Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 09.04.2024, Az.: 12 A 22/21

Ausschlussgrund; Flüchtlingseigenschaft; Gruppenverfolgung; Rückreise; unzumutbar; Völkermord; Wegfall der Umstände; Widerrufsentscheidung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
09.04.2024
Aktenzeichen
12 A 22/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 15446
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0409.12A22.21.00

Amtlicher Leitsatz

Der Anwendungsbereich des § 73 Abs. 3 AsylG ist bei Yeziden aus dem Nordirak eröffnet (wie VG Hamburg, Urt. vom 29.11.2022 - 8 A 4314/21 -, juris).

In der Verwaltungsrechtssache
Herr B.
,
B-Straße, B-Stadt
Staatsangehörigkeit: irakisch,
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte C.,
C-Straße, A-Stadt - -
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Oldenburg -,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg - -
- Beklagte -
wegen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 12. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 09.04.2024 durch Richterin am Verwaltungsgericht Kärst als Einzelrichterin für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der ihm zuerkannten Flüchtlingseigenschaft.

Der Kläger ist im Jahr 1997 in Sinjar geboren, irakischer Staatsangehörigkeit und yezidischen Glaubens.

Mit Bescheid vom 27.05.2015 wurde ihm vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Die Entscheidung beruhte auf der Erwägung, dass der Kläger aufgrund seiner Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Irak mit Verfolgung zu rechnen habe und nicht auf zumutbaren innerstaatlichen Schutz verwiesen werden könne.

Per E-Mail vom 16.08.2017 teilte die Bundespolizei dem Bundesamt mit, dass der Kläger am Flughafen in Kopenhagen kontrolliert worden sei, als er in den Irak habe fliegen wollen. Angefügt waren der Nachricht die Kopien des Aufenthaltstitels des Klägers, eines auf den Kläger ausgestellten Boarding Passes vom 14.04.2017 für einen Flug von Kopenhagen nach Erbil sowie eines Ausreisestempels im Reisepass des Klägers vom selben Tag.

Mit Schreiben vom 09.07.2019 forderte das Bundesamt den Kläger auf, den Grund für die Reise in den Irak, seinen Aufenthaltsort im Irak und die Dauer seines Aufenthalts mitzuteilen sowie anzugeben, mit welchen Personen er gereist sei.

Mit Schreiben vom 16.09.2019 teilte der Kläger daraufhin mit, sein Onkel sei im Irak verstorben. Er sei der einzige Bruder seiner Mutter gewesen und seine Mutter, die sich ebenfalls in Deutschland aufhalte, habe ihn, den Kläger, gebeten, an der nachträglichen Trauerfeier teilzunehmen und dem verstorbenen Onkel die Ehre zu erweisen. Die Beisetzung sei in Khanke erfolgt, da sich der Onkel als Binnenflüchtling dort in einem Flüchtlingslager aufgehalten habe. Er, der Kläger, sei etwa vier Wochen in der Region Dohuk gewesen. Er sei allein ein- und ausgereist.

Mit Schreiben vom 30.09.2019 fragte das Bundesamt nach weiteren Einzelheiten zu dem Aufenthalt.

Mit weiterem Schreiben vom 16.10.2019 teilte der Kläger den Namen seines verstorbenen Onkels und das Sterbedatum 13.10.2016 sowie das Datum der Beisetzung am 14.10.2016 mit. Die nachträgliche Trauerfeier habe zwischen dem 14.10.2016 und dem 21.10.2016 stattgefunden. Da die Ehefrau und die Kinder des Onkels auf seine Hilfe, die des Klägers, angewiesen gewesen seien, sei ihm eine sofortige Abreise nach der Trauerfeier nicht möglich gewesen. Dem Schreiben fügte der Kläger die Kopie der Sterbeurkunde vom 16.10.2016 nebst Übersetzung bei.

Mit Schreiben vom 25.10.2019 wies das Bundesamt den Kläger darauf hin, dass ihm Nachweise zu einem Flug des Klägers am 14.04.2017 von Kopenhagen nach Erbil vorlägen, und bat um Aufklärung dieses Sachverhalts.

Mit Schreiben vom 04.11.2019 teilte der Kläger mit, er sei nicht im Jahr 2016 in den Irak gereist, sondern ein einziges Mal im April 2017, um an einer nachträglichen Trauerfeier teilzunehmen. Für Angehörige, die bei der Beisetzung nicht anwesend gewesen seien, finde auch nach der Beisetzung eine nachträgliche Trauerfeier statt.

Mit Verfügung vom 20.11.2019 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein und mit Schreiben vom 21.11.2019 hörte das Bundesamt den Kläger zu dem beabsichtigten Widerruf an. Eine Stellungnahme des Klägers erfolgte nicht.

Mit Bescheid vom 14.01.2020 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 27.05.2015 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1). Das Bundesamt erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 2) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass von einer wesentlichen Sachlagenänderung auszugehen sei, die in der Person des Klägers bzw. seinem Verhalten liege. Der Widerrufsgrund "Änderung der Sachlage" umfasse grundsätzlich auch in der Person eines Ausländers liegende Umstände. Solche Sachlagenänderungen, die in der Person des Ausländers lägen und einen Widerruf rechtfertigen könnten, seien unter anderem freiwillige Rückreisen. Nehme ein Ausländer seinen qualifizierten Status als anerkannter Flüchtling nicht in Anspruch, obwohl er angegeben habe, diesen Schutz dringend zu brauchen, begründe ein solches Verhalten wesentliche Zweifel daran, dass eine solche Schutzgewährung noch notwendig sei. Dabei sei es nicht entscheidend, ob der Schutz des früheren Verfolgerstaates objektiv gegeben sei oder nicht. Maßgeblich sei nur der Entschluss des Flüchtlings zu einer erneuten Unterstellung unter den Schutz des Verfolgerstaates. Unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt der Kläger in sein Herkunftsland zurückgekehrt sei, sei festzustellen, dass er vollkommen unbehelligt mehrere Wochen dort gelebt, dem Cousin eine Arbeitsstelle beschafft, eine Wohnung für die Familie besorgt und sich um die Grabpflege gekümmert habe. Von einem Leben im Verborgenen könne definitiv nicht ausgegangen werden. Dieses Verhalten zeige im Übrigen, dass der Kläger selbst keine Verfolgung mehr im Irak befürchte. Über die wesentliche Sachlagenänderung hinaus sei festzustellen, dass der Kläger zunächst sehr ausführlich zu seiner angeblichen Rückreise im Jahre 2016 Stellung genommen habe. Später habe er das nicht mehr gelten lassen wollen. Durch Verschleierung der wahren Zeitumstände habe der Kläger gezeigt, dass er den Tod des Onkels nur als Vorwand genommen habe, eine Reise in den Verfolgerstaat mit mehrwöchigem Aufenthalt im Nachhinein plausibel erklären zu können. Seine Glaubwürdigkeit im Widerrufsverfahren sei damit erheblich tangiert.

Der Kläger hat am 20.01.2020 Klage erhoben.

Er bezieht sich auf seine Angaben im Verwaltungsverfahren und beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.01.2020 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2 und 3 des Bescheides zu verpflichten,

  1. 1.

    ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

  2. 2.

    das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak festzustellen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Entscheidung des Bundesamtes in Ziffer 1 des Bescheides vom 14.01.2020, die dem Kläger zuerkannte Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, ist rechtmäßig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (I.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG; insoweit sind die Ziffer 2 und 3 des Bundesamtsbescheides vom 14.01.2020 rechtmäßig, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO (II.).

I. Die Widerrufsentscheidung findet ihre Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der Gesetzesfassung vom 21.12.2022, in Kraft seit dem 01.01.2023, da maßgeblich für das vorliegende Asylverfahren gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist. Danach ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AsylG - die übrigen Widerrufsgründe sind vorliegend nicht erfüllt - insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, sodass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann.

1. Die Umstände, die zu der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers geführt haben, sind weggefallen, weshalb es der Kläger heute nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des irakischen Staates in Anspruch zu nehmen.

Ein Wegfall der Umstände im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AsylG setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Umstände, aus denen die zur Flüchtlingszuerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingszuerkennung und der für den Widerruf nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Ausgehend von einer strikten Spiegelbildlichkeit der Maßstäbe für die Zuerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft bestimmt sich die Erheblichkeit der Veränderung der Umstände danach, ob noch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht. Nicht nur vorübergehend im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG ist eine Veränderung, wenn eine Prognose ergibt, dass sich die Änderung der Umstände als stabil erweist, das heißt, der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält (BVerwG, Urt. vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 18 ff. unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. vom 02.03.2010 - C-175/08 u.a. - zu der zugrundeliegenden Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie - QRL -); VG Hamburg, Urt. vom 29.11.2022 - 8 A 4314/21 -, juris Rn. 24; Funke-Kaiser in GK-AsylG, Stand Mai 2023, § 73 Rn. 63ff.).

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers durch den Bescheid des Bundesamtes vom 27.05.2015 beruhte allein auf der Annahme, dass der Kläger aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden im Irak der Verfolgung durch den IS ausgesetzt war und auch nicht auf innerstaatlichen Schutz verwiesen werden konnte. Eine solche Verfolgung des Klägers ist jedoch heute auf absehbare Zeit nicht mehr beachtlich wahrscheinlich.

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines staatlichen Verfolgungsprogramms - eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dabei sind die vorgenannten Grundsätze zur Gruppenverfolgung auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar (vgl. BVerwG, Urt. vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 14).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist aufgrund der verfügbaren Erkenntnisse eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sinjar der Provinz Ninive, der Herkunftsregion des Klägers, durch die Terrormiliz IS heute und auf absehbare Zeit nicht mehr beachtlich wahrscheinlich.

Zwar war der Kläger angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung vor seiner Ausreise aus dem Irak als Yezide von einer Gruppenverfolgung bedroht. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist im Fall des Klägers widerlegt. Es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wird, da sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben.

Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft im Distrikt Sinjar durch Mitglieder des IS wurde erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Heute hat der IS sein Herrschaftsgebiet im Irak jedoch nahezu vollständig verloren und hält dort kein Territorium mehr (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter https://isis.liveuamap.com/). Es ergeben sich derzeit auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, erneut den Distrikt Sinjar zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden flächendeckend zu verfolgen (vgl. Nds. OVG, Urt. vom 22.10.2019 - 9 LB 130/19 -, juris Rn. 53, und zuletzt Beschl. vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 60ff; vgl. auch OVG NRW, Urt. vom 21.12.2022 - 9 A 1740/20.A -, juris Rn. 43 und vom 10.05.2021 - 9 A 1489/20.A -, juris Rn. 76ff.).

Auch die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sinjar, da es an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. Die gebotene Relationsbetrachtung zwischen der Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerungsgruppe und der Anzahl sowie dem Gewicht der Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG ergibt bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen. Diese Überzeugung in der obergerichtlichen Rechtsprechung (Nds. OVG, Urt. vom 30.07.2019 - 9 LB 133/19 -, juris Rn. 52ff., Beschl. vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 61ff. allerdings in Bezug auf Tilkaif; OVG NRW, Urt. vom 05.09.2023 - 9 A 1249/20.A -, juris Rn. 34ff. und vom 21.12.2022 - 9 A 1740/20.A -, juris; OVG Saarl., Beschl. vom 05.10.2022 - 2 A 252/21 -, juris Rn. 11; VGH Ba.-Württ., Urt. vom 12.07.2023 - A 10 S 400/23 -, juris Rn. 30ff.; BayVGH, Beschl. vom 05.06.2023 - 5 ZB 22.31199 -, juris Rn. 10) teilt die Einzelrichterin.

Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Yeziden aus dem Sinjar. Ist eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich eine solche Wahrscheinlichkeit zwar aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. BVerwG, Urt. vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 24; Urt. vom 30.10.1984 - 9 C 24.84 -, juris Rn. 12; Nds. OVG, Urt. vom 30.07.2019 - 9 LB 133/19 -, juris Rn. 129-130); im Falle des Klägers ist hierfür jedoch nichts ersichtlich.

Schließlich ist auch eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft nicht zu befürchten. Eine systematische Verfolgung religiöser Minderheiten durch den irakischen Zentralstaat findet nicht statt (vgl. Nds. OVG, Urt. vom 30.07.2019 - 9 LB 133/19 -, juris Rn. 61-67, und Beschl. vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 51-58). In der irakischen Verfassung ist das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit verankert (Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 28.10.2022, S. 19).

2. Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers ist auch nicht nach § 73 Abs. 3 AsylG (§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG a.F.) ausgeschlossen. Danach gilt § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AsylG nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe oder auf früher erlittenen ernsthaften Schaden berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, abzulehnen.

Von einem Widerruf ist dementsprechend abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Maßgeblich sind Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen, ungeachtet dessen, dass diese abgeschlossen sind und sich aus ihnen für die Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt. Zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr muss mithin ein kausaler Zusammenhang bestehen. Dagegen schützt die Vorschrift nicht vor allgemeinen Gefahren. Ebenso wenig können humanitäre und aufenthaltsrechtliche Gründe sowie Erwägungen des Vertrauensschutzes berücksichtigt werden. Vielmehr trägt § 73 Abs. 3 AsylG der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (zum Vorstehenden BVerwG, Urt. vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, juris Rn. 37f.; VG Hamburg, Urt. vom 29.11.2022 - 8 A 4314/21 -, juris Rn. 36; Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2023, § 73 Rn. 116ff.; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 73 Rn. 54, 58, 61; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 01.01.2024, § 73 AsylG Rn. 53ff.; Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 73 AsylG Rn. 13). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Retraumatisierungen nicht auszuschließen sind, was - wenn auch ausgehend von einer objektiven Beurteilung der Zumutbarkeit - eine besondere Berücksichtigung der individuellen Einschätzung der konkreten Situation des Flüchtlings und die Einbeziehung dessen subjektiver Sichtweise erlaubt und erfordert (VG Hamburg, Urt. vom 29.11.2022 - 8 A 4314/21 -, juris Rn. 36; Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Mai 2023, § 73 Rn. 75; Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2023, § 73 Rn. 119; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 73 Rn. 58, 60; Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 73 AsylG Rn. 10).

Danach ist der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers nicht deshalb ausgeschlossen, weil besondere Gründe im Einzelfall es unzumutbar erscheinen lassen, dass der Kläger in den Irak zurückkehrt.

Zwar ist der Anwendungsbereich des § 73 Abs. 3 AsylG auch im Falle des Klägers eröffnet, weil der Kläger vorverfolgt aus dem Irak ausgereist ist. Der Begriff der "früheren Verfolgungen" im Sinne der Ausschlussregelung umfasst auch unmittelbar bevorstehende Verfolgungen und setzt nicht zwingend eine bereits erlittene Verfolgung voraus, denn auch eine Situation, in der der Flüchtende den Verfolgern noch entkommen konnte, kann so nachhaltig auf diesen einwirken, dass eine Rückkehr im Einzelfall unzumutbar sein kann (Funke-Kaiser in GK-AsylG, Stand Mai 2023, § 73 Rn. 73; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 73 Rn. 59; VG Hamburg, Urt. vom 29.11.2022 - 8 A 4314/21 -, juris Rn. 41). Der Kläger war vor den Angriffen des IS auf die yezidische Bevölkerung in der Provinz Ninive im August 2014 geflohen. Seine Flucht vor dem IS hatte mit Bescheid des Bundesamtes vom 27.05.2015 zur Zuerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft geführt und die Verfolgung der Yeziden aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit durch den IS im Norden des Irak in den Jahren 2014 bis 2017 wurde von einer vom UN-Menschenrechtsrat berufenen Kommission, vom Deutschen Bundestag (vgl. BT-Drs. 20/5228) und im März 2021 auch durch das irakische Parlament (www.dw.com/de/irak-jesiden-fühlen-sich-weiterhin-bedroht/a-57042162) als Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen qualifiziert.

Die Einzelrichterin hat aber nicht die Überzeugung gewinnen können, dass diese Vorverfolgung auf den Kläger heute noch solche nachhaltigen Auswirkungen hat, dass ihm eine Rückkehr in den Irak unzumutbar ist.

Gegen die Annahme von Nachwirkungen der erlittenen Vorverfolgung spricht maßgeblich, dass der Kläger nach seiner Flucht aus dem Irak - mindestens - einmal in sein Heimatland zurückgekehrt ist. Dabei können die Widersprüche in den schriftlichen Angaben des Klägers gegenüber dem Bundesamt, die sich insbesondere in Bezug auf die Rückreisedaten ergeben haben, dahinstehen, da der Kläger eingeräumt hat, zumindest einmal im Zusammenhang mit dem Versterben seines Onkels in den Irak gereist sein. Zwar ist es für die Einzelrichterin grundsätzlich denkbar, dass auch ein Flüchtling, dem die Rückkehr in sein Heimatland aufgrund erlittener Vorverfolgung unzumutbar ist, aufgrund einer besonderen sittlichen oder familiären Pflicht in die Heimat zurückreist. Das Bestehen einer solchen sittlichen Pflicht gegenüber der Familie seines Onkels und auch gegenüber seiner Mutter, die ihn an ihrer Stelle geschickt haben soll, hat auch der Kläger vorgetragen. Notwendig für einen Widerrufsausschluss nach § 73 Abs. 3 AsylG ist nach Auffassung der Einzelrichterin dann aber die überzeugende Darlegung des Ausländers, die Reise trotz großer psychischer Belastung durchgeführt zu haben, denn für den Widerrufsausschluss liegt die Darlegungs- und Beweislast beim Ausländer (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 01.01.2024, § 73 AsylG Rn. 55; Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2023, § 73 Rn. 111). Dazu hat der Kläger trotz Nachfrage in der mündlichen Verhandlung jedoch nichts vorgetragen. Er hat lediglich angegeben, die Reise heute als Fehler zu sehen, weil sie ursächlich für den Widerruf seiner Flüchtlingszuerkennung gewesen sei und dass er auch wegen des Widerrufsverfahrens nicht zu der Trauerfeier anlässlich des Todes seines Vaters in den Irak gereist sei. Bereits gegenüber dem Bundesamt hatte der Kläger zu der Reise ausgeführt, etwa vier Wochen in der Region Dohuk gewesen zu sein und der Ehefrau des Onkels sowie dessen Kindern bei der Wohnungs- und Arbeitssuche geholfen zu haben. Weder gegenüber dem Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger aber angegeben, dass ihn dieser Aufenthalt, zumal in seiner Länge, aufgrund der im Jahr 2014 erlittenen Vorverfolgung subjektiv besonders belastet habe. Gegenüber der Einzelrichterin hat der Kläger lediglich erklärt, dass er hier in Deutschland nicht so viele Gedanken und Angst vor dem IS habe, es aber schwierig sei, an damals zu denken. Auch diese Äußerungen legen keine psychische Sondersituation des Klägers dar, die seine Rückkehr in den Irak unzumutbar erscheinen lässt und deshalb einen Widerruf der zuerkannten Flüchtlingseigenschaft ausschließt.

II. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG.

1. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Der Prüfung der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG ist - wie bei der Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Hat der Ausländer bereits einen ernsthaften Schaden erlitten, oder war er von einem solchen unmittelbar bedroht, kommt ihm auch hier die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute (vgl. BVerwG, Urt. vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, juris Rn. 27). Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist bei einer nicht landesweiten Gefahrenlage - ebenfalls wie beim Flüchtlingsschutz - in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird. Schließlich wird auch subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG).

Dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Distrikt Sinjar der Provinz Ninive einen ernsthaften Schaden erleiden wird, ist nicht beachtlich wahrscheinlich.

Die Flucht des Klägers vor dem IS begründet die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines ernsthaften Schadens nicht, da nicht mehr von einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sinjar auszugehen ist.

Die schlechte humanitäre Lage im Irak rechtfertigt ebenfalls nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, da diese nicht einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG zuzuordnen ist (vgl. nur Nds. OVG, Urt. vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 68-71).

Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ist nicht gegeben.

Für die Annahme einer solchen Bedrohung genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt (BVerwG, Urt. vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24). Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen (BVerwG, Urt. vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, juris Rn. 34 zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, beispielsweise, weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Ausländer als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist (BVerwG, Urt. vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18; Nds. OVG, Urt. vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 80).

Fehlen individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Erforderlich ist insoweit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt (BVerwG, Urt. vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 21 m.w.N.). Für die individuelle Betroffenheit von der Gefahr bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, zu umfassen hat, sowie einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 21; Nds. OVG, Urt. vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 81).

Persönliche gefahrerhöhende Umstände, die zu einer erheblichen individuellen Gefährdung führen würden, sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Derartige Umstände ergeben sich auch nicht aus seiner yezidischen Religionszugehörigkeit. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht führt dazu in seinem Urteil vom 24.09.2019 (- 9 LB 136/19 -, juris Rn. 84) Folgendes aus:

"Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Yeziden derzeit bei einer Rückkehr in den Sindjar nach der Verdrängung des IS einer gegenüber anderen Bewohnern der Region erhöhten Gefahr ausgesetzt wären. Bei den derzeitigen Aktivitäten des IS stehen nicht die Yeziden im Mittelpunkt, vielmehr werden nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen angegriffen (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 1 des Ausdrucks). Auch in Bezug auf die weiteren Handlungsakteure in der Region, insbesondere der schiitischen Milizen, ist dies nicht ersichtlich. Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Yeziden im Sindjar in nennenswertem und im Verhältnis zu anderen Bewohnern des Distrikts überproportionalem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. dazu im Einzelnen BFA, Übergriffe schiitischer Milizen im Sindschar, 23.7.2018, m.w.N.). Vielmehr gewannen die schiitischen Milizen nach ihrem Vordringen in den Sindjar durch die Zusammenarbeit mit lokalen yezidischen Stammesführern an Akzeptanz. Sie tolerierten die örtlichen yezidischen Milizen und gingen im Sicherheitsbereich weitreichende Kooperationen ein, indem sie die yezidischen in die schiitischen Milizen integrierten bzw. Yeziden rekrutierten (vgl. International Crisis Group (ICG), Winning the Post-ISIS Battle for Iraq in Sinjar, 20.2.2018, S. 10-11)."

Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, wird im Distrikt Sinjar ebenfalls nicht erreicht. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht kommt in seinem Urteil vom 24.09.2019 (- 9 LB 136/19 -, juris Rn. 87-100) nach ausführlicher Auswertung der dort im Einzelnen genannten Erhebungen zur Bevölkerungszahl und der Anzahl ziviler Todesfälle zu dem Ergebnis, dass das Risiko, als Zivilperson im Distrikt Sinjar infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines etwaigen dortigen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts getötet oder verletzt zu werden, für das Jahr 2018 bei den unterschiedlichen Erhebungen jeweils unterhalb des vom Bundesverwaltungsgericht noch für weit von der Erheblichkeitsschwelle entfernt erachteten Risikos von 1:800 bzw. 0,125 % lag, und auch eine wertende Gesamtbetrachtung, insbesondere unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage im Sindjar, keine andere Bewertung zu rechtfertigen vermag.

Dass sich seit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts die Sicherheits- bzw. Versorgungslage im Sinjar maßgeblich verschlechtert hätte, ist nicht ersichtlich. Eine weitere Auswertung der Daten des Armed ,Conflict Location & Event Date Project zu den sicherheitsrelevanten Vorfällen in der Provinz Niniwe zeigt, dass von den insgesamt 354 Todesfällen in der Provinz im Zeitraum 01.01.2021 bis 16.10.2023 (nur) 71 Todesfälle auf Sindjar entfallen sind.

2. Ein Abschiebungsverbot ergibt sich nicht aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich - zielstaatsbezogene (vgl. BVerwG, Urt. vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 5) - Abschiebungshindernisse aus der EMRK ergeben. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Hierunter fallen grundsätzlich auch Gefahrenlagen aufgrund einer allgemeinen Situation der extremen Gewalt (a) oder aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse (b).

Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, Urt. vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 26; Nds. OVG, Urt. vom 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 53).

Hiervon ausgehend sind die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegend nicht gegeben.

Voraussichtliches Ziel einer Abschiebung des Klägers wäre Kurdistan-Irak und nicht sein Herkunftsort, da Abschiebungen in den Distrikt Sinjar derzeit nicht stattfinden. In die Region Kurdistan-Irak sind in der Vergangenheit über den internationalen Flughafen Erbil Rückführungen aus Deutschland allerdings erfolgt (vgl. zuletzt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 27). Auch derzeit gibt es Direktflüge von Deutschland nach Erbil mit Lufthansa, Eurowings, Condor, Iraqi Airways und FlyErbil, die wahrscheinlich auch für Rückführungen genutzt werden könnten (vgl. insoweit Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 28.10.2022, S. 24f.).

a) Obwohl die Sicherheitslage im Irak prekär ist, liegt in der Region Kurdistan-Irak keine allgemeine Situation einer solchen extremen allgemeinen Gewalt vor, die es rechtfertigt, Rückkehrern generell Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu gewähren (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 128-145). Die Einreise und der Aufenthalt dort ist Yeziden kurdischer Volkszugehörigkeit, die nicht aus Kurdistan stammen, möglich, was zusätzlich durch die Reise des Klägers nach Khanke belegt ist. Die allgemeine Sicherheitslage ist zwar angespannt. Es kommt immer wieder zu sicherheitsrelevanten Vorfällen, vor allem militärischen Zusammenstößen im Grenzgebiet zur Türkei, von denen auch Zivilpersonen betroffen sein können. Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen sind Ziele terroristischer Attacken. Außerdem gibt es Berichte darüber, dass militante iranisch-kurdische Gruppierungen aus der Region Kurdistan-Irak heraus Angriffe gegen den Iran durchführen und der Iran wiederum diese Gruppen in Kurdistan angreift (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Irak, 17.03.2020, S. 24 f.; EASO, Iraq - Security Situation, Country of Origin Information Report, Oktober 2020, S. 30; UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 26). Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist allgemein jedoch davon auszugehen, dass Minderheiten in der Region Kurdistan-Irak weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt sind; hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28.10.2022, S. 17f.). Die Anzahl an zivilen Opfern ist in Kurdistan-Irak generell - abgesehen von den unmittelbaren Grenzgebieten zur Türkei und zum Iran - vergleichsweise niedrig (vgl. zu den Zahlen im Einzelnen EASO, Iraq - Common analysis and guidance note, Januar 2021, S. 35, 137f., 141f., 151ff.). Sie liegen im Verhältnis zur Gesamtsituation im Irak auch deutlich zu niedrig, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu begründen (vgl. hierzu ebenfalls Nds. OVG, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 153).

b) Auch die humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak begründen nicht für jeden aus dem Ausland zurückkehrenden Yeziden einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Entscheidend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls. Den ausführlichen Darlegungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Nds. OVG, Urt. vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 146-247, und Beschl. vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 143-182) dazu schließt sich die Einzelrichterin an und verweist zur weiteren Begründung auf sie.

Wenngleich sich die humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak seit der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24.09.2019 - insbesondere im Zuge der Corona-Pandemie - verschlechtert haben, beanspruchen diese Grundsätze nach wie vor Geltung (vgl. Nds. OVG., Beschl. vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 157ff.). Zwar haben die zur Bekämpfung der Pandemie von der irakischen Regierung und der kurdischen Regionalregierung verhängten Beschränkungen erhebliche Auswirkungen auf die irakische Wirtschaft, die Versorgungssituation und den Arbeitsmarkt. Insbesondere im Bereich der Gelegenheitsarbeit ist ein starker Rückgang an Erwerbsmöglichkeiten zu verzeichnen. Auch hat sich infolge der Pandemie die durch den niedrigen Ölpreis bereits vorbelastete Gesamtwirtschaftslage des Irak noch weiter verschlechtert. Dass Rückkehrer vor diesem Hintergrund mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit grundsätzlich nicht in der Lage sind, im Irak ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen, lässt sich aus den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln jedoch nicht ableiten, zumal neben der etwa seitens der USA, des UNHCR und der Weltbank geleisteten erheblichen finanziellen und materiellen Unterstützung des Irak Projekte ins Leben gerufen worden sind, um Betroffenen Möglichkeiten zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu verschaffen (vgl. VG Hannover, Urt. vom 03.11.2021 - 12 A 4654/18 - nach Auswertung und unter Nennung zahlreicher Erkenntnismittel; vgl. auch Nds. OVG., Beschl. vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 157ff.).

Gemessen daran liegt ein außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe "zwingend" gegen eine Abschiebung sprechen, auch im Falle des Klägers nicht vor. Der Kläger ist gesund und in einem Alter, in dem er für seinen Lebensunterhalt arbeiten kann. Er hat dazu angeben, zu der Familie seines Onkels in Khanke Kontakt zu haben, so dass er in der Region Kurdistan-Irak familiären Anschluss finden würde. Nach seinem Vortrag hat er bei seinem Aufenthalt in Khanke nach der Beerdigung seines Onkels zudem für die Familie seines Onkels eine Wohnung gesucht, in der er bei einer Rückkehr möglicherweise zumindest vorübergehend Aufnahme finden könnte.

3. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.