Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.03.2021, Az.: 13 ME 75/21

Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Aussetzung der Abschiebung; Duldung; Passlosigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.03.2021
Aktenzeichen
13 ME 75/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70835
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 11.02.2021 - AZ: 1 B 1790/20

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 1. Kammer - vom 11. Februar 2021, soweit damit der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt wurde, und hinsichtlich der Kostenentscheidung geändert.

Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, die Abschiebung des Antragstellers vorläufig auszusetzen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 11. Februar 2021, soweit damit der Antrag auf Erlass einer auf Duldung des Antragstellers gerichteten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO abgelehnt wurde, hat auch in der Sache Erfolg.

Dieses Eilbegehren des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht abgelehnt. Denn der Antragsteller hat gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO sowohl einen Anordnungsgrund (die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung) als auch einen Anordnungsanspruch (auf Aussetzung der Abschiebung) glaubhaft gemacht.

1. Ein Anordnungsgrund liegt entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts, wie der Antragsteller zu Recht betont, darin, dass dieser mangels einer verfügenden Entscheidung der Ausländerbehörde über die Erteilung einer Duldung Gefahr läuft, nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen illegalen (und nicht geduldeten) Aufenthalts im Bundesgebiet strafrechtlich verfolgt zu werden (vgl. Buchstabe c) der genannten Vorschrift). Auch deshalb wird in der Judikatur immer wieder betont, dass das Gesetz grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt (im Sinne einer tatsächlichen Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung) lässt, sondern vielmehr davon ausgeht, dass ein (vollziehbar) ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 21.3.2000 - BVerwG 1 C 23.99 -, BVerwGE 111, 62, juris Rn. 13, noch zu § 55 Abs. 2 AuslG 1990). Dass, wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss auf Seite 13 ausgeführt hat, die Abschiebung des Antragstellers mangels vorliegender Rückreisedokumente in absehbarer Zeit tatsächlich nicht drohe, ist daher unerheblich.

2. Ein Anordnungsanspruch auf vorläufige Aussetzung der Abschiebung folgt aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

a) Die Ausländerbehörde des Antragsgegners ist für den Antragsteller gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a) VwVfG, § 1 Abs. 1 NVwVfG in Verbindung mit § 71 Abs. 1 AufenthG ungeachtet dessen derzeitigen Aufenthalts in A-Stadt weiterhin örtlich und sachlich zuständig, weil dieser aufgrund der ausländerbehördlichen Anordnung des Antragsgegners vom 3. September 2020, jedenfalls aber kraft einer gesetzlichen Wohnsitzauflage für die Gemeinde C. im Landkreis D. nach § 61 Abs. 1d Sätze 1 und 2 AufenthG durch bloße Wohnsitzverlegung seinen gewöhnlichen Aufenthalt bislang nicht rechtmäßig dorthin verlegen konnte (vgl. zu diesem Zusammenhang Senatsbeschl. v. 9.9.2020 - 13 ME 226/20 -, InfAuslR 2020, 441, juris Rn. 5 f., und v. 5.12.2017 - 13 ME 181/17 -, DVBl. 2018, 268, juris Rn. 30). Nach Mitteilung des Antragsgegners vom 25. März 2021 (vgl. Bl. 79 der GA) ist ein Umverteilungsverfahren (bzw. ein nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG eingeleites Verfahren zur Änderung der Wohnsitzauflage) mit dem Ziel einer Wohnsitznahme des Antragstellers in A-Stadt noch nicht abgeschlossen.

b) Eines förmlichen „Antrags auf Duldung“ durch den Antragsteller, etwa im Rahmen einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde, wie sie offenbar der Antragsgegner vermisst, bedurfte es bei der hier in Rede stehenden Art der Duldung nicht (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.3.2010 - 18 B 84/10 -, juris Rn. 6 f.).

Denn nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG „ist“ die Abschiebung unter den dort genannten Voraussetzungen von Amts wegen (§ 22 Satz 2 Nr. 1, 1. Alt. VwVfG, § 1 Abs. 1 NVwVfG) durch die Ausländerbehörde auszusetzen, das heißt muss eine Duldung erteilt werden (vgl. Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 60a Rn. 22). Das in § 81 Abs. 1 AufenthG geregelte Antragserfordernis bezieht sich demgegenüber nur auf „Aufenthaltstitel“ (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), zu denen die Duldung nicht zählt, weil damit lediglich vorübergehend von einer Durchsetzung (Vollstreckung) der gesetzlich erzeugten vollziehbaren Ausreisepflicht (§§ 50 Abs. 1, 58 AufentG) im Wege der Abschiebung abgesehen, jedoch keine Entscheidung hinsichtlich einer Legalisierung des Aufenthalts getroffen wird.

Im Übrigen kann ein dem Antragsgegner erkennbares Duldungsbegehren zumindest konkludent aus der Führung des vorliegenden Eilrechtsstreits abgeleitet werden.

c) Die zwangsweise Rückführung (Abschiebung) des Antragstellers nach Côte d‘Ivoire (Elfenbeinküste) ist hier bereits deshalb aus tatsächlichen sowie ggf. zugleich aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil bei diesem ersichtlich ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis in Gestalt sog. Passlosigkeit vorliegt.

Denn zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Antragsteller derzeit nicht über die für eine Abschiebung erforderlichen Reisedokumente verfügt. Hiervon ist insbesondere der Antragsgegner bereits im erstinstanzlichen Eilverfahren ausgegangen (vgl. Schriftsatz v. 16.12.2020, Bl. 39 der GA), und er hält auch im Beschwerdeverfahren daran fest „dass hinsichtlich des Antragstellers derzeit nur tatsächliche Duldungsgründe, mithin das Fehlen der Ausreisedokumente, vorliegen“ (vgl. den jüngsten Schriftsatz v. 25.3.2021, Bl. 80 der GA; Hervorhebung durch den Senat).

Vor diesem Hintergrund bedarf die Frage, ob bei dem Antragsteller, dessen Sohn zusammen mit der Mutter in A-Stadt lebt, darüber hinaus auch ein rechtliches inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK (Familienleben) besteht, im vorliegenden Verfahren keiner Beantwortung.

II. Die einheitliche Kostenentscheidung zu den Kosten des gesamten Rechtsstreits unter Einbeziehung des nicht mit der Beschwerde angefochtenen stattgebenden Teils des erstinstanzlichen Beschlusses folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.3, 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11). In der Beschwerdeinstanz stand nur noch das auf Duldung gerichtete Begehren nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO in Streit.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).