Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 06.07.2023, Az.: 3 A 190/19

Abschiebungsverbot; Sudan; Abschiebungsverbot für nicht vulnerablen Mann

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
06.07.2023
Aktenzeichen
3 A 190/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 24454
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0706.3A190.19.00

[Tatbestand]

Der 35-jährige Kläger begehrt die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Er ist nach letzten eigenen Angaben sudanesischer Staatsangehöriger, vom Volk der Haussa und islamischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach seinem Vortrag am 25.03.2015 aus seinem Heimatland aus und begab sich nach Frankreich, wo er einen Asylantrag stellte. Nach eigenen Angaben am 25.12.2016 reiste der Kläger in das Bundesgebiet ein, wo er am 28.12.2016 einen Asylantrag stellte.

Mit Schreiben vom 15.10.2018 teilten die französischen Behörden dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit, dass der Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 18.06.2015 abgelehnt wurde. Diese Entscheidung wurde am 10.06.2016 durch das zuständige französische Gericht bestätigt.

Im Rahmen seiner Antragstellung und schriftlichen Stellungnahmen an das Bundesamt vom 20.11. und 04.12.2018 trug der Kläger vor, keine anderen Gründe als die bereits im Asylverfahren in Frankreich vorgebrachten geltend zu machen. Er sei im Sudan verhaftet worden, da ihm vorgeworfen worden sei, in seinem Geschäft für die Opposition gearbeitet zu haben. Sein Bruder sei vor seiner Ausreise getötet worden. Seine Ehefrau und sein Kind hätten ihr Heimatdorf im Osten des Sudans aufgrund der Bedrohungslage verlassen müssen. Als Rückkehrer sei er der Willkür der Sicherheitsdienste ausgesetzt. Er habe Angst, gefoltert und getötet zu werden. Außerdem leide er an Asthma.

Mit Bescheid vom 23.09.2019, lehnte das Bundesamt unter Aufhebung eines früheren Dublin-Bescheids den Antrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2), forderte den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung in den Sudan zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf (Ziffer 3), ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Antrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unzulässig, weil es sich um einen Zweitantrag handle und ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor, weil der Kläger seine Asylgründe bereits vollständig in Frankreich habe geltend machen können. Eine unmenschliche Behandlung drohe dem Kläger im Sudan nicht, dies gelte insbesondere hinsichtlich der dortigen Lebensbedingungen.

Dagegen hat der Kläger am 03.10.2019 Klage erhoben. Seinen zugleich gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat die Kammer durch Beschluss vom 14.10.2019 (3 B 191/19) abgelehnt. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen. Mit Schriftsatz vom 09.10.2019 hat das Bundesamt die Ausreisefrist im Hinblick auf die Gnandi-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs geändert.

Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger vor, ihm drohe im Sudan eine Art. 3 EMRK-widersprechende Behandlung.

Ursprünglich hat der Kläger beantragt, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids vom 23.09.2019 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zu gewähren, weiter hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf den Sudan festzustellen. Mit Schriftsatz vom 05.07.2023 hat er seine Klage teilweise zurückgenommen und beantragt nunmehr noch,

die Beklagte unter Aufhebung von Ziffern 2 bis 4 des Bescheids vom 23.09.2019 zu verpflichten, Abschiebungsverbote hinsichtlich des Sudans festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf ihren Bescheid und verteidigt die Ablehnung als unzulässig.

Der Kläger hat durch Schriftsatz vom 05.07.2023, die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung vom 26.06.2017 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Akten der Beklagten. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen wie die Erkenntnismittel, die sich aus der den Beteiligten übersandten Liste ergeben.

Entscheidungsgründe

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Dies betrifft die Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung des subsidiären Schutzes und die Anfechtungsklage gegen Ziffer 1 des Bescheids vom 23.09.2019.

Die verbliebene Klage, über die die Einzelrichterin im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) hat der Kläger einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Sudans (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ziffern 2 bis 4 des Bescheids vom 23.09.2019 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen der ihm im Sudan drohenden schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen sowie der dortigen Sicherheitslage.

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.

Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigender Behandlung voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenreche muss eine ausreichende reale Gefahr bestehen, die nicht nur auf bloßen Spekulationen beruht, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des Falles ernsthaft bestehen und darf nicht hypothetisch sein. Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, sodass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 13 f. m.w.N.).

Für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland gelten folgende Maßstäbe (BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 15 ff. m.w.N.), wobei es im Sudan an einem verantwortlichen Akteur fehlt:

"Die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat haben weder notwendigen noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein [...]. Gleichwohl entspricht es der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen können. Es sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen ("very exceptional cases") begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend ("compelling") gegen eine Abschiebung sprechen. [...]. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" [...] aufweisen; diese kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält [...].

In seiner jüngeren Rechtsprechung zum Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 4 GRC stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim - Rn. 89 ff. und - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre". Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht [...] nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. [...]

Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nicht vulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind [...]

Die Gefahr muss [...] in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung durch den Vertragsstaat eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung - in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers - gerechtfertigt erscheint. [...]

Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist [...] grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist [...]."

Bei der Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung, einer adäquaten Unterkunft, zu sanitären Einrichtungen sowie die Möglichkeit der Erwirtschaftung der finanziellen Mittel zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, gegebenenfalls unter Berücksichtigung von erreichbaren Hilfen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2021 - A 13 S 3196/19 -, juris Rn. 57 m.w.N.). Zu den individuellen Faktoren gehören auch Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Volkszugehörigkeit, Ausbildung, Vermögen familiäre oder freundschaftliche Verbindungen (Nds. OVG, Beschluss vom 26.08.2022 - 4 LA 67/22 -, juris Rn. 10).

Für die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegt, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 139; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 26; EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - Nr. 8319/07 Sufi und Elmi / Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309). Davon ausgehend ist zunächst die Lage in Khartum (bisheriger Zielort von Abschiebungen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Sudan, vom 01.06.2022S. 24) in Bezug auf den Kläger in den Blick zu nehmen. Stellen die dortigen Verhältnisse einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist zu prüfen, ob auch in anderen Landesteilen derartige Umstände vorliegen (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 27 m.w.N.).

2. Nach diesem Maßstab droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr schon aufgrund der humanitären Lage im Sudan eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte, weil er im ganzen Land Gefahr läuft, seinen existenziellen Lebensbedarf nicht bestreiten zu können.

Zur aktuellen humanitären und sozio-ökonomischen Lage im Sudan hat das Verwaltungsgericht Hannover ausgeführt (Urteil vom 07.06.2023 - 5 A 885/20 -, V.n.b., UA S. 6 ff.):

"Die Lage im Sudan stellt sich nach den Erkenntnissen des Gerichts zum Zeitpunkt der Entscheidung folgendermaßen dar:

Die sudanesische Versorgung ist von einem großen Ungleichgewicht zwischen Import und Export geprägt, das auf dem geringen Niveau industrieller Prozesse im Lande beruht und u.a. den Bedarf an Grundnahrungsmitteln über den Import sichert. Auch globale Krisen haben daher eine große Wirkung auf die Versorgungslage. Spätestens seit der Abspaltung des Südsudan im Jahr 2011 befindet sich die sudanesische Ökonomie in einer Krisensituation, da die Einnahmen aus Ölabbau und -export weitgehend wegfielen (Ille, Gutachten zu den allgemeinen Lebensbedingungen im Sudan, 31.10.2021, S. 4 f.). Dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 15. Februar 2021 ist zu entnehmen, dass das Land nach der Abspaltung des Südsudan im Jahr 2011 und dem Sturz von Diktator Omar al-Bashir im April 2019 in eine schwere Krise gestürzt ist, wobei die COVID-19-Pandemie und Überschwemmungen die Lage noch verschlimmert haben. Knappheit ist im Sudan die Norm, egal bei welcher Art von Gütern, und Rationierung ist die tägliche Routine für die Sudanesen, die stundenlang vor Tankstellen, Bäckereien und Apotheken für das Nötigste anstehen müssen. Die Stromversorgung ist so miserabel, dass es in der Hauptstadt Khartum fast nur Elektrizität von Dieselgeneratoren gibt. Das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der sudanesischen Bürger zählt nicht zu den Prioritäten der Regierung. Im Vergleich zu den Ausgaben für Militär und Polizei sind die Ausgaben für Sozialversicherungsmaßnahmen gering. Gesetzliche Grundlagen und entsprechende Institutionen zur sozialen Sicherung existieren, sie sind jedoch in der Praxis nur auf die Beschäftigung im öffentlichen Sektor (Behörden, Polizei, Armee) ausgerichtet und umfassen nur einen Teil der formal Beschäftigten in der Wirtschaft. Zudem greift das System nur im Großraum Khartum. Das staatlich verwaltete Wohlfahrtssystem leidet unter Korruption und Missbrauch, wodurch die Armen und Bedürftigen von den Geldern nicht profitieren. Im Falle von Arbeitslosigkeit, Invalidität, Alter oder Krankheit gibt es keine Formen der Entschädigung durch die Regierung. Das Pensionssystem ist brüchig und deckt nur einen kleinen Teil der Gesellschaft ab. Die Krankenversicherung ist unzuverlässig und für den Großteil der Gesellschaft unzugänglich. Statt der Staatsbürgerschaft wurde eine Kombination aus ethnischer, religiöser und politischer Zugehörigkeit zum ausschlaggebenden Kriterium für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Gesundheitsversorgung und öffentlichen Ämtern im Sudan. Die nichtstaatliche Selbsthilfe, vor allem die traditionelle familiäre Unterstützung, aber auch die von religiösen Gemeinschaften, verliert durch die wachsende Verarmung der Bevölkerung zunehmend an Bedeutung. Gerade die Jugendarbeitslosigkeit hält sich auf einem hohen Niveau. Größere sozialpolitische Wirkungen erreicht der sudanesische Staat durch eine breite Palette an Subventionen (z.B. Treibstoff, Kochgas, einige Lebensmittel wie Brot und Zucker), die jedoch den Staatshaushalt stark belasten (BFA, Länderinformationsblatt Sudan, 15.2.2021, S. 30 f.). Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu deren Eindämmung belasteten die prekären Arbeitsverhältnisse und die Gesundheitseinrichtungen insbesondere im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 und wirken sich weiterhin auf die einkommensschwachen Haushalte aus, die in dieser Zeit Kredite aufnehmen oder Vermögenswerte veräußern mussten, und führen weiter zu Bildungsrückständen der jüngeren Generationen (Ille, Gutachten zu den allgemeinen Lebensbedingungen im Sudan, 31.10.2021, S. 17-4).

Im Jahr 2021 verschlechterten sich die sozioökonomischen Zustände trotz der Bemühungen sudanesischer Einrichtungen und internationaler Organisationen weiter (siehe UNITAMS, Situation in the Sudan [...], Report of the Secretary-General, S/2021/470, 17.5.2021, S. 7: "[S]ocioeconomic conditions continued to deteriorate") und führten zu schweren wirtschaftlichen Verwerfungen mit Versorgungsengpässen, einer Verdopplung der Preise für Sorghum, Hirse und andere wichtige Waren sowie Inflationsraten von 413 % im Juni 2021 (siehe UNITAMS, Situation in the Sudan [...], Report of the Secretary-General, S/2021/766, 1.9.2021, S. 5: "severe economic hardship"). Auf Grund der durch den Militärputsch vom 25. Oktober 2021 eingetretenen politischen Krise wurde die sudanesische Wirtschaft schwer getroffen. In Folge unterbrochener Marktzugänge sowie verringerter Erwerbs- und Handelsmöglichkeiten stiegen die Preise und es kam zu Versorgungsengpässen bei Gütern des täglichen Bedarfs, darunter Medikamenten, Weizen, Kraftstoff und landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, sowie zu Kaufkraftverlusten und steigender Nahrungsmittelunsicherheit. Die im Jahr 2021 eingeleitete Wirtschaftsreformen, darunter die Abwertung des offiziellen Wechselkurses und die Abschaffung von Kraftstoffsubventionen, hatten zum massiven Anstieg der Inflationsrate beigetragen. So stieg die durchschnittliche Inflationsrate, die im Jahr 2020 noch 163 % betragen hatte, im Jahr 2021 auf 359 %. Im Juli 2021 betrug die Inflationsrate 423 %, im Dezember 2021 noch 318 %. Die politische Unsicherheit führte zu einer steigenden Nachfrage nach US-Dollar. In der Folge sank im Januar 2022 der Wert des sudanesischen Pfundes auf dem Schwarzmarkt um mehr als 5 %. Als Reaktion auf den Militärputsch [vom 25. Oktober 2021] wurde ein signifikanter Teil der internationalen Unterstützung für den Sudan ausgesetzt, darunter das im Februar 2021 mit Unterstützung der Weltbank und des Welternährungsprogramms eingerichtete Family Support Programme mit über 9,2 Millionen registrierten Empfängern. Im Januar 2022 wurden die Stromtarife um bis zu 600 % erhöht. Am 5. Februar 2022 kam es zu einem massiven Anstieg der Kraftstoffpreise (siehe UNITAMS, Situation in the Sudan [...], Report of the Secretary-General, S/2022/172, 2.3.2022, S. 5).

Nach Angaben der Sudanesischen Zentralbank stieg der Verbraucherpreisindex zwischen Januar und September 2021 von 10.248,8 auf 31.423,30 (https://cbos.gov.sd/sites/default/files/Economic%20and%20statistic%20review%20q3%202021%D9%85.pdf, S. 50). Die Preise für die Grundnahrungsmittel Sorghum, Hirse und Weizen im Sudan stiegen nach Angaben des Food Price Monitoring and Analysis (FPMA) Bulletins vom 10. März 2022 im Februar 2022 auf ein außergewöhnlich hohes Niveau, so etwa die Preise für Sorghum und Hirse auf bis zum Doppelten ihrer bereits erhöhten Vorjahreswerte. Gründe hierfür waren v. a. Lieferengpässe, die erhöhte politische Instabilität seit Oktober 2021, lokale Konflikte und anhaltende makroökonomische Schwierigkeiten wie Treibstoffknappheit und hohe Preise landwirtschaftlicher Betriebsmittel (S. 6) (https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/FPMA%20Bulletin%20%232%2C%2010%20March%202022.pdf). Dementsprechend ist nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 1. Juni 2022 inzwischen die Versorgungslage in großen Teilen des Landes kritisch. Grund hierfür sind die anhaltende Wirtschaftskrise, die politische Instabilität seit Mitte 2021 und die wiederholte Blockade des einzigen Seehafens in Port Sudan auf Grund von politischen Protesten einzelner ethnischer Gruppen. Auch Missernten und der durch den Ukraine-Krieg international gestiegene Weizenpreis verschärfen die ohnehin angespannte Versorgungslage. Angesichts der politischen Krise, die durch den Militärputsch am 25. Oktober 2021 ausgelöst wurde, können Bauern und Landwirte nicht mal mehr auf die ohnehin schon eingeschränkte staatliche Unterstützung bei der Beschaffung von Saatgut und Düngemitteln vertrauen. Den Vereinten Nationen und anderen Hilfsorganisationen zufolge ist damit zu rechnen, dass im Laufe des Jahres 2022 knapp die Hälfte der Bevölkerung (über 18 Millionen Sudanesen) auf humanitäre Hilfe (insbesondere Nahrungsmittel) angewiesen sein wird. Dies entspricht einer Verdopplung der Zahl an Hilfsbedürftigen im Vergleich zum Vorjahr. Von der Nahrungsmittelunsicherheit besonders betroffen sind i. d. R. vulnerable Gruppen wie Kinder und Alleinerziehende (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Sudan, Mai 2022, S. 21).

Am 15. April 2023 brachen zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) unter Abdelfattah al-Burhan einerseits und den von B. Hamdan Dagalo ("Hemedti") angeführten Rapid Support Forces (RSF) andererseits in mehreren Städten, darunter auch Khartum, Kämpfe aus (UNHCR, Positions on Returns to Sudan, Mai 2023, S. 1). Infolgedessen hat sich die bereits vor Ausbruch der Kämpfe angespannte humanitäre Lage insbesondere in Khartum rapide verschlechtert. Obwohl der auf Grund der Kämpfe stark eingeschränkte Zugang zum Internet sowie der Betrieb des Bankensystems im Land teilweise wieder stabilisiert werden konnten, bleibt das Gesundheitssystem stark angeschlagen. Die WHO bestätigte Angaben der sudanesischen Ärztegewerkschaft, wonach zwei Drittel der Krankenhäuser den Betrieb einstellen mussten. Zudem sei das Gesundheitssystem laut der Ärztegewerkschaft nahe am Zusammenbruch. In Khartum komme es immer wieder vor, dass Gesundheitseinrichtungen von den kämpfenden Parteien militärisch genutzt würden. Bisher seien dadurch ca. 26 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen verzeichnet worden, in deren Folge auch dort angestellte oder behandelte Menschen ums Leben gekommen seien. Weiteren Angaben der UN zufolge sei es zurzeit dennoch möglich, Hilfsgüter auf dem Seeweg nach Port Sudan zu verschiffen. Jedoch müssten diese zunächst gelagert werden, da eine Verteilung aufgrund der anhaltenden Kämpfe zu gefährlich sei. Vorherige Hilfskonvois des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) seien nach Angaben der UN auf dem Weg nach Darfur überfallen und ausgeraubt worden. Insgesamt sei bisher knapp ein Viertel der vorrätigen Hilfsgüter auf diese Weise entwendet worden, weshalb der Nothilfekoordinator für Sudan wiederholt auf eine Zusage humanitärer Korridore durch die kämpfenden Akteure in Sudan drängte (BAMF Briefing Notes, 8.5.2023, S. 15). Angaben der International Organization for Migration (IOM) zufolge hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen im Sudan innerhalb einer Woche mehr als verdoppelt, von 334.000 Personen am 1. Mai 2023 auf etwa 736.000 Personen am 9. Mai 2023. In 15 der 18 Bundesstaaten des Landes wurden Binnenvertriebene registriert. Die Bundesstaaten, die die meisten Binnenvertriebenen beherbergen, sind White Nile (25,6 % aller Binnenvertriebenen), West-Darfur (21,2 % aller Binnenvertriebenen) und Northern (14,4 % aller Binnenvertriebenen). Die meisten Binnenvertriebenen kamen mit 502.200 Personen, was etwa 68,2 % aller Binnenvertriebenen entspricht, aus Khartum, gefolgt von West-Darfur (21,8 % aller Binnenvertriebenen) und Süd-Darfur (6 % aller Binnenvertriebenen). Darüber hinaus sind nach Angaben des UNHCR mehr als 150.000 Menschen aus dem Sudan in die Nachbarländer Tschad, Südsudan, Zentralafrikanische Republik, Ägypten und Äthiopien gezogen. Nach wie vor werden Gesundheitseinrichtungen von Konfliktparteien angegriffen und besetzt. Laut WHO sind in Khartum weniger als ein Fünftel aller Gesundheitseinrichtungen weiterhin voll funktionsfähig, 60 % funktionieren überhaupt nicht. In vielen Teilen des Landes herrscht weiterhin ein Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Treibstoff und Bargeld (OCHA, Sudan: Clashes between SAF and RSF - Flash Update No. 11 (10 May 2023)). Im Großraum Khartum kommt es infolge der zwischen SAF und RSF ausgebrochenen Kämpfe seit mehreren Tagen zu Plünderungen von Banken, Gebäuden, Geschäften und mehreren Märkten, darunter auch dem Souk Libya. Lebensmittelgeschäfte und Bäckereien sollen geöffnet sein; es wird jedoch ein erheblicher Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel beklagt (Radio Dabanga, Libya Market plundered, police remain absent in Sudan capital, 11.5.2023). In El Geneina wurde das Lehrkrankenhaus beschädigt, zudem wurde Angaben von Ärzte ohne Grenzen zufolge Teile des Krankenhauses geplündert. Auch in Nyala kam es zu Plünderungen von Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen (Human Rights Watch, Sudan: Explosive Weapons Harming Civilians, Limited Access to Water, Electricity, Medical Care Fuels Humanitarian Crisis [...], 4.5.2023, S. 9). Die sich verschlechternde humanitäre Situation ist Anlass für eine - brüchige - Waffenruhe der Konfliktparteien; gleichwohl erreichen Hilfslieferungen die Bevölkerung der Hauptstadt und des Ballungsraums nicht (https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/humanitarian-situation-particularly-dire-in-khartoum-and-darfur-as-clashes-impede-aid, abgerufen am 2.6.2023). Die Wasserversorgung steht vor dem Zusammenbruch, nachdem die RSF vier Wasserwerke besetzt hat (https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/escalating-fighting-and-water-supply-cut-off-in-sudan-capital, abgerufen am 7.6.2023).

Gemessen an diesen tatsächlichen Umständen und angesichts der weiteren Verschlechterungen der Situation in der jüngeren Vergangenheit ist das Gericht der Auffassung, dass derzeit im Sudan so außergewöhnlich schlechte humanitäre Bedingungen vorliegen, dass ausnahmsweise auch ein erwachsener, alleinstehender, leistungsfähiger sudanesischer Mann ohne besondere individuell begünstigende Faktoren seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf absehbare Zeit nicht wird befriedigen können und daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht."

Dieser weiterhin aktuellen Ausführungen zur Tatsachenlage samt rechtlicher Bewertung folgt die Einzelrichterin nach eigener Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel. In der Person des Klägers liegen keine besonderen, individuell begünstigenden Faktoren vor.

3. Die Einzelrichterin geht daneben und die Entscheidung selbstständig tragend davon aus, dass die andauernden Auseinandersetzungen zwischen der RSF und den sudanesischen Streitkräften in Khartum und anderen Regionen einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt darstellen, der schon für sich genommen die Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung durch die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung begründet.

Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder die betroffene Region allein durch die Anwesenheit in dem Gebiet tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 -, juris Rn. 43). Der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, ist umso geringer, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Schutzsuchenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände zählen, aufgrund derer der Schutzsuchende als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09, Rn. 33; Nds. OVG, Urteil vom 05.12.2017 - 4 LB 50/16 -, Rn. 38; zum Vorstehenden insgesamt: VG Bremen, Urteil vom 15.06.2021 - 7 K 530/19 -, Rn. 38; jeweils juris).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (bspw. BVerwG, Beschluss vom 13.12.2021 - 1 B 85.21 -, Rn 4) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 10.06.2021 - C-901/19 -, juris Rn. 31 ff.) ist für die Verfolgungsdichte kein auf alle Konfliktlagen anzuwendender "Gefahrenwert" im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen, quantitativen Mindestschwelle anzuwenden. Sondern es bedarf einer umfassenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer wertenden Gesamtschau auch der individuellen Betroffenheit. Dies ändert indes nichts daran, dass im Rahmen einer solchen Gesamtbetrachtung der Umstand, dass die Anzahl der bereits festgestellten Opfer bezogen auf die Gesamtbevölkerung in der betreffenden Region eine bestimmte Schwelle erreicht, als für die Feststellung einer solchen Bedrohung relevant angesehen werden kann, nur eben nicht im Sinne einer systematischen Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums (BVerwG, a.a.O). Zu den im Rahmen der gebotenen umfassenden Wertung aller Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigenden Faktoren gehören insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH, a.a.O., Rn. 43).

Zur Sicherheitslage im Sudan hat das Verwaltungsgericht Hannover ausgeführt (Urteil vom 07.06.2023 - 5 A 885/20 -, V.n.b., UA S. 10 ff.):

"Bereits am 16. April 2023 berichteten internationale Medien von 17 getöteten Zivilisten in Khartum und 56 getöteten Zivilisten landesweit. Mindestens 595 Menschen seien verletzt worden (BBC, Sudan: Army and RSF battle over key sites, leafing 56 civilians dead, vom 16.4.23, www.bbc.com/news/world-africa-65284945; Zugriff zuletzt am 24.4.2023).

Durch den Ausbruch dieses Konflikts wird die ohnehin schon angespannte Sicherheitslage in Sudan in einer Intensität und einem Ausmaß verschärft, dass von einer Gefährdung weiter Teile der Zivilbevölkerung auszugehen ist. Bereits in den ersten Tagen des Konflikts sind nach Medienberichten in Darfur dutzende und in Khartum hunderte Zivilpersonen zu Tode gekommen, es kam verbreitet zu Plünderungen und Übergriffen an belebten Orten wie Märkten (https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/deadly-sudan-army-rsf-clashes-spark-human-tragedy-widespread-looting-in-darfur, www.bbc.com/news/world-africa-65293537 vom 17.4.2023, Zugriff zuletzt am 24.4.2023; UNHCR Report vom 15. Mai 2023, https://data.unhcr.org/en/documents/download/100697, abgerufen am 26.5.2023).

Am 20. April 2023 berichtete "Zeit Online" unter Berufung auf die Schätzungen von Botschaften von bereits von 270 getöteten Zivilisten (Konfliktparteien ignorieren erneut Zeitplan für Waffenruhe, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-04/sudan-kaempfe-waffenruhe-scheitert-tausende-fliehen; Zugriff am 24.4.23). Die Nutzung von schweren Waffen, gepanzerten Fahrzeuge und Kampfflugzeugen im dicht besiedelten Khartum hat viele zivile Todesopfer zur Folge (Amnesty International, Sudan: Parties to the conflict must ensure protection of civilians as deaths mount, vom 17.4.23, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/04/sudan-conflict/, Zugriff am 24.4.23). Auch wenn sich die kriegerischen Auseinandersetzungen im Wesentlichen auf den (bisher relativ stabilen) Ballungsraum Khartum-Omdurman beschränken, werden Zusammenstöße aus allen Landesteilen berichtet. Auch in relativ ruhigen Provinzen sind Bedrohungen durch Verbrechen und Unruhen signifikant gestiegen (UNHCR Report vom 15. Mai 2023, https://data.unhcr.org/en/documents/download/100697, abgerufen am 26.5.2023).

Zwischenzeitlich sind durch westliche Militäreinsätze mehr als 1.000 EU-Bürger evakuiert worden. Während westliche Staaten ihr diplomatisches Personal ausfliegen, versuchen Einheimische und Staatsangehörige der Nachbarländer weiterhin, auf dem Landweg vor den anhaltenden Kämpfen zu fliehen. Am 11. Mai 2023 bezifferte UNHCR die Zahlen der sudanesischen Flüchtlinge auf ca. 143.000, der Flüchtlinge anderer Nationalitäten auf 9.500 und die der in Nachbarländer zurückkehrenden Flüchtlinge auf knapp 52.000.

Die Sicherheitslage hat sich auch durch mehrere Vereinbarungen über Waffenruhen nicht erkennbar gebessert. Der sudanesische Ärzteverband teilte am 24. Mai 2023 mit, dass seit Beginn der Kämpfe 865 Todesfälle und 3,634 Verletzungen registriert worden seien. Eine von Montag, dem 22. Mai 2023 vereinbarte einwöchige Waffenruhe ist bereits am Mittwoch, den 24. Mai 2023 durch heftige Kämpfe unterbrochen worden, die Konfliktparteien werfen einander Artilleriebeschuss und Luftangriffe bzw. den Überfall auf eine Münze und die Bombardierung von Stellungen und Ortschaften vor (vgl. https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/sudan-capital-calm-again-after-fierce-fighting-on-wednesday, abgerufen am 26.5.2023). Am 31. Mai 2023 hat die sudanesische Armee weitere Verhandlungen über eine Waffenruhe einseitig beendet und Berichten zufolge Stellungen der paramilitärischen RSF-Miliz beschossen. Die Armee habe die Gespräche beendet, weil die RSF bislang keine der Vorschriften für die kurzzeitige Waffenruhe umgesetzt habe, darunter etwa den Rückzug aus Krankenhäusern und Wohngebäuden (https://www.tagesspiegel.de/internationales/artilleriebeschuss-von-rsf-stellungen-sudanesische-armee-beendet-gesprache-um-waffenruhe-vorzeitig-9908129.html, abgerufen am 31.5.2023).

Auch in einem Bericht über den Tod einer bekannten Sängerin werden andauernde Luftangriffe auf bewohnte Stadtteile beschrieben (https://www.ecoi.net/de/dokument/2092071.html), die die Zivilbevölkerung einem realen Risiko aussetzen, durch "Kollateralschäden" getötet oder verletzt zu werden. Die Krankenhausversorgung soll zwischenzeitlich zu 80 % ausgefallen sein (UNHCR Report vom 15.5.2023, https://data.unhcr.org/en/documents/download/100697).

Am 6. Juni 2023 und dem 7. Juni 2023 ist es zu weiteren, schweren Gefechten mit Artilleriebeschuss und Luftangriffen in der Hauptstadt gekommen, die zu großen Teilen von der RSF kontrolliert wird; mehrere Zivilisten sind durch Luftangriffe getötet und verletzt worden (https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/escalating-fighting-and-water-supply-cut-off-in-sudan-capital und https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/fierce-fighting-continues-in-sudan-capital, abgerufen am 7. Juni 2023).

Auch das niedersächsische Innenministerium hat zwischenzeitlich einen bis 31. Juli 2023 befristeten Abschiebestopp in den Sudan erlassen und zur Begründung ausgeführt, dass die unvorhersehbare dramatische Entwicklung in der Republik Sudan derzeit noch nicht einschätzbare negative Auswirkungen auf die humanitären Rahmenbedingungen für abgeschobene sudanesische Staatsangehörige habe. Angesichts dessen und der noch unübersichtlichen Lage vor Ort seien Rückführungen in die Republik Sudan aus humanitären Gründen nicht zu vertreten."

Am 15.06.2023 verurteilten die USA "auf das Schärfste" die im Land begangenen Menschenrechtsverletzungen, den Missbrauch und die Gewalt gegen Menschen. Insbesondere die ethnische Gewalt der RSF und ihrer Verbündeten in Westdarfur würden die USA beunruhigen. Zudem versage die SAF in ihrer Aufgabe, die Zivilbevölkerung zu schützen. Für den 18.06.2023 um 06.00 Uhr war ein 72-stündiger Waffenstillstand vereinbart (BAMF, Briefing Notes vom 19.06.2023). Dennoch gingen in den Regionen Khartum, Dafur, South Kordofan und Blue Nile Ende Juni / Anfang Juli die Kämpfe zwischen Armee und RSF mit getöteten Zivilisten und Fluchtbewegungen der Zivilbevölkerung weiter (https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/%e2%99%a6-sudan-this-weeks-news-in-brief-%e2%99%a6-12; https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/%e2%99%a6-sudan-this-weeks-news-in-brief-%e2%99%a6-11; https://www.dabangasudan.org/en/all-news/article/sudan-army-claims-victory-after-battles-with-rebel-fighters-in-blue-nile-region; zuletzt abgerufen am 06.07.2023).

Da die Zivilbevölkerung in Khartum signifikant von den kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen und dort kaum noch eine medizinische Versorgung gewährleistet ist, bestehen zur Überzeugung der Einzelrichterin stichhaltige Gründe für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr nach Khartum allein durch die Anwesenheit in dem Gebiet tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dies der einzig in Betracht kommende Zielort einer Abschiebung in den Sudan (s.o.). Wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen ist nicht gewährleistet, dass der Kläger von dort aus im Fall einer Abschiebung sicher in seine Heimatregion (vorliegend: Geburtsort Thabit in der Nähe der Stadt El Fasher in Nord-Darfur bzw. - laut französischem Bescheid vom 18.06.2015 - mehrjähriger Aufenthaltsort Kassala) oder in einen anderen, von Kriegshandlungen nicht betroffenen Landesteil weiterreisen kann. Dass er einen solchen sicheren Landesteil unmittelbar aus dem Ausland erreichen kann, ist ebenfalls nicht gewährleistet.

4. Es kann dahinstehen, ob die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG gerechtfertigt ist oder auch unabhängig davon (s. dazu: VG Osnabrück, Urteil vom 26.05.2021 - 4 A 188/19 -, juris Rn. 40; VG Hannover, Urteil vom 15.05.2023 - 5 A 3194/18 -, V.n.b.; jeweils m.w.N.). Denn die vorstehend geschilderten Umstände stellen eine wesentliche Änderung der entscheidungserheblichen Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar, die nach dem Abschluss des ersten Asylverfahrens eingetreten ist und auch im Wege von Rechtsmitteln nicht geltend gemacht werden konnte. Insoweit sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens eröffnet.

Da ein Abschiebungsverbot besteht, sind auch die in Ziffern 3 und 4 des Bescheids ergangenen Folgeentscheidungen aufzuheben, da sie verfrüht ergangen bzw. gegenstandslos geworden sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.