Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 24.01.2022, Az.: 2 B 11/22

Irak; offensichtlich unbegründet; Offensichtlichkeitsurteil; wirtschaftliche Gründe; Yeziden

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
24.01.2022
Aktenzeichen
2 B 11/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59487
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Für die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 2 AsyllG genügt nicht, dass der Antragsteller im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt auf Vorhalt erklärt hat, er habe das Heimatland vorrangig aus wirtschaftlichen Gründen verlassen.

2. Gegenwärtig bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer qualifizierten Ablehnung des Asylantrags von Yeziden aus dem Irak.

Gründe

Der gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Januar 2022 verfügte Abschiebungsandrohung ist begründet. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes.

Das Bundesamt hat mit dem angegriffenen Bescheid den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt und daher eine Ausreisefrist von einer Woche gesetzt (vgl. § 36 Abs. 1 Alt. 2 AsylG). In diesem Fall darf einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsandrohung nur stattgegeben werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen (vgl. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die verfügte Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99 = BVerfGE 94, 166). Dies ist hier der Fall. Erhebliche Gründe sprechen dafür, dass das Bundesamt den Asylantrag (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG) nicht als offensichtlich unbegründet ablehnen und daher auch die kurze Ausreisefrist nicht verfügen durfte.

Nach § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes – also der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) – offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist der Fall, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.02.2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 19 ff. = InfAuslR 2020, 256). Nach § 30 Abs. 2 AsylG, auf den sich das Bundesamt zur Begründung seiner Offensichtlichkeitsentscheidung berufen hat, ist ein Asylantrag insbesondere dann offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen im Bundesgebiet aufhält. Auch die in § 30 Abs. 2 AsylG genannten Regelbeispiele für einen offensichtlich unbegründeten Asylantrag setzen ein Offensichtlichkeitsurteil voraus, also eine vollständige Erforschung des Sachverhalts und eine zu begründende sichere Überzeugung davon, dass nur die in dieser Vorschrift genannten Aufenthaltsmotive vorliegen (BVerfG, Beschluss vom 20.09.2001 - 2 BvR 1392/00 -, juris Rn 22 = Inf-AuslR 2002, 146). Die qualifizierte Asylablehnung nach § 30 Abs. 2 AsylG – als offensichtlich unbegründet – ist nur dann zulässig, wenn neben den in der Vorschrift genannten Aufenthaltsmotiven keine asylrelevanten anderen vorgetragen oder sonst ersichtlich sind (BVerfG, Beschluss vom 20.09.2001, a.a.O., Rn. 22; Marx, AsylG, 10. Aufl., § 30 Rn. 36). Abzustellen ist auf die Gründe für das Asylgesuch (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 22; Marx, a.a.O.). Daher sind die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 AsylG schon dann nicht gegeben, wenn neben den dort genannten Aufenthaltsmotiven asylrechtlich relevante vorgetragen werden oder sonst ersichtlich sind, auch wenn diese bei abschließender Gesamtbewertung letztlich keine Schutzrechte begründen können (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AsylG, Stand: Januar 2022, § 30 Rn. 44).

Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine qualifizierte Ablehnung des Asylantrages wegen der Berufung auf wirtschaftliche Gründe nach § 30 Abs. 2 AsylG hier nicht erfüllt. Der Antragsteller hat die ihm im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt gestellte Frage, ob er den Irak vorrangig aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe und ihm persönlich nichts widerfahren sei, zwar in der Anhörung bejaht (S. 5 des Anhörungsprotokolls). Damit hat er aber schon wörtlich genommen auf die konkrete Nachfrage des Bundesamtes lediglich den aus seiner Sicht „vorrangigen“ Asylgrund bezeichnet. Dass wirtschaftliche Gründe das nach der Wertung des Schutzsuchenden vorrangige Aufenthaltsmotiv sind, genügt für die qualifizierte Ablehnung nach § 30 Abs. 2 AsylG jedoch nicht. Dafür spricht zum einen der Wortlaut, zum anderen aber auch der Zweck der Regelung, die im Fall eindeutig und sicher nicht bestehender Schutzansprüche nach § 1 Abs. 1 AsylG ein einfaches und schnelles Verfahren ermöglichen soll. Dass andere schutzrelevante Aufenthaltsmotive vorliegen, ist aber nicht ohne Weiteres sicher ausgeschlossen, wenn der sich im Rahmen der Anhörung in aller Regel ohne eigene Rechtskenntnisse äußernde Schutzsuchende eine Rangfolge seiner Aufenthaltsmotive erstellt.

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die sonstigen Angaben des Antragstellers schutzrelevante Aufenthaltsmotive erkennen lassen. So hat er im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt geltend gemacht, „sie“ seien diskriminiert worden, weil sie Yeziden seien. Auf die Frage, warum er Schwierigkeiten im Irak befürchte, hat er erklärt, der Irak sei instabil, man wisse nicht, wohin sich die Sache entwickle. Ausdrücklich hingewiesen hat er darauf, dass die Familie den Heimatort E. im Jahr 2014 verlassen habe, weil Teile des Ortes im Rahmen des gewaltsamen Vorrückens des sogenannten Islamischen Staates (IS) mit Mörsergranaten beschossen worden seien. Mit diesen Ausführungen hat der Antragsteller verdeutlicht, dass er den Irak auch wegen der instabilen allgemeinen Sicherheitslage verlassen hat; eine solche Lage kann zumindest zu Schutzansprüchen nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen (vgl. dazu auch VG München, Beschluss vom 16.04.2020 - M 4 S 20.30879 -, juris Rn. 28). Insbesondere vor dem Hintergrund der allgemein angenommenen Vorverfolgung der Yeziden im Irak durch den IS in den Jahren 2014 bis 2017, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung in diesem Zeitraum geführt hat, ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller dieses Vorbringen offensichtlich lediglich grundlos vorgeschoben hat, um andere, nicht schutzrelevante Aufenthaltsmotive zu verdecken (vgl. zu diesem Kriterium VG München, a.a.O., Rn. 27 m.w.N.). Soweit der Antragsteller sich darüber hinaus auf Diskriminierungen berufen hat, können diese beispielsweise nach § 3a Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG schutzrelevant sein. Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ist schon deswegen nicht nach § 30 Abs. 2 AsylG gerechtfertigt, weil der Antragsteller sich nicht allein auf wirtschaftliche Gründe oder eine allgemeine Notsituation berufen, sondern auch asylrechtlich relevante Aufenthaltsgründe vorgetragen hat bzw. solche Gründe seinem Vortrag eindeutig zu entnehmen sind. Unerheblich ist insoweit, ob diese bei einer abschließenden Gesamtbewertung letztlich zu Schutzansprüchen nach § 1 Abs. 1 AsylG führen werden. Dass Schutzansprüche nicht gegeben sind, führt nach den Regelungen des Asylgesetzes lediglich zur Ablehnung des Asylantrags, rechtfertigt die qualifizierte Ablehnung als „offensichtlich“ unbegründet und die damit nach § 36 Abs. 1 AsylG einhergehende Verkürzung der Ausreisefrist jedoch nicht.

Das Gericht kann offenlassen, inwieweit das Offensichtlichkeitsurteil unter Berücksichtigung des Unionsrechts überhaupt noch allein auf § 30 Abs. 1 AsylG gestützt werden kann und nach einer vom Bundesamt rechtswidrig auf § 30 Abs. 2 AsylG gestützten Offensichtlichkeitsentscheidung im gerichtlichen Eilverfahren noch zu prüfen ist, ob sich diese Entscheidung mit einer anderen Norm des nationalen Rechts rechtfertigen lässt (vgl. zu diesen Fragen z.B. Funke-Kaiser, a.a.O., § 30 Rn. 13, 24, § 36 Rn. 79). Denn jedenfalls bestehen auch ernstliche Zweifel daran, den Asylantrag nach der allgemeinen Regelung in § 30 Abs. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen.

Zumindest im Hinblick auf einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bestehen durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer qualifizierten Ablehnung des Asylantrags. Unter Berücksichtigung der jüngeren Geschichte des Irak mit dem Erstarken des IS in den Jahren 2013 bis 2015, seinen rechtlich als Gruppenverfolgung anzusehenden grausamen und gewalttätigen Übergriffen auf die Yeziden, der Zurückdrängung des IS durch den irakischen Staat, Verbündete und eine Vielzahl paramilitärischer Gruppierungen in den Folgejahren und den seither schwelenden multiplen religiösen sowie ethnischen Konflikten im Irak sind subsidiäre Schutzansprüche für Menschen aus dem Nordirak gegenwärtig nicht offensichtlich ausgeschlossen (vgl. dazu auch VG München, a.a.O., Rn. 25). Zu klären ist dazu unter Auswertung der aktuellen Erkenntnisse nicht nur, ob ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in der Bezugsregion des Irak besteht. Zur Klärung der Frage, ob eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit vorliegt, bedarf es darüber hinaus aktueller Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits zu umfassen hat, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden; außerdem ist eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Beeinträchtigungen in der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage erforderlich (vgl. z.B. Nds. OVG, Beschluss vom 11. März 2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 117; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.10.2021 - 9 A 2152/20.A -, juris Rn. 153 m.w.N.). Schon wegen der Komplexität dieser Feststellungen bestehen ernstliche Zweifel dagegen, den Anspruch auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abzulehnen. Hinzu kommt, dass das Bundesamt in dem angegriffenen Bescheid keine Feststellungen dazu getroffen hat, auf welche Region des Irak bei der Prüfung von Schutzansprüchen nach § 4 AsylG im konkreten Fall abzustellen ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 13).

Die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Offensichtlichkeitsentscheidung zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hat das Bundesamt auch nicht mit dem Hinweis ausgeräumt, der Antragsteller habe angegeben, keine Schwierigkeiten gehabt zu haben; daher sei nicht erkennbar, „dass es eine Annahme gäbe, die rechtfertigen würde, dass ihm bei Rückkehr nach Irak ein ernstzunehmender Schaden droht“ (S. 5 des Bescheides). Das Bundesamt hat die Angaben des Antragstellers schon nicht zutreffend wiedergegeben. Der Antragsteller hat in der Anhörung lediglich vorgetragen, dass ihm persönlich nichts widerfahren sei und er als Person kein Problem mit anderen habe (S. 5 des Anhörungsprotokolls). Daraus lässt sich jedenfalls auch nicht herleiten, dass er offensichtlich keinen Schutzanspruch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hat. Maßgeblich für diesen Schutzanspruch ist, ob sich aus der allgemeinen Gefahrenlage eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Schutzsuchenden ergibt und ihm damit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG droht. Dass der Schutzsuchende bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, ist nicht erforderlich.