt Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU um und regelt, unter welchen Voraussetzungen bei der Berufung auf Nachfluchtgründe die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz zuerkannt werden kann (Marx, AsylG, 10. Aufl., § 28 Rn. 22). Die begründete Furcht vor Verfolgung kann demnach auf seit der Ausreise des Ausländers eingetretene relevante Veränderungen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes (subjektive Nachfluchttatbestände) beruhen (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl., § 28 Rn. 25 und 26; GK-AsylG, § 28 Rn. 13 (Stand März 2018)).

(2.) Der (auch) unter diesem Gesichtspunkt nicht vorverfolgt ausgereiste Kläger ist wegen der bei ihm weit vorangeschrittenen Weißfleckenerkrankung (Vitiligo) nach den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgebenden heutigen Verhältnissen nicht von einem objektiven Nachfluchtgrund aufgrund einer Gruppenverfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bedroht. Das Gericht hat nach umfassender Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel nicht die Überzeugung erlangt, dass ihm bei einer Rückkehr nach Ruanda seitens der Mehrheitsbevölkerung aufgrund seiner Weißhäutigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die das in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG normierte Gewicht haben.

(a.) Aus den vom Gericht sowie den Beteiligten in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt sich das folgende Bild zur Verfolgung von Personen, die aus gesundheitlichen Gründen (Albinismus, Vitiligo) weißhäutig sind.

(aa.) Menschen mit Albinismus sind weltweit Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, wobei Berichte darüber, insbesondere über physische Übergriffe, überwiegend aus Afrika stammen (United Nations, International Albinism Awareness Day. Violence and discrimination against persons with albinism, abrufbar unter https://www.un.org/en/observances/albinism-day). In Teilen von Afrika sind diese Menschen nach wie vor von vielfältigen Bedrohungen und Angriffen betroffen, einschließlich Organhandel, Menschenhandel und Verkauf von Kindern, Kindestötungen sowie Aussetzung von Kindern, besonders während politisch aufgeladenen Perioden wie vor Wahlen (EU annual report on human rights and democrazy in the world - 2020 country updates, S. 74, abrufbar unter https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/documents/2020_eu_human_rights_and_democracy_country_reports.pdf).

Besonders gravierend scheint die Lage in Tansania zu sein. Obwohl dort die weltweit höchste Rate an Menschen mit Albinismus vorliegt, werden Betroffene überaus stark stigmatisiert, gesellschaftlich ausgeschlossen und aus Aberglauben heraus verfolgt. Menschen mit Albinismus werden zudem als Geister angesehen und ihren Knochen, manchen Organen und der Haut werden magische Kräfte zugeschrieben, die Glück, Reichtum, Gesundheit und andere Kräfte verleihen sollen. Deshalb sind die körperliche Unversehrtheit und sogar das Leben von Menschen mit Albinismus in Tansania gefährdet. Kriminelle Netzwerke machen "Jagd" auf Betroffene und bieten deren Körperteile für wohlhabende Klienten zum Kauf an, wobei der Preis für die vollständigen Organe eines Körpers rund 75.000 USD erreicht (vgl. Institute for Security Studies, Tanzanians hard hit by trafficking in people with albinism, 19.4.2022, abrufbar unter https://issafrica.org/iss-today/tanzanians-hard-hit-by-trafficking-in-people-with-albinism#:~:text=Tanzania%20has%20the%20highest%20rate,a%20person%20appear%20unusually%20light). In den Jahren von 2000 bis 2019 wurden in Tansania 76 Menschen mit Albinismus getötet, 182 überlebten gewalttätige Angriffe (vgl. The Conversation, Albinism in Tanzania: what can be done to break the stigma, 11.6.2021, abrufbar unter https://theconversation.com/albinism-in-tanzania-what-can-be-done-to-break-the-stigma-162307). Da sich die Morde und Verstümmelungen auf das Einzugsgebiet des Victoriasees konzentrieren, scheinen die Gewalthandlungen vor allem eine abergläubische Reaktion auf gravierende ökonomische Probleme der dortigen Bevölkerung zu sein. Am Victoriasee leben Millionen Menschen vom Fischfang, doch der steckt seit Jahren in einer tiefen Krise. Durch die Aussetzung des Victoriabarschs in den 1960er Jahren in dem See, die Verdrängung heimischer Fischarten durch diesen großen Raubfisch und die anschließende massive Überfischung des Victoriabarschs ist die traditionelle Kleinfischerei zerstört, der Victoriasee ein sterbendes Gewässer (Michael Obert, Der Fluch der weißen Haut, SZ-Magazin 14/2015 vom 7. April 2015, abrufbar unter https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesellschaft-leben/der-fluch-der-weissen-haut-81112).

Hinweise auf Gewalt gegen Menschen mit Albinismus ergeben sich zudem auch aus den von der Prozessbevollmächtigten des Klägers in das Berufungsverfahren eingeführten Presseberichten für die Länder Malawi, Kongo, Kenia, Uganda, Burundi, Senegal, Swasiland, Simbabwe, Mosambik und Südafrika (Afrika: Jagd auf Menschen mit Albinismus, 12.6.2022, abrufbar unter https://www.dw.com/de/afrika-jagd-auf-menschen-mit-albinismus/a-62084750; "Den Gräueltaten ein Ende setzen", 21.5.2019, abrufbar unter https://www.spiegel.de/politik/ausland/malawi-menschen-mit-albinismus-werden-gejagt- und-getoetet-a-1268336.html; Extremer Gewalt ausgesetzt, Afrika Süd, Heft 3/2018, abrufbar unter https://www.afrika-sued.org/ausgaben/heft-3-2018/extremer-gewalt-ausgesetzt/; Die Insel der Albinos ist ihre letzte Zuflucht, 11.7.2016, abrufbar unter https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/albinismus-in-afrika--eine-insel-im-victoriasee-ist-ihre-letzte-zuflucht-6939210.html; Rita Lauter, Aberglaube der tötet, 7.6.2016, abrufbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-06/malawi-albinos-verfolgung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F; Kayria/Sinikka Tarvainen, Albinos werden in Teilen Afrikas wie Tiere gejagt, 14.3.2015, abrufbar unter https://www.welt.de/wissenschaft/article138413514/Albinos-werden-in-Teilen-Afrikas-wie-Tiere-gejagt.html#:~:text=In%20Tansania%20sind%20laut%20APAM,Albino%20und%20Pr%C3%A4sident%20des%20APAM.; Obert, a.a.O.; Andreas Eckert, Aberglaube an die Kräfte der "weißen Schwarzen", 8.4.2009, abrufbar unter https://https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/albino-verfolgung-in-afrika-aberglaube-an-die-kraefte-der-weissen-schwarzen-1785084.html.

(bb.) Konkret zur Verfolgungslage in Ruanda ergibt sich aus den Erkenntnismitteln das folgende Bild:

Nach Auskunft des US Department of State existieren in Ruanda zwar Gesetze zum Schutz von Menschen mit Behinderungen, die auch auf Personen mit Albinismus angewendet werden, aber Personen mit Albinismus erleben auch weiterhin anhaltende soziale Diskriminierung (USDOS, Rwanda 2021 Human Rights Report, S. 41, abrufbar unter https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_RWANDA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf).

Die Nationale Kommission von Ruanda für Menschenrechte berichtet zur Menschenrechtslage von Personen mit Albinismus (vgl. zum Folgenden: National Commission for Human Rights of Rwanda, Human Rights Council Resolution 24/33 concerning the Situation of Human Rights of Persons with Albinism, abrufbar unter https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/HRCouncil/AdvisoryCom/Albinism/Rwanda-NationalCommission_forHumanRights.pdf), dass diese Personen in Ruanda als Menschen mit Behinderungen gelten würden. Als Behinderte genössen sie die gleichen Rechte wie andere Ruander, würden aber als spezielle homogene Gruppe angesehen, die besondere, in dem Gesetz Nr. 01/2007 vom 20. Januar 2007 über den Schutz von Menschen mit Behinderungen festgelegte Rechte genieße. In Ruanda gebe es immer noch das Problem der Vorurteile oder Stigmatisierung, da es auf bestimmten Ebenen (Familie, Schule etc.) Menschen gebe, die schlecht Rücksicht auf Menschen mit Albinismus nähmen. Dieses Problem bestehe auch gegenüber den Müttern von Albino-Kindern. Das Problem sei jedoch nicht so sensibel wie in Tansania, wo Albinos zum Teil aufgrund abergläubischer Vorstellungen schlecht behandelt würden, was dazu führe, dass manche Menschen ihre körperliche Unversehrtheit verletzen und sie sogar töten würden. Die Hindernisse, die den Bemühungen um eine Verbesserung der Menschenrechtssituation von Menschen mit Albinismus im Weg stünden, ergäben sich vor allem aus Vorurteilen, Armut, Unwissenheit, der fehlenden Erfassung der Albino-Bevölkerung und ihrer Bildung. Um die Beseitigung von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Albinismus zu gewährleisten, sei es notwendig, dass alle Menschen mit Albinismus vor Gewalt geschützt würden. In Ruanda seien hierfür gesetzliche Maßnahmen eingeführt worden. So sehe Art. 11 der Verfassung der Republik Ruanda die Gleichberechtigung aller Menschen vor sowie das Verbot und die Bestrafung jeder Form von Diskriminierung, einschließlich der Diskriminierung, die auf körperlicher oder geistiger Behinderung beruht. Art. 27 des Gesetzes Nr. 01/2007 vom 20. Januar 2007 zum Schutz von Menschen mit Behinderungen regele das Recht, sich gegen jede Form von Diskriminierung zu wehren. Wer Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen verübt, mache sich gemäß den einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen strafbar und könne schwer bestraft werden. Zu den im Land bestehenden Mechanismen und Strategien zum allgemeinen Schutz von Menschen mit Behinderungen sei zusätzlich ein besonderer Schutz von Menschen mit Albinismus auf familiärer Ebene und in bestimmten Schlüsselbereichen, darunter Gesundheit und Bildung, erforderlich. In Ruanda hätten Albinos eine eigene Orgelorganisation, die OIPPA (Oranisation pour l'Intégration et la Promotion des Personnes Albinos), die Menschen mit Albinismus, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden, durch Rechtsberatung unterstütze. Die Beschwerden, über die OIPPA berichte, beträfen zum Beispiel Kinder, die wegen Albinismus von ihren Lehrern aus der Schule geworfen worden oder von ihren Müttern auf der Straße ausgesetzt worden seien. Laut OIPPA sei die Hilfe, die Betroffenen im allgemeinen oder von religiösen oder spirituellen Institutionen angeboten werde, gleich null.

Die Nationale Vereinigung der Behindertenorganisationen in Ruanda berichtet, dass u.a. Personen mit Albinismus nicht in der gesamten etablierten Struktur des Nationalen Rates der Personen mit Behinderungen (National Council of Persons with Disabilities - NCPD) adäquat repräsentiert seien (National Union of Disability Organizations in Rwanda, Rwanda Alternitv Report on the implementation of the convention on the Rights of Persons with disabilities, Juli 2018, S. 9, abrufbar unter https://www.nudor.org/wp-content/uploads/2019/06/Rwanda-alternative-report-on-the-implementation-of-the-CRPD-Final-Signed-by-NUDOR.pdf). Die Verfassung von Ruanda garantiere zwar das Recht zu leben. Es gebe jedoch in der Region das fortgesetzte Phänomen von Angriffen auf Personen mit Albinismus. Es gebe Vorstellungen, dass Körperteile von Albinos magische Eigenschaften hätten und Reichtum und Wohlstand bringen würden. Sogenannte "Albino-Jäger" hätten es auf Personen mit Albinismus abgesehen. Trotz fehlender Daten über Fälle von Angriffen auf Personen mit Albinismus in Ruanda repräsentierten solche Angriffe eine reale Bedrohung in Ruanda (a.a.O., S. 16). Viele Menschen mit Behinderung erführen in Ruanda Diskriminierung, Ablehnung und Ausgrenzung. Frauen und Mädchen aus stärker marginalisierten Behindertengruppen seien hiervon stärker betroffen; hierzu zählten neben geistig behinderten und taubblinden Frauen auch Frauen mit Albinismus (a.a.O., S. 26).

Der Ausschuss für die Rechte von Personen mit Behinderungen der Vereinten Nationen berichtet, dass es für Ruanda keine Berichte über Tötungen von Menschen mit Albinismus gebe; das Recht auf Leben für Personen mit Albinismus in Ruanda und generell in der Region Ostafrika sei aber bedroht infolge von Mythen und abergläubischen Vorstellungen und Praktiken; es werde empfohlen, dass der Staat Ruanda alle geeigneten Maßnahmen ergreife, um Personen mit Albinismus vor Entführungen und Tötungen zu schützen und das öffentliche Bewusstsein durch Informationskampagnen über die Rechte von Menschen mit Albinismus in Abstimmung mit den Betroffenen und ihren Organisationen zu stärken (United Nations - Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Concluding observations on the initial report of Rwanda, 3.5.2019, S. 4 Rn. 19, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/file/local/2007060/crpd_c_rwa_co_1_E.pdf; siehe auch: United Nations - Human Rights Council, Compilation on Rwanda - Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, 13.11.2020, S. 4 Rn. 27, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/file/local/2042308/a_hrc_wg.6_37_rwa_2_E.pdf).

Wie die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 19. Januar 2023 unter Angabe von einschlägigen Internetquellen zutreffend vorgetragen hat, setzen sich neben der bereits oben erwähnten ruandischen Organisation OIPPA zudem auch die international tätigen NGOs "Africa Albinism Network" und "Beyond Suncare" in Ruanda für die Belange von Personen mit Albinismus ein.

Zusammenfassend lässt sich den Erkenntnismitteln somit entnehmen, dass Menschen mit Albinismus oder Vitiligo auch in Ruanda von Diskriminierungen und Bedrohungen betroffen sein können. Allerdings gibt es für dieses Herkunftsland keine konkreten Hinweise auf Fälle von Verschleppungen und körperlichen Angriffen. Auch die von der Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 20. Januar 2023 in das Verfahren eingeführten Presseberichte enthalten keine Angaben über derartige Vorfälle in Ruanda. Daher ist davon auszugehen, dass die Lage für die Betroffenen in Ruanda nicht so ernst ist wie in Tansania oder auch in Malawi. Außerdem sind von den Diskriminierungen nicht alle Menschen mit Albinismus oder Vitiligo in gleichem Maß betroffen, sondern in besonderem Maße Frauen (vgl. National Union of Disability Organizations in Rwanda, a.a.O., S. 26) sowie Kinder, denen u. a. der Schulbesuch erschwert wird und die deswegen oft Analphabeten bleiben (vgl. Left out, albinos skipping school in Rwanda, The EastAfrican, 3.3.2017, abrufbar unter https://www.theeastafrican.co.ke/tea/rwanda-today/news/left-out-albinos-skipping-school-in-rwanda-1362628). Ferner ergeben sich aus den Erkenntnismitteln keine Hinweise darauf, dass sich die Lage für Menschen mit Albinismus in Ruanda in den letzten Jahren seit der Ausreise des Klägers spürbar verschlechtert hat.

(b.) Nach alledem kann für Ruanda eine Gruppenverfolgung von Personen, die wegen Albinismus oder Vitiligo weißhäutig sind, jedenfalls nicht generell bejaht werden. Zusätzlich sind die konkreten Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen wie etwa die Zugehörigkeit zu einer besonders vulnerablen Teilgruppe oder eine vor der Ausreise aus Ruanda bereits erlittene Vorverfolgung als Indikatoren für eine persönliche Gefährdung des Asylsuchenden.

(c.) Für den Kläger kann nicht angenommen werden, dass er wegen seiner hellen Hautfarbe bei einer Rückkehr nach Ruanda mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG bedroht ist. Er gehört nicht zu den besonders vulnerablen Gruppen der Frauen und Kinder. Als erwachsener Mann ohne besondere körperliche Beeinträchtigungen zählt er insbesondere auch in physischer Hinsicht nicht zu dem Personenkreis, der eventuell als "leichtes" Opfer für körperliche Übergriffe angesehen werden könnte. Wie bereits ausgeführt, hat er vor seiner Ausreise gemäß seinen Angaben keine ernsthaft bedrohlichen Situationen aufgrund seiner Weißhäutigkeit erlebt (siehe oben aa. (2.)(f.)). Er hat weder bei der Anhörung im Asylverfahren noch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass dies mit ein Fluchtgrund für ihn gewesen ist. Spürbare Diskriminierungen auf dem ruandischen Arbeitsmarkt sind in seinem Fall ebenfalls nicht ersichtlich. Wie er in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, hatte er nach dem Auslaufen seiner Tätigkeit für das UN-Welternährungsprogramm Ende 2015 in Ruanda bereits wieder eine Arbeitsstelle gefunden. Hinzu kommt, dass die akademische Qualifikation des Klägers nahelegt, dass er sich bei einer Rückkehr bevorzugt wieder im städtischen Umfeld niederlassen und dort um eine Beschäftigung bemühen wird, insbesondere in der Hauptstadt Kigali, wo er auch schon vor seiner Ausreise gelebt hat. Im städtischen Bereich ist aber das Bildungsniveau regelmäßig höher und sind abergläubische Überzeugungen, die für die Bedrohung und Diskriminierung von weißhäutigen Personen eine wesentliche Rolle spielen, typischerweise weniger verbreitet als in ländlichen Gegenden. Da sich aus den Erkenntnismitteln zudem keine Hinweise darauf ergeben, dass sich die Lage für Menschen mit Albinismus oder Vitiligo in Ruanda in den letzten Jahren seit der Ausreise des Klägers im Jahr 2016 spürbar verschlechtert hat, besteht auch sonst kein konkreter Grund zu der Annahme, dass die Bedrohungslage für ihn aufgrund seiner weißen Hautfarbe bei einer Rückkehr eine andere, schlechtere wäre als vor seiner Ausreise.

(3.) Ein beachtlicher subjektiver Nachfluchttatbestand zugunsten des Klägers allein wegen seiner Ausreise aus Ruanda und des Stellens eines Asylantrags in Deutschland besteht ebenfalls nicht.

(a.) Der Senat hat sich im Urteil vom 14. März 2023 - 4 LB 20/19 - grundlegend mit der Frage befasst, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen für Rückkehrer nach Ruanda dort die Gefahr einer politischen Verfolgung besteht, wenn sie im europäischen Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Auf der Grundlage eigener Beweiserhebung und nach umfassender Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass ein beachtlicher (subjektiver) Nachfluchttatbestand zugunsten eines ruandischen Staatsangehörigen allein wegen seiner Ausreise aus Ruanda, des Stellens eines Asylantrags bzw. der Beantragung internationalen Schutzes und des Aufenthalts im Ausland nach dem Ergebnis der Gesamtschau der zu Ruanda vorliegenden Erkenntnismittel nicht besteht. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit bzw. tatsächliche Gefahr (real risk) einer Verfolgung bei einer Rückkehr kann allerdings dann bestehen, wenn im Zusammenhang mit dem Asylgesuch weitere Umstände vorliegen, die den ruandischen Behörden zur Kenntnis gelangen und Anknüpfungspunkt für die Unterstellung einer regimekritischen Haltung durch staatliche Stellen Ruandas sein können. Derartige Anhaltspunkte können in einer exilpolitischen Tätigkeit des Asylbewerbers, in der Mitgliedschaft in einer Oppositionspartei oder in regimekritischen Äußerungen sowohl im öffentlichen oder privaten Umfeld liegen. Der Berichterstatter verweist auf die diesbezüglichen Ausführungen im Senatsurteil vom 14. März 2023 - 4 LB 20/19 - (juris Rn. 54 ff.) und macht sie im vorliegenden Rechtsstreit zum Gegenstand seiner Entscheidungsfindung.

(b.) An der vom Senat im Urteil vom 14. März 2022 - 4 LB 20/19 - (a.a.O.) vertretenen Auffassung zur Verfolgungssituation von Rückkehrern nach Ruanda, die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, hält der Berichterstatter auch nach Auswertung der Erkenntnismittel aus jüngster Zeit fest.

Die neuesten Erkenntnismittel zeigen allerdings, dass die menschenrechtliche Situation für Personen, die vom ruandischen Staat als Teil einer politischen Opposition oder Regimekritiker angesehen werden, unverändert schlecht ist. Nach wie vor wird über den exzessiven Einsatz staatlichen Zwangs, Verhaftungen aus vorgeschobenen Gründen und anschließende Verurteilungen zu langen Haftstrafen, inhumane Haftbedingungen bis hin zu Folter, verdächtige Todesfälle während der Haft, Verschleppungen und erzwungene Rückführungen aus dem Ausland, Ausspähungen, Bedrohungen, "außergerichtliche" Tötungen und das "Verschwinden" von Menschen berichtet (vgl. Human rights watch, World Report 2023 - Rwanda, abrufbar unter https://www.hrw.org/world-report/2023/country-chapters/rwanda; Friedrich-Ebert-Stiftung, The state of business and human rights in Africa, August 2022, S. 34 Rn. 155, abrufbar unter https://library.fes.de/pdf-files/bueros/fes-ua/19589-20221107.pdf; US Department of State, Rwanda 2021 Human Rights Report, S. 1 f., abrufbar unter https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_RWANDA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf); EU annual report of human rights and democrazy in the world - 2021 country updates -, 30.3.2022, S. 137, abrufbar unter https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/documents/220323%202021%20EU%20Annual%20Human%20Rights%20and%20Democracy%20Country%20Reports.docx.pdf). Soweit über konkrete Einzelfälle berichtet wird, handelt es sich bei den von Verfolgung Betroffenen um Parteigänger oppositioneller Gruppen, Menschenrechtsaktivisten, kritische Journalisten, Internet-Blogger und Künstler oder in Misskredit geratene ehemalige Bedienstete des ruandischen Staatsapparates (vgl. Human rights watch, a.a.O., sowie: Rwanda: Wave of Free Speech Prosecutions, 16.3.2022, abrufbar unter https://www.hrw.org/news/2022/03/16/rwanda-wave-free-speech-prosecutions; BAMF, Briefing Notes, 10.10.2022, S. 12; asylos, Rwanda COI Compilation Asylum System, 23.8.2022, S. 22, abrufbar unter https://www.asylos.eu/Handlers/Download.ashx?IDMF=75559e3f-deeb-494c-8869-626d0f3382d5; Amnesty International, Report 2021/22: The State of the World's Human Rights, 29.3.2022, S. 315 f., abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/pol10/4870/2022/en/).

Allerdings ergeben sich auch aus den jüngsten Erkenntnismitteln keine Hinweise darauf, dass Rückkehrer allein wegen des bloßen Umstands eines im Ausland gestellten Asylantrags von den ruandischen Behörden als Regimegegner angesehen und deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind.

(c.) Nach dem Ergebnis der Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnismittel zu Ruanda und unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls lässt sich für den Kläger eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehenden Verfolgungsgefahr aufgrund der erfolgten Asylantragstellung in Deutschland und der inhaltlichen Ebene seines Asylgesuchs nicht feststellen. Der Kläger war nach seinen eigenen Angaben vor seiner Ausreise aus Ruanda nicht politisch aktiv. Seine Weigerung in die Regierungspartei RPF einzutreten, ist für ihn - wie bereits oben erwähnt (siehe aa.(2.)(a.)) - vor seiner Ausreise ohne ernsthafte negative Konsequenzen geblieben. Er hat sich auch nach seiner Ausreise nicht exilpolitisch betätigt oder regimekritisch geäußert. Wie er dem Gericht in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, verfolgt er seit seiner Ausreise keine Nachrichten mehr aus Ruanda, hat also offenbar kein Interesse mehr an den dortigen politischen Verhältnissen. Es sind daher keine über sein in Deutschland gestelltes Asylgesuch hinausgehenden Umstände ersichtlich, aus denen der Kläger bei einer Rückkehr von denen ruandischen Behörden als mutmaßlicher Regimegegner angesehen werden und deshalb politischer Verfolgung ausgesetzt sein könnte.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch gemäß Art. 16a Abs. 1 GG auf Anerkennung als Asylberechtigter.

Da der Kläger auf dem Luftweg von Entebbe (Uganda) kommend mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Istanbul (Türkei) nach Deutschland eingereist ist und weder Uganda noch die Türkei zu den sicheren Drittstaaten oder sicheren Herkunftsländern gemäß Anlagen I und II AsylG zählen, unterliegt sein Asylgesuch zwar nicht den Beschränkungen, die sich aus Art. 16a Abs. 2 und 3 GG sowie § 26a Abs. 1 und § 29a Abs. 1 AsylG ergeben.

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Ruanda jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen zu den Gründen, aus denen der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, verwiesen werden.

3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

Die Gewährung subsidiären Schutzes setzt voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht (BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 20 und Urt. v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 -, juris 22; Senatsbeschl. v. 5.12.2017 - 4 LB 50/16 -, juris Rn. 31; 9. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 11.3.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 89). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 20 und v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 22). Hat ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten oder war er von einem solchen unmittelbar bedroht, kommt ihm auch hier die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach ist dies ein ernsthafter Hinweis darauf, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift begründet für den von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht ist (BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 21 und v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 23; vgl. ferner 9. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 11.3.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 90).

a. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe bei einer Rückkehr nach Ruanda im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG droht, bestehen nicht.

b. Dem Kläger droht auch nicht Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

aa. Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist - wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK - aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (BVerwG, Beschl. v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 10; ferner 9. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 11.3.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 96). Der EGMR entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, Urt. v. 7.12.2021 - 57467/15 [Savran v. Denmark] -, HUDOC Rn. 124 und Urt. v. 4.11.2014 - 29217/12 [Tarakhel v. Switzerland] -, HUDOC Rn. 93 m. w. N.). Art. 3 EMRK findet auch Anwendung, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Personen(-gruppen) ausgeht, sofern nachgewiesen ist, dass die Gefahr tatsächlich besteht und die staatlichen Behörden des Zielstaats nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (EGMR, Urt. v. 11.6.2020 - 17189/11 [M.S. v. Slovakia and Ukraine] -, HUDOC Rn. 118; Urt. v. 23.8.2016 - 59166/12 [J.K. and others v. Sweden] -, HUDOC Rn. 80 und v. 5.9.2013 - 886/11 [K. A. B. v. Sweden] -, HUDOC Rn. 69). Dem entspricht die Regelung des § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG. Für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs, der die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat (BVerwG, Urt. v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 12 und Beschl. v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 -, juris Rn. 13; ferner Senatsbeschl. v. 25.2.2021 - 4 LA 212/19 -, juris Rn. 4).

In der Rechtsprechung des EGMR ist weiter geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) erreichen müssen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK zu begründen (EGMR, Urt. v. 7.12.2021 - 57467/15 [Savran v. Denmark] -, HUDOC Rn. 122; Urt. v. 13.12.2016 - Nr. 41738/10 [Paposhvili v. Belgien] -, HUDOC Rn. 174; Urt. v. 4.11.2014 - 29217/12 [Tarakhel v. Switzerland] -, HUDOC Rn. 94; vgl. ferner EuGH, Urt. v.16.2.2017 - C-578/16 PPU, C.K. u.a. -, juris Rn. 68 und BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 12). Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (EGMR, Urt. v. 7.12.2021 - 57467/15 [Savran v. Denmark] -, HUDOC Rn. 122; Urt. v. 13.12.2016 - 41738/10 [Paposhvili v. Belgien] -, HUDOC Rn. 174; Urt. v. 4.11.2014 - 29217/12 [Tarakhel v. Switzerland] -, HUDOC Rn. 94 und Urt. v. 21.1.2011 - Nr. 30696/09 [M.S.S./Belgien und Griechenland] - HUDOC Rn. 219).

Eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK hat der Gerichtshof angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (vgl. EGMR, Urt. v. 9.7.2015 - 32325/13 [Mafalani v. Croatia] - HUDOC Rn. 69 m. w. N.). Von einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie beim Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist, ferner, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (EGMR, Urt. v. 3.9.2015 - 10161/13 [M. und M. v. Croatia] - HUDOC Rn. 132). Angesichts der fundamentalen Bedeutung von Art. 3 EMRK hat sich der Gerichtshof zudem eine gewisse Flexibilität für solche Fälle vorbehalten, in denen die Ursache der Gefahr auf Umständen beruht, die nicht in der direkten oder indirekten Verantwortung der staatlichen Behörde liegen oder die für sich genommen nicht die Standards von Art. 3 EMRK verletzen (vgl. EGMR, Urt. v. 7.12.2021 - 57467/15 [Savran v. Denmark] -, HUDOC Rn. 123 und Urt. v. 27.5.2008 - 26565/05 [N. v. United Kingdom] - HUDOC Rn. 32 m. w. N.).

bb. Dem Kläger drohen bei Anwendung dieses Maßstabs nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Ruanda Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

(1.) In Ruanda sind zwar gravierende Menschenrechtsverletzungen wie rechtswidrige oder willkürliche Tötungen durch die Regierung, willkürliche Inhaftierung von Personen, politisch motivierte Repressalien sowie willkürliche oder rechtswidrige Eingriffe in die Privatsphäre und schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit zu verzeichnen (siehe oben 1.b.bb.(3.) sowie Senatsurt. v. 14.3.2022 - 4 LB 20/19 -, juris Rn. 56 ff.). Diese richten sich jedoch insbesondere gegen Personen, deren Ansichten von den ruandischen Behörden als Kritik an der Regierungspartei, der Regierung oder ihrer Politik eingestuft werden. Der Kläger gehört allein aufgrund der erfolgten Antragstellung und seinem Asylvorbringen - wie ausgeführt - nicht zu diesem Personenkreis. Besondere gefahrerhöhende individuelle Umstände, die zu einem für den Kläger erhöhten Risiko führen würden, liegen nicht vor. Da seine Weigerung in die Regierungspartei RPF einzutreten, für ihn vor seiner Ausreise ohne ernsthafte negative Konsequenzen geblieben ist, besteht kein Grund zu der Annahme, dass dieser Umstand bei einer Rückkehr Ursache für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung sein wird.

(2.) Es kann auch nicht angenommen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr Gefahr liefe, aufgrund von privaten Konflikten, z. B. mit seiner Ehefrau, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt zu sein.

(a.) Es lässt sich bereits nicht feststellen, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus Ruanda bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen unmittelbar bedroht gewesen ist, so dass ihm nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugutekommt.

Soweit er in der mündlichen Verhandlung erstmalig geltend gemacht hat, dass Anfang 2016 mit einem Auto ein Anschlag auf ein von ihm genutztes Motorrad-Taxi verübt worden sei, hat das Gericht sich bereits nicht die volle Überzeugung von der Wahrheit dieses Sachverhalts bilden können (siehe oben 1.b.aa.(1.)).

Soweit der Kläger angegeben hat, dass er in den letzten Monaten vor seiner Ausreise in SMS-Textnachrichten von anonymer Seite bedroht worden sei, geht das Gericht nicht davon aus, dass diese Textnachrichten als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen sind. Dem vom Kläger bei der Anhörung im Asylverfahren und in der mündlichen Verhandlung geschilderte Inhalt der Textnachrichten (siehe dazu oben 1.b.aa.(2.)(d.)) lässt nicht den Schluss zu, dass in ihnen Drohungen ausgesprochen worden sind, die das für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung notwendige Mindestmaß an Schwere erreichen.

(b.) Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausginge, dass er vor seiner Ausreise aus Ruanda durch die SMS-Nachrichten von anonymer Seite in einer Weise bedroht worden ist, die als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen ist, und er daher vorverfolgt im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU aus Ruanda ausgereist ist, sprechen - sein Vorbringen zugrunde gelegt - stichhaltige Gründe dagegen, dass er bei einer Rückkehr Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Insbesondere ist nicht ersichtlich, wer mehr als sechs Jahre nach der Ausreise des Klägers aus Ruanda noch ein Interesse daran haben sollte, ihm bei einer Rückkehr (weiterhin) nachzustellen und ihn zu bedrohen. Das gilt insbesondere auch für die Ehefrau des Klägers, die sich über die Jahre längst darauf eingestellt haben wird, ihr Leben ohne den Kläger und ohne die Konflikte mit diesem zu leben. Der Berichterstatter hat in der mündlichen Verhandlung zudem den Eindruck gewonnen, dass der Kläger in seiner Vorstellungswelt seiner Ehefrau tendenziell eine übernatürliche Macht einräumt, ihm zu schaden. Das Bedrohungsgefühl, das der Kläger gegenüber seiner Ehefrau entwickelt hat, erweckt insgesamt den Eindruck, eher auf irrationalen Vorstellungen zu beruhen als auf einer tatsächlich bestehenden Bedrohungslage.

(3.) Schließlich kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Ruanda aufgrund seiner weit vorangeschrittenen Weißfleckenerkrankung von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bedroht sein wird. Die Weißhäutigkeit des Klägers führt nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dazu, dass ihm in Ruanda Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohen (siehe oben 1.b.bb.(2.)). Für eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG gilt Entsprechendes.

c. Dem Kläger droht als Zivilperson auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Auch wenn gewisse politische Spannungen und das Risiko von Terroranschlägen oder von Überfällen durch Banden - insbesondere in bestimmten Regionen wie das Grenzgebiet zur DR Kongo und Burundi - nicht ausgeschlossen werden können, kann die Sicherheitslage in Ruanda als relativ stabil bezeichnet werden (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ruanda, Stand: 26.6.2018, S. 11). Ein bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegt in Ruanda nicht vor.

4. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots. Ein solches folgt weder aus § 60 Abs. 5 AufenthG noch aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

a. Die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG kommt nicht in Betracht.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.

Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ist - wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG - auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (BVerwG, Urt. v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 -, juris Rn. 8 und v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 8). Insoweit sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (EGMR, Urt. v. 7.12.2021 - 57467/15 [Savran v. Denmark] -, HUDOC Rn. 114; v. 23.8.2016 - 59166/12 [J.K. v. Sweden] -, HUDOC Rn. 83; v. 5.9.2013 - 61204/09 [I. v. Sweden] -, HUDOC Rn. 56 und v. 6.6.2013 - 2283/12 [Mohammed v. Austria] -, HUDOC Rn. 95; vgl. ferner 9. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 11.3.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 130).

aa. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK unter dem Gesichtspunkt einer drohenden Verfolgung des Klägers wegen früheren seiner Weigerung, in die RPF einzutreten und aufgrund der erfolgten Asylantragstellung in Deutschland ist - wie aufgezeigt - nicht beachtlich wahrscheinlich. Entsprechendes gilt für eine etwaige Bedrohung wegen der vorangeschrittenen Weißfleckenerkrankung des Klägers. Auch lässt sich für den Fall einer Rückkehr des Klägers das tatsächliche Risiko einer Art. 3 EMRK widerlaufenden Behandlung durch seine Ehefrau oder andere Personen in seinem privaten Umfeld nicht feststellen. Im Falle einer Abschiebung des Klägers nach Ruanda droht ihm auch nicht ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen der allgemeinen Sicherheitslage dort. Bewaffnete Konflikte oder Unruhen, die nach ihrer Intensität und Ausdehnung den Kläger nach seiner Rückkehr gefährden, bestehen in Ruanda nicht.

bb. Ein drohender Verstoß gegen Art. 3 EMRK bei einer Abschiebung des Klägers ergibt sich auch nicht aufgrund der sozioökonomischen und humanitären Bedingungen in Ruanda.

(1.) Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein "verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 12 und v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 25). Das erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) der für den Ausländer drohenden Gefahren kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 12 und Beschl. v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 11). Nach der Rechtsprechung des EuGH ist darauf abzustellen, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre" (EuGH, Urt. v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. -, juris Rn. 90 und - C-163/17 - juris, Rn. 92).

Hinsichtlich der Lage in Ruanda ist dieser strenge Maßstab anzulegen, da die dortigen humanitären und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht einem bestimmten Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen.

(2.) Hiernach ist für den Kläger davon auszugehen, dass er nicht Gefahr läuft, allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen in Ruanda einem sehr hohen Gefährdungspotential ausgesetzt zu sein.

(a.) Zur humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen in Ruanda hat der Senat im Urteil vom 14. März 2022 - 4 LB 20/19 - (juris Rn. 98-102) ausgeführt:

"Finanzielle Hilfen sog. Geberländer, die politische Stabilität und geringe Korruption in Ruanda sowie eine investorenfreundliche Politik haben in den letzten zehn Jahren ein hohes Wirtschaftswachstum in Ruanda zur Folge gehabt (von durchschnittlich über 7 % pro Jahr). Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizierte, dass sich das Wirtschaftswachstum angesichts der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 auf 2% verlangsamen würde. Obwohl Ruanda nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt ist, rangiert es auf dem UN-Index für menschliche Entwicklung 2020 höher als viele andere afrikanische Länder südlich der Sahara (bei 160 von 189 bewerteten Ländern). Wirtschaft und Arbeitskräfte sind überwiegend auf die Landwirtschaft ausgerichtet. Das Land ist jedoch auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, was zum Teil auf die höchste Bevölkerungsdichte in Kontinentalafrika zurückzuführen ist und somit auf begrenztes verfügbares Land pro Haushalt (Congressional Research Service, Rwanda: In Brief, Updated February 23, 2021, p. 8). Die saisonal bedingte hohe Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und der damit verbundene Rückgang der Lebensmittelpreise führen derzeit zu minimalen Ernährungsunsicherheiten (vgl. FEWS, RemoteMonitoring Report, February - May 2022, abrufbar unter https://fews.net/east-africa/rwanda/remote-monitoring-report/february-2022). Verbesserte Lebensmittelversorgungsströme nach Lockerung der COVID-19-Beschränkungen, verbunden mit der Wiedereröffnung der Grenze zu Uganda und der Wiederaufnahme der Lebensmittelimporte im Januar 2022, dürften die Lebensmittelpreise trotz eines ungünstigeren Ausblicks für die künftige Ernte senken. Nahrungsmittelimporte werden insbesondere den Haushalten in der Ostprovinz zugutekommen (vgl. FEWS, RemoteMonitoring Report, February - May 2022, abrufbar unter https://fews.net/east-africa/rwanda/remote-monitoring-report/february-2022). Städtische Haushalte verzeichnen einen allmählichen Anstieg des Einkommens und der Kaufkraft. Daten, die vom Ruandischen Nationalen Institut für Statistik (NISR) gesammelt wurden, zeigen eine allmähliche Erholung der Wirtschaftstätigkeit nach der Aufhebung der strengen COVID-19-Kontrollmaßnahmen, einem Rückgang der Neuerkrankungen und der laufenden Impfkampagne, die bisher 61,7 Prozent der Bevölkerung vollständig immunisiert hat (vgl. FEWS, RemoteMonitoring Report, February - May 2022, abrufbar unter https://fews.net/east-africa/rwanda/remote-monitoring-report/february-2022). Höhere Ernährungsunsicherheiten - nach FEWS AcuteFood Insecurity Phase 2 ("stressed") - treten unter Ruandas Flüchtlings- und Asylbevölkerung auf, die rund 127.000 Menschen zählt. Diese Bevölkerung ist aufgrund ihres Mangels an produktiven Vermögenswerten und sozialer Unterstützung weiterhin von Ernährungsunsicherheit bedroht, was durch die Verringerung der Einkommensquellen unter den COVID-19-Beschränkungen verstärkt worden ist. Die Ernährungsunsicherheit erreicht insoweit aber nicht den Status einer Acute Food Insecurity der Phase 3 ("Crisis or higher") (vgl. FEWS, RemoteMonitoring Report, February - May 2022, abrufbar unter https://fews.net/east-africa/rwanda/remote-monitoring-report/february-2022).

Nach einem Bericht der World Bank ist Ruanda unter allen afrikanischen Staaten bekannt für den raschen Fortschritt hinsichtlich des Lebensstandards der Bevölkerung. Der öffentliche Dienstleistungssektor hat erheblich zugenommen und die Bereiche Bildungsstand, Impfquoten und demografische Entwicklung haben sich verbessert. Der Zugang zu Finanzdienstleistungen, Krankenversicherung und Infrastruktur hat sich erweitert (World Bank, Poverty and Global Practice, Africa Region, October 2020, p. I). Die ruandische Bevölkerung ist als Reaktion auf wirtschaftliche Chancen in den letzten Jahren mobiler geworden, wobei sich die Migration vor allem in Richtung Kigali City Province beschleunigt (World Bank, Poverty and Global Practice, Africa Region, October 2020, p. 23). Ruanda verfügt über eine Reihe von Sozialschutzprogrammen, die in den vergangenen Jahren einen signifikanten Anteil von Haushalten erreicht haben (World Bank, Poverty and Global Practice, Africa Region, October 2020, p. 23). Die Sozialschutzprogramme umfassen die Bausteine "Social Security" (u.a. Rentenversicherung, Krankenversicherung und Mutterschutz), "Short-term Social Assistance" (Direkthilfen bei Naturkatastrophen und für besonders arme Familien und Menschen), "Social Care Service" (Hilfsleistungen für Angehörige vulnerabler Gruppen) und "Livelihood and employment support" (Hilfen im Bereich Finanzen und Arbeit) (vgl. dazu Ministry of Local Government, National Social Protection Policy, June 2020, p. XI-XII; abrufbar unter https://www.minaloc.gov.rw/fileadmin/user_upload/Minaloc/Publications/Policies/Social_Protection_Policy_Adopted__1_.pdf). Zwischen den Jahren 2000 und 2010 sank der Anteil der in Armut lebenden Menschen von 59 auf rund 46 Prozent; bis 2016 auf 38 Prozent (World Bank, Poverty and Global Practice, Africa Region, October 2020, p. I). Eine vorübergehende Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 2016/17 dürfte sich auf das Tempo der im Zeitraum 2010 bis 2016 erfolgten Armutsbekämpfung ausgewirkt haben (World Bank, Poverty and Global Practice, Africa Region, October 2020, p. 19). Mit der COVID-19-Pandemie wird Ruanda mit fiskalischen und wirtschaftlichen Belastungen konfrontiert sein und die Covid-19-Pandemie wird mittelfristig die Beibehaltung des wirtschaftlichen Wachstums und der Armutsbekämpfung in den letzten Jahren beeinträchtigen (World Bank, Poverty and Global Practice, Africa Region, October 2020, p. I, XXII).

Das National Institute of Statistics of Rwanda (NISR) gibt für Februar 2021 an, dass die gesamte Arbeitslosigkeit bei 17% liege - auf Männer im arbeitsfähigen Alter entfallen hierbei 15,7%, auf Frauen 18,4% (vgl. National Institute of Statistics of Rwanda (NISR), abrufbar unter https://www.statistics.gov.rw/publication/trends-labour-market-performance-indicator-rwandamay-2021). Eine Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit (z.B. Arbeitslosengeld) gibt es nicht. Zumindest nicht in der Form, wie sie in Deutschland bekannt ist. Das durchschnittliche Monatsgehalt von Frauen liegt ungefähr 30% unter dem der Männer. Vor allem in ländlichen Gebieten begründet sich die Ungleichheit - nicht nur finanziell - zwischen den Geschlechtern durch eine vorherrschende patriarchalische Gesellschaftsstruktur (Danish Trade Union Development Agency, Labour Market Profile Rwanda - 2021/2022, Mai 2021, https://www.ulandssekretariatet.dk/wp-content/uploads/2021/05/LMP-Rwanda-2021-Final.pdf, p. 15). Insbesondere alleinstehende Frauen sehen sich dadurch Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt (The New Times, The truth about being single in Rwanda, vom 20.11.2020, abrufbar unter https://www.newtimes.co.rw/lifestyle/truth-about-being-single-rwanda).

(...)

Zudem können Programme zur Rückkehrvorbereitung in Anspruch genommen werden. So unterstützt das Programm StartHope@Home Geflüchtete, die an einer Existenzgründung im Herkunftsland interessiert sind. Hierbei handelt es sich um ein Onlineprogramm mit fachspezifischen Coachings, Fortbildungen und Workshops; vgl. Rückkehr - Ruanda, Rückkehrvorbereitende Maßnahmen (RkVM), ohne Datum, abrufbar unter https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/rueckkehrvorbereitende-massnahmen-rkvm). Zudem stehen freiwilligen Rückkehrern Leistungen des REAG/GARP-Programmes zur Verfügung (Rückkehr - Ruanda, REAG/GARP, ohne Datum, abrufbar unter https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp). Die vorgenannten Rückkehrhilfen und Programme sind bei der Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG auch zu berücksichtigen (OVG D-Stadt, Urt. v. 25.3.2021 - 1 Bf 388/19.A -, juris Rn. 141; OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 42, 46; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020 - 13 A 11421/19 -, juris Rn. 138; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 110 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18.A -, juris Rn. 250 ff.). Einer Berücksichtigung der im Rahmen der Programme REAG/GARP und StarthilfePlus gewährten Hilfen steht insbesondere nicht entgegen, dass diese sich an freiwillige bzw. die Rückkehr jedenfalls aktiv mitgestaltende Asylbewerber richten, eine "echte" Freiwilligkeit jedoch in vielen Fällen nicht gegeben ist. Kann eine Rückkehr in das Herkunftsland bei Mitwirkung des Asylbewerbers in solcher Weise ausgestaltet werden, dass die bei Rückkehr dort vorgefundenen Bedingungen nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots erfüllen, so ist diese Mitwirkung grundsätzlich auch dann zumutbar, wenn der Asylbewerber bei freier Wahl einen Verbleib im Bundesgebiet vorziehen würde. Denn grundsätzlich bedarf derjenige - wie bereits ausgeführt - nicht des Schutzes im Bundesgebiet, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland oder in einem anderen Zielstaat der Abschiebung durch zumutbares eigenes Verhalten, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört, abwenden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, juris Rn. 27 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 110 m.w.N.)."

(b.) Aus den in jüngster Zeit publizierten Erkenntnismitteln ergeben sich darüber hinaus die folgenden Angaben zur aktuellen Entwicklung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Ruanda:

Nach Angaben des National Institute of Statistics of Rwanda (vgl. zum Folgenden: NISR, Labour force survey trends - May 2022 (Q2) -, Oktober 2022, abrufbar unter https://www.statistics.gov.rw/publication/labour-force-survey-trends-may-2022q2) ist die Arbeitslosenquote zwischen Februar und Mai 2022 um 6,5 Prozentpunkte von 16,5% auf 23% gestiegen. Im Vergleich zum Wert ein Jahr zuvor (Mai 2021), als die Arbeitslosenquote bei 23,5% lag, ist die Quote relativ stabil geblieben. Die Arbeitslosenquote ist nach wie vor bei Frauen (26,6%) relativ höher als bei Männern (15%); außerdem ist sie bei jüngeren Arbeitnehmern im Alter zwischen 16 und 30 Jahren relativ höher als bei älteren Beschäftigten. Die Quote der Unterbeschäftigung hat sich zwischen Februar und März 2022 von 52,8% auf 60% erhöht, ist aber ebenfalls im Vergleich zum Vorjahreswert (Mai 2021) stabil geblieben. Die Quote der Unterbeschäftigung ist bei Frauen beachtlich höher als bei Männern (67% gegenüber 53,1%).

Das Famine Early Warning Systems Network (siehe zum Folgenden: FEWS, Season A harvest expected to lead to improved food security outcomes after December, Dezember 2022, abrufbar unter https://fews.net/east-africa/rwanda/key-message-update/december-2022) berichtet, dass die im Dezember begonnene A-Saison-Ernte, die typischerweise für rund 60% der Grundnahrungsmittelproduktion in Ruanda sorge, die Verfügbarkeit von Lebensmitteln in Haushalten und Geschäften signifikant erhöhen werde. Es werde erwartet, dass die Bohnenernte rund 10 bis 15% niedriger als üblich sein werde; verantwortlich seien die ungewöhnlichen Regenfälle zwischen Oktober und Dezember und die hohen Kosten für landwirtschaftliche Betriebsmittel. Es werde jedoch erwartet, dass die Maisernte durchschnittlich ausfalle. Der Beginn der A-Saison-Ernte und der wegen der verbesserten bilateralen Beziehungen mit Uganda und Burundi wachsende grenzüberschreitende Handel erhöhten die Verfügbarkeit von Lebensmitteln in ländlichen Gegenden und würden die Grundnahrungsmittelpreise voraussichtlich zeitweise stabilisieren. Jedoch blieben die Lebensmittelpreise insgesamt untypisch hoch wegen der unterdurchschnittlichen lokalen und regionalen Produktion und der gestiegenen regionalen Nachfragekonkurrenz. Gemäß Angaben des National Institute of Statistics in Rwanda (NISR) sei der Konsumentenpreisindex für Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke auf dem Höhepunkt der "mageren" Vorerntezeit im November 2022 um bis zu 43% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und um 1,3% gegenüber dem Vormonat Oktober 2022 gestiegen. Inmitten der hohen Inflation bei Lebensmitteln werde der signifikante Beitrag, den die A-Saison-Ernte zur Lebensmittelversorgung der ländlichen Haushalte leiste, der Hauptfaktor für die zu erwartende Verbesserung der Ernährungssituation von gegenwärtig höheren Ernährungsunsicherheiten ("stressed outcomes") zu minimalen Ernährungsunsicherheiten ("minimal outcomes") nach Dezember 2022 sein. In Kigali sei eine atypisch große Zahl von Personen wahrscheinlich von höheren Ernährungsunsicherheiten ("stressed outcomes") betroffen. Obwohl das Haushaltseinkommen bei Beschäftigten in den Sektoren Industrie, Dienstleistung und Tourismus durchschnittlich bleibe, setzten die hohen Kosten für Lebensmittel und andere Güter (einschließlich Kraftstoffe und Transport) die Kaufkraft der Haushalte unter Druck. Im November sei der städtische Konsumentenpreisindex für Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke um 22% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und um ein Prozent im Vergleich zum Vormonat gestiegen. Es werde erwartet, dass die Lebensmittelpreise im Frühjahr 2023 hoch blieben, und die ökonomischen Herausforderungen, die durch den Russland-Ukraine-Konflikt, die Arbeitslosenquote von 17% und die hohen Preise für Lebensmittel verursacht würden, den Zugang zu Lebensmitteln voraussichtlich im Jahr 2023 weiter limitieren werde. Für die geschätzt 127.000 Flüchtlinge und Asylsuchenden, die in Ruanda leben, sei zu erwarten, dass sie besonders von erhöhten Ernährungsunsicherheiten ("stressed! outcomes") betroffen sein werden, da der sprunghafte Anstieg der Lebensmittelpreise die Kaufkraft humanitärer Transferleistungen anhaltend verringern werde, und dies inmitten von Kürzungen der ausgezahlten Gelder aufgrund von rückläufigen Spenden.

(c.) Nach den zur humanitären und wirtschaftlichen Situation in Ruanda vorliegenden Erkenntnissen und den individuellen Umständen des Einzelfalles ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Ruanda einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Verelendungsgefahr ausgesetzt wäre.

Er verfügt mit einem abgeschlossenen Bachelor-Studium im Fach Maschinenbau und einem Masterabschluss in Logistik über einen sehr hohen Bildungsgrad. Er hat vor seiner Ausreise aus Ruanda zuletzt für vier Jahre für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gearbeitet, nachdem er zuvor zwei Jahre lang bei der Lutheran World Federation gearbeitet hatte. Nach dem Auslaufen der befristeten Beschäftigung bei den Vereinten Nationen Ende 2015 hätte er in Ruanda eine neue Arbeitsstelle antreten können bei einer Firma, die Pulvermilch herstellt. Mit den Bedingungen auf dem heimischen Arbeitsmarkt und den dort herrschenden Sitten ist er seit Langem vertraut. Es ist daher davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr wieder in der Lage wäre, Arbeit zu finden und hierdurch seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, wie er es bereits vor seiner Ausreise aus Ruanda getan hat. Außerdem kann er auch darauf verwiesen werden, sich um die Inanspruchnahme von Leistungen der oben genannten Programme für Rückkehrer zu bemühen.

Darüber hinaus könnte er in Ruanda aber auch auf wirtschaftliche Unterstützung durch seine dort ansässige Familie zählen.

In Ruanda leben nach seinen Angaben neben den (inzwischen wohl sehr alten und allenfalls noch eingeschränkt arbeitsfähigen) Eltern noch sieben Geschwister des Klägers. Zwar hatte er bei der Anhörung im Asylverfahren noch angegeben, dass von diesen nur einer Arbeit gefunden habe. Bei der informatorischen Befragung durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung hat er hierzu allerdings mitgeteilt, dass eine seiner Schwestern, die über eine universitäre Ausbildung als Krankenschwester verfüge, damals (also zur Zeit der Anhörung) arbeitslos gewesen sei; ein Bruder, zu dem er telefonischen Kontakt halte, arbeite in Ruanda als Lehrer. Zu den weiteren Geschwistern konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung keine aktuellen Angaben machen. Ergänzend hat er auf weitere Nachfrage jedoch noch mitgeteilt, dass es "bei uns in der Familie aber immer üblich war, dass wir uns gegenseitig unterstützt haben. So haben wir uns auch die Versorgung der beiden Waisenkinder, die bei mir im Haushalt gelebt haben, finanziell geteilt. Dafür haben wir Geld zusammengelegt."

Dem ist zu entnehmen, dass neben dem Kläger noch mindestens zwei weitere Geschwister in Ruanda universitäre Bildungsabschlüsse erzielt haben und heute auch in den Berufen arbeiten, für die sie sich qualifiziert haben. Im Übrigen hat der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Ausreise fast alle Geschwister des Klägers arbeitslos waren, den Familienverband offenbar seinerzeit nicht daran gehindert, die finanziellen Lasten für die Versorgung von zwei zur Familie gehörenden Waisenkindern, die im Haushalt des Klägers gelebt haben, gemeinsam zu tragen. Das Gericht geht daher davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Ruanda im Falle des Falles ebenfalls auf finanzielle Unterstützung durch seine Familie bauen kann.

b. Schließlich besteht auch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Soweit der Kläger im Berufungsverfahren eine "massive psychische Erkrankung" geltend gemacht hat, die sich im Fall einer Rückkehr nach Ruanda erheblich verschlechtern würde und dort nicht behandelbar sei, fehlt es bereits an der gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2 Satz 2 und 3 AufenthG erforderlichen Glaubhaftmachung der Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung.

5. Die Abschiebungsandrohung in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a. Die Abschiebungsandrohung und ihre Verbindung mit der ablehnenden Asylentscheidung (Ziff. 1. bis 4. des angegriffenen Bescheids) entspricht den Vorgaben des nationalen Rechts.

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlässt das Bundesamt eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn einem Ausländer, der keinen Aufenthaltstitel besitzt (Nr. 4), kein Asyl oder internationaler Schutz gewährt wird (Nr. 1 bis 2a) und auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Dies ist nach der hier angegriffenen Entscheidung des Bundesamtes der Fall. Eine etwa fortgeltende Aufenthaltsgestattung (§§ 63 ff., § 67 AsylG) ist kein Aufenthaltstitel im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG; sie ändert als verfahrensabhängiges Bleiberecht nichts daran, dass sich der Ausländer nach der Ablehnung des Asylantrages im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Nr. 2, Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG "illegal" im Bundesgebiet aufhält (BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 -, juris Rn. 12).

Nach § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG soll die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Gründe, die hier ein Absehen von einer Abschiebungsandrohung geboten hätten, liegen nicht vor. Die in dem Bescheid für eine freiwillige Ausreise gesetzten Fristen entsprechen § 38 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG. Die Benennung und Auswahl des Abschiebungszielstaates tragen § 59 Abs. 2 AufenthG Rechnung.

b. Die Abschiebungsandrohung in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheids steht auch mit den Vorgaben, die sich aus dem Unionsrecht für eine Verbindung von ablehnender Asylentscheidung mit einer Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 6 der Richtlinie 2008/115/EG ergeben, im Ergebnis im Einklang.

aa. Der EuGH hat entschieden, dass die Richtlinie 2008/115/EG in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85/EG und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in den Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta verankert sind, dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die gleich nach der Ablehnung dieses Antrags durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ergeht, nicht entgegensteht, sofern der betreffende Mitgliedstaat u. a. gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9/EG kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115/EG und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann (EuGH, Urt. v. 19.6.2018 - C-181/16 -, juris Rn. 60 ff., 67).

Die danach unionsrechtlich gebotene Möglichkeit des Asylantragstellers, "dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115/EG und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann", ist gewahrt. Denn nach § 77 Abs. 1 AsylG ist in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (oder dem der Entscheidung) abzustellen, so dass sich der Antragsteller auf neue oder veränderte Umstände, die nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetreten sind, berufen kann und diese zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 -, juris Rn. 22). Der allgemeine Grundsatz eines fairen und transparenten Rückkehrverfahrens unter Einbeziehung nachträglich entstandener Umstände hindert auch nicht, im Rahmen der Berücksichtigung von Umständen, die nach Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG bei der Anwendung der Rückführungsrichtlinie zu beachten sind und die nach nationalem Verständnis lediglich ein inlandsbezogenes (rechtliches oder tatsächliches) Abschiebungshindernis zu begründen geeignet sind, diese nicht durchweg im Verfahren betreffend die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes zu überprüfen, sondern den Asylantragsteller darauf zu verweisen, sie in einem gesonderten Verfahren gegen die für den Vollzug der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde geltend zu machen (BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 -, juris Rn. 23 f.). Der Kläger ist daher nicht gehindert, etwaige nach Erlass der Abschiebungsandrohung entstandene inlandsbezogene Abschiebungshindernisse rechtlicher oder tatsächlicher Art - etwa bestehende familiäre Bindungen im Sinne des Art. 5 b der Richtlinie 2008/115/EG - gegen die zuständige Ausländerbehörde geltend zu machen. Etwaige familiäre Bindungen in Deutschland sind bei dem hier alleinlebenden Kläger allerdings nicht ersichtlich.

bb. Die Abschiebungsandrohung in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheids steht jedoch nicht mit unionsrechtlichen Vorgaben im Einklang, soweit die gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen mit der Bekanntgabe des Bescheids in Lauf gesetzt worden ist. Diese ursprüngliche, objektiv unionsrechtswidrige Fristsetzung ist jedoch aufgrund der Klage gegen den Bescheid durch eine unionsrechtskonforme Fristsetzung ersetzt worden.

Die in Art. 7 der Richtlinie 2008/115/EG vorgesehene Frist für die freiwillige Ausreise darf nicht zu laufen beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat (EuGH, Urt. v. 19.6.2018 - C -181/16 -, juris Rn. 62). Nach dem Grundsatz der Waffengleichheit sind dabei während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen (EuGH, Urt. v. 19.6.2018 - C-181/16 -, juris Rn. 61). Das Fristlaufverbot und das Bleiberecht erfassen mithin auch den Zeitraum, in dem ein Rechtsmittel noch nicht eingelegt ist, und stehen für diesen dem Lauf der behördlich zu setzenden Ausreisefrist entgegen; Rechtsmittelfrist und Ausreisefrist dürfen nicht gleichzeitig laufen. Damit nicht vereinbar ist § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG, der für den Lauf der zu setzenden Ausreisefrist von 30 Tagen erkennbar an die Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesamts anknüpft (BVerwG, Urt. v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 -, juris Rn. 27).

Der Kläger ist indes durch diese anfängliche objektive Unionsrechtswidrigkeit des Bescheides aufgrund seiner Klage wegen des Eintritts der im Gesetz in § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG und im angegriffenen Bescheid benannten außerprozessualen Bedingung ("im Falle einer Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens") nicht mehr beschwert. Die ursprüngliche, objektiv unionsrechtswidrige Fristsetzung ist aufgrund der Klage durch eine unionsrechtskonforme Fristsetzung ersetzt worden, da die Ausreisefrist nunmehr 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet.

6. Die Berufung der Beklagten ist auch begründet, soweit das Verwaltungsgericht die unter Ziffer 6. des mit der Klage angegriffenen Bescheides ausgesprochene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung aufgehoben hat.

a. Das Verwaltungsgericht war zu diesem Urteilsausspruch nicht befugt, weil das Klagebegehren des Klägers nicht so weit auszulegen ist, dass es auch eine Anfechtung der Befristungsentscheidung einschließt (vgl. § 88 VwGO).

Wie bereits ausgeführt (siehe oben I.1.) bezieht sich das Klagebegehren aufgrund der typischen Interessenlage des Asylklägers regelmäßig (in einer bestimmten Stufenfolge von Haupt- und Hilfsanträgen) auf sämtliche Streitgegenstände, in deren Rahmen er sich gegen eine Abschiebung wenden und damit für einen unmittelbaren Verbleib im Bundesgebiet streiten kann. Hierzu zählt die Befristungsentscheidung nicht, da das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an einen Vollzug der Abschiebung anknüpft und daher nach der gesetzlichen Konzeption gerade nicht auf eine Vermeidung der Abschiebung und einen unmittelbaren Verbleib im Bundesgebiet gerichtet ist.

Zudem unterscheidet sich der Streitstoff, der vom Gericht bei einer Klage gegen die Befristung zu prüfen ist, auch in tatsächlicher Hinsicht von den vom Klagebegehren regelmäßig umfassten "klassischen" asylrechtlichen Streitgegenständen, bei denen herkunfts- oder zielstaatsbezogene Gefahren zu prüfen sind. Demgegenüber kommt es für den gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Befristungsentscheidung auf inländische Tatsachen an, die dafürsprechen können, dass dem Asylkläger eine frühere Wiedereinreise zum erneuten Aufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht werden muss. Zu denken ist etwa an eine familiäre Lebensgemeinschaft des Klägers im Bundesgebiet mit einem deutschen oder einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigen ledigen Kind oder eine sozial-familiäre Beziehung mit einem solchen minderjährigen ledigen Kind (vgl. Senatsurt. v. 14.3.2022 - 4 LB 20/19 -, juris Rn. 122).

Einzelfallbezogen gibt es ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger für eine Verkürzung der auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzten Frist streiten will. Abgesehen davon, dass er keinen hierauf bezogenen Klageantrag formuliert hat, ist er in seinem Vorbringen auch in keiner Weise auf diesen Regelungsbestandteil des angegriffenen Bescheides eingegangen und hat namentlich nicht geltend gemacht, dass die von der Beklagten bestimmte Frist unangemessen lang sei, da es in seinem Fall persönliche schutzwürdige Belange gebe, aus denen ihm eine frühere Wiedereinreise in das Bundesgebiet ermöglicht werden müsse. Bei dem in Deutschland alleinlebenden und im Übrigen auch nicht erwerbstätigen Kläger sind solche schutzwürdigen Belange auch nicht ersichtlich.

b. Im Übrigen hätte die Berufung der Beklagten in Bezug auf die Befristung gemäß § 11 AufenthG aber auch dann Erfolg, wenn das Verwaltungsgericht diesbezüglich zu einem Entscheidungsausspruch befugt gewesen wäre. Denn die von der Beklagten verfügte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung ist rechtmäßig, zumal ein schutzwürdiges Interesse des Klägers, das für eine Verkürzung der Frist sprechen könnte, nicht erkennbar ist (eingehend dazu: Senatsurt. v. 14.3.2022 - 4 LB 20/19 -, juris Rn. 118 ff.).

IV. Die Nebenentscheidungen des Urteils ergeben sich aus den folgenden Vorschriften:

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO und § 78 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 AsylG liegen nicht vor.