Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.07.2019, Az.: 9 LB 133/19

Anspruch eines irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar in der irakischen Provinz Ninive

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.07.2019
Aktenzeichen
9 LB 133/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 30249
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
BVerwG - 04.11.2019 - AZ: BVerwG 1 B 78.19

Fundstellen

  • DÖV 2019, 926-927
  • ZAR 2019, 396

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar in der irakischen Provinz Ninive ist derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich.

  2. 2.

    Dies gilt selbst dann, wenn man annimmt, dass Yeziden angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS im Distrikt Sindjar im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung vor ihrer Ausreise von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen sind. Die dadurch begründete Verfolgungsvermutung wäre widerlegt, weil sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben und daher stichhaltige Gründe gegen eine erneute Gruppenverfolgung sprechen.

  3. 3.

    Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen aktuell ebenfalls nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer (Einzelrichterin) - vom 9. April 2018 geändert, mit dem die Beklagte in Bezug auf den Kläger verpflichtet worden ist, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er ist am 1. Januar 1990 in dem in der Provinz Ninive liegenden Distrikt Sindjar geboren, irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit und Angehöriger der Pir-Kaste. Am 25. Juli 2017 stellte er einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland.

Bei seiner persönlichen Anhörung am 16. August 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger zu seinem Verfolgungsschicksal im Wesentlichen folgendes an:

Er habe im Irak zusammen mit seiner Familie in der Stadt Sindjar im Stadtteil Azadi in der Gegend Haishoda gelebt. Dort habe er gesehen, wie der Islamische Staat (IS) seine Familie festgenommen habe und auch kurz davor gewesen sei, ihn zu inhaftieren. Am 3. August 2014 sei er vor dem IS in das Flüchtlingscamp Gadia nahe der Stadt Zakho in die Kurdistan-Irak zugehörige Provinz Dohuk geflohen. Die Situation im Flüchtlingscamp sei schlecht gewesen. Es hätten Temperaturen bis 52 Grad Celsius geherrscht und die Zelte seien einsturzgefährdet gewesen. Die wirtschaftliche Situation habe sich dort unterschiedlich dargestellt und sei immer dann gut gewesen, wenn er als Mobilfunkverkäufer Kunden gefunden habe. Er sei als Pir auch von anderen Yeziden aus der Kaste der Muriden unterstützt worden. Am 2. Juli 2017 sei er zusammen mit seiner Schwester aus seinem Heimatland aus- und am 16. Juli 2017 mit Hilfe von Schleppern auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, weil er im Irak aufgrund seines yezidischen Glaubens nicht in Sicherheit habe leben können. Nach Einbruch der Dunkelheit habe er das Haus nicht mehr verlassen. Die Situation in seinem Heimatland sei sehr schwierig gewesen, bis er nach Kurdistan-Irak habe gehen und dort arbeiten können. Aber auch in dem dortigen Flüchtlingscamp habe er Angst vor Angriffen durch den IS oder andere Muslime aufgrund seines yezidischen Glaubens gehabt. In seinem Heimatort seien die Sicherheitssituation sowie die Lebensbedingungen, auch nachdem der IS von dort vertrieben worden sei, sehr schlecht. So seien mit dem IS, der YPG, der PKK sowie weiteren arabischen Gruppierungen rivalisierende Kräfte in der Region aktiv. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass er vor der Eroberung seiner Heimatstadt Sindjar durch den IS gemeinsam mit arabischen Sunniten zusammengelebt habe, die später Anhänger des IS geworden seien. Darüber hinaus sei in seiner Heimatstadt kein sauberes Wasser und nur wenig Nahrung vorhanden. Seine Frau sowie seine beiden Kinder, die weiterhin im Flüchtlingscamp lebten, habe er aus finanziellen Gründen zurücklassen müssen. Auch seine Eltern hielten sich noch in dem Flüchtlingscamp auf, zudem lebten zwei Brüder sowie Angehörige seiner Großfamilie noch im Irak. In Deutschland hielten sich zwei Brüder sowie zwei Schwestern von ihm auf.

Mit Bescheid vom 24. August 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziffer 2).

Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorlägen. Der Kläger sei weder wegen seiner yezidischen Religionszugehörigkeit noch wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit oder seiner politischen Überzeugung staatlich verfolgt worden. Er habe keine staatliche Verfolgung vorgetragen und es bestünden auch sonst keine Anhaltspunkte für eine solche. Zudem fände auch keine landesweite Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere den IS, statt. Sindjar, die Heimatstadt des Klägers, sei vom IS befreit, so dass ihm hier keine Gruppenverfolgung als Yezide mehr drohe. Weiter sei zu beachten, dass der Kläger nicht vorgetragen habe, vor seiner Ausreise persönlich bedroht oder verfolgt worden zu sein. Eine nur vom Kläger empfundene Bedrohungssituation reiche für eine Flüchtlingszuerkennung nicht aus. Im Übrigen genüge der Vortrag des Klägers nicht für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil es an einer für die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung ausreichenden Intensität mangele. Damit fehle es an einer Vorverfolgung.

Den Bescheid stellte das Bundesamt laut Postzustellungsurkunde am 30. August 2017 unter der Adresse der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen, Standort Oerbke (Hartemer Weg 100 in 29683 Oerbke) durch Übergabe an den zum Empfang ermächtigten Vertreter D. zu, da der Adressat in der Gemeinschaftseinrichtung nicht erreicht worden sei. In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung wies das Bundesamt darauf hin, dass die Klage gegen den Bescheid bei dem Verwaltungsgericht Braunschweig erhoben werden müsse. In der Folgezeit veranlasste das Bundesamt eine erneute Zustellung des Bescheides, den der Kläger laut Empfangsbekenntnis vom 25. September 2017 in der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen, Standort Oerbke erhielt. Mit Wirkung zum 26. September 2017 wies die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen in ihrem Bescheid vom 4. September 2017 den Kläger der Region Hannover zu.

Der Kläger hat am 2. Oktober 2017 Klage beim Verwaltungsgericht Hannover erhoben und vorgetragen, die Klage fristgerecht erhoben zu haben. Mangels ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung gelte eine Jahresfrist, da nicht, wie in der Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft benannt, das Verwaltungsgericht Braunschweig, sondern im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides das Verwaltungsgericht Lüneburg örtlich zuständig gewesen sei. Die Klage sei auch begründet. Ihm drohe unabhängig von individuell geltend gemachten Verfolgungsgründen allein aufgrund seines yezidischen Glaubens bei seiner Rückkehr in den Irak eine Verfolgung durch den IS. Er sei als Yezide aus der später vom IS eingenommenen Stadt Sindjar als vorverfolgt ausgereist anzusehen. Das gezielte Vorgehen des IS gegen die Yeziden sei, wie es auch durch das Europäische Parlament, die Vereinten Nationen und zahlreiche weitere Staaten der Europäischen Union bestätigt worden sei, als Völkermord einzustufen. Die Verfolgung durch den IS knüpfe an die Religionszugehörigkeit an. So sei es dem IS bei der Eroberung von Gebieten vor allem um die Verbreitung seiner islamistischen Ideologie unter Verfolgung und Bekämpfung Andersgläubiger gegangen. Yeziden seien als "Ungläubige" und "Teufelsanbeter" getötet, misshandelt, versklavt und sexuell ausgebeutet worden. Der irakische Staat sei zum damaligen Zeitpunkt nicht willens oder in der Lage gewesen, vor den Übergriffen zu schützen. Dies begründe eine Verfolgungsvermutung für den Fall seiner Rückkehr in den Irak, die nicht widerlegt sei. So lägen keine stichhaltigen Gründe vor, die gegen eine erneute Verfolgung sprächen. Zwar sei der IS zurückgedrängt worden, in der Nähe seiner Heimatstadt, in den Städten Mossul und Tal Afar kämpften die irakischen Streitkräfte aber noch gegen den IS. Die Zurückdrängung des IS habe zu einer asymmetrischen Kriegsführung der Terrororganisation mit verstärkten terroristischen Aktivitäten geführt. Bei der Gefahrenprognose sei auch die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts, nämlich sein Leben, zu berücksichtigen. Interner Schutz stünde ihm nicht zur Verfügung. Insbesondere scheide das Flüchtlingslager in Kurdistan-Irak, wo er sich vor seiner Ausreise aufgehalten habe, als inländische Fluchtalternative aus, da er dort nicht hinreichend verwurzelt sei und die Aufnahmekapazität aufgrund der hohen Anzahl der dort schutzsuchenden Flüchtlinge erschöpft sei.

Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2) ihres Bescheids vom 24. August 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte hat ebenfalls schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 25. Oktober 2017 und vom 4. Dezember 2017 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht verzichtet.

Mit am 9. April 2018 ohne mündliche Verhandlung ergangenem Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe. Er sei vorverfolgt aus seinem Heimatland, der Republik Irak, ausgereist, seine Furcht vor Verfolgung sei weiterhin begründet und ihm stünde kein interner Schutz vor der drohenden Verfolgung zur Verfügung. Yeziden seien im August 2014 in der Provinz Ninive einer Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt gewesen, der nach Auffassung des United Nations Human Rights Councils (UNHRC) einen Völkermord an den Yeziden in Anknüpfung an deren Religionszugehörigkeit begangen habe. Von dieser Gruppenverfolgung sei der Kläger unmittelbar betroffen gewesen, da er Anfang August 2014 in der Provinz Ninive gelebt habe und yezidischen Glaubens sei. Die damit einhergehende Vermutung einer künftigen Verfolgungsgefahr sei nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt. Die Annahme des Bundesamtes, der IS kontrolliere die Region um Sindjar nicht mehr, genüge dafür nicht, da sich die Verhältnisse in der Provinz Ninive noch nicht ausreichend stabilisiert hätten. So würden in einem großen Wüstengebiet noch Kämpfer des IS vermutet. Zudem sei damit zu rechnen, dass die Organisation wieder verstärkt auf Terroranschläge und eine Guerilla-Taktik aus dem Untergrund setze. Eine inländische Fluchtalternative in anderen Landesteilen des Irak sei für Yeziden aus der Provinz Ninive nicht gegeben. So bestünde für diesen Personenkreis aufgrund strenger Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen nur eingeschränkter Zugang zu sicheren Gebieten in anderen Landesteilen. Zudem seien die Flüchtlingslager im Nordirak überfüllt und die humanitären Bedingungen sehr schlecht. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte, dass der Kläger über Familienangehörige in nicht umkämpften Teilen des Irak verfüge, die ihn aufnehmen könnten. So lebten seine Ehefrau und seiner Kinder noch immer im Flüchtlingslager Gadia.

Das Verwaltungsgericht Hannover hat das Urteil laut Empfangsbekenntnis am 16. April 2018 an die Beklagte zugestellt.

Am 7. Mai 2018 hat die Beklagte die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts beantragt.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat dem Kläger auf dessen Antrag mit Beschluss vom 12. Juli 2018 (- 11 LA 252/18 -) Prozesskostenhilfe für das Berufungszulassungsverfahren bewilligt.

Auf den Zulassungsantrag der Beklagten hat der Senat die Berufung gegen das angefochtene Urteil, mit dem das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet hat, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, mit Beschluss vom 4. Februar 2019 (- 9 LA 35/19 -) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, um die Frage zu klären, ob Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft im Irak in der Provinz Ninive aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind.

Auf den am 5. Februar 2019 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 7. Februar 2019 die Berufung begründet und hierzu auf die Begründung ihres Bescheides, ihres Zulassungsantrags und auf den Zulassungsbeschluss des Senats Bezug genommen. In der Zulassungsantragsschrift vom 7. Mai 2018 hat die Beklagte - auch unter Bezugnahme auf verschiedene erstinstanzliche Entscheidungen - vorgetragen, dass derzeit nicht mehr von einer Gruppenverfolgung von Yeziden aus Ninive durch den IS ausgegangen werden könne. Es bestünden stichhaltige Gründe, die dagegen sprächen, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr erneut einer Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt wäre. Zwar sei die Region, aus der der Kläger stamme, im Jahr 2014 durch den IS erobert worden, habe jedoch im Sommer 2017 wieder befreit werden können und stünde nun unter der Kontrolle der irakischen Regierungstruppen, so dass die Lage in der gesamten Provinz Ninive jetzt stabil sei. Mittlerweile gäbe es auch wieder Rückkehrbewegungen in den Distrikt Sindjar. In der Stadt Sindjar sei mit dem Wiederaufbau begonnen worden, an dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland finanziell beteilige. Es fehle daher derzeit an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Dass der IS wieder in Richtung Norden ziehe und damit erneute Übergriffe auf religiöse Minderheiten in der Region zu befürchten seien, erscheine angesichts der zwischenzeitlichen Erfolge der Allianz gegen den IS nahezu ausgeschlossen. Eine staatliche Verfolgung von Yeziden finde im Irak ebenfalls nicht statt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. April 2018 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht zunächst geltend, vorverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist zu sein. Der IS habe einen Völkermord an den Yeziden begangen, dem etwa 10.000 Personen zum Opfer gefallen seien. Stichhaltige Gründe für eine Widerlegung der daran anknüpfenden Verfolgungsvermutung lägen nicht vor. So habe der IS seine Herrschaft über weite Teile des Irak nicht endgültig verloren, vielmehr sei eine Rückkehr des IS angesichts der aktuellen Machtverhältnisse nicht ausgeschlossen. Der IS habe sich zu einem verdeckten Netzwerk entwickelt, das weiterhin lokale Anschläge verübe und plane. Gerade in der Provinz Ninive bestünde eine erhöhte Anschlagsgefahr. So seien am 19. Februar 2019 zwei Sicherheitskräfte in der Provinz Ninive getötet und bei einem Autobomben-Anschlag am 28. Februar 2019 in der Stadt Mossul zwei Menschen getötet und 24 weitere verletzt worden. Der IS führe Überfälle in Häusern von Regierungsanhängern und Beamten durch. Zudem stärke der Zufluss an Kämpfern aus Syrien, die sich nach der Verdrängung dorthin zurückgezogen hätten, den IS zunehmend. Derzeit seien mindestens 3.000 Kämpfer des IS im Irak aktiv. In der irakisch-syrischen Grenzregion in den Provinzen Ninive und Anbar bestünde ein erhöhtes Aufkommen an IS-Kämpfern und es komme immer wieder zu Kämpfen mit lokalen Sicherheitskräften. Das Auswärtige Amt warne weiter vor Reisen in den Irak. Zudem halte der Genozid noch an. So seien noch rund 3.000 Frauen und Kinder vermisst, viele Yezidinnen befänden sich noch in Gefangenschaft. Hinzu komme, dass der IS die Lebensgrundlage der Yeziden systematisch vernichtet habe. Der Sindjar sei bis heute durch verminte Gebiete, zerstörte ökologische Systeme und vergiftete Brunnen unbewohnbar. Ein Wiederaufbau der Region habe bislang nicht stattgefunden. Rückkehrern drohe Obdachlosigkeit; es bestünde keine medizinische sowie humanitäre Infrastruktur.

Bei seiner persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung des Senats vom 30. Juli 2019 führte der Kläger ergänzend aus, dass ihn ein arabischer Nachbar mit einem Maschinengewehr bedroht habe, um seinen Verbleib in der Stadt und seine Konversion zum Islam zu erzwingen, als er vor dem IS habe fliehen wollen. Dessen Mutter und Schwester seien dann aber schützend dazwischengegangen, wobei erstere ihn anschließend sogar bei der Flucht begleitet habe. Während er mit Familienmitgliedern in das Sindjar-Gebirge habe fliehen können, sei sein Onkel vor Erreichen des Gebirges durch Anhänger des IS festgenommen worden. In Kurdistan-Irak hätten sie zunächst für zehn Tage auf der Straße gelebt und eine provisorische Unterkunft errichtet, bevor sie für einen Monat in einer Schule und anschließend für sieben Monate in einem Haus in Dohuk untergebracht worden seien. In Dohuk habe er, wie auch sein Bruder, als Hausmeister gearbeitet. Sie hätten sich dann für die Aufnahme in einem Flüchtlingscamp registrieren lassen, woraufhin ihnen etwa zwei Wochen später eine Unterkunft in dem Flüchtlingslager mit dem Namen Gadia bei Zakho zugewiesen worden sei. Dort hätten sie in Containern gewohnt, die jeweils mit zwei Zimmern, einer Toilette mit Waschgelegenheit sowie einer kleinen Küche ausgestattet gewesen seien. In dem Flüchtlingscamp Gadia habe es ausschließlich Wohncontainer, keine Zelte gegeben. Nach ihrer Ankunft hätten sie Decken, Geschirr, Lebensmittel und Wasser erhalten. Zu Beginn sei die Unterstützung noch sehr groß gewesen, nach etwa drei Monaten habe es aber nur noch einmal im Monat ein Lebensmittelpaket und etwa zehn Monate vor seiner Ausreise aus dem Irak keine kostenlosen Lebensmittel mehr gegeben. Er habe aber selbst Lebensmittel kaufen können, da er gearbeitet habe; Obst und Gemüse seien im Irak zudem sehr günstig. Strom sei ihnen täglich für eineinhalb Stunden zur Verfügung gestellt worden. Innerhalb des Flüchtlingscamps und in Kurdistan-Irak habe er sich als (Binnen-)Flüchtling frei bewegen können. Daran habe sich für Flüchtlinge bis heute nichts geändert. In dem Flüchtlingscamp habe er ein Geschäft eröffnet, in dem er Handys repariert und Handyzubehör verkauft habe. Sein Bruder sei einer Arbeit in Zakho, etwa 20 Minuten Fahrtzeit mit dem PKW vom Flüchtlingscamp entfernt gelegen, nachgegangen und habe die Fahrtstrecke durch Inanspruchnahme einer Mitfahrgelegenheit bewältigt. Seine Frau sowie seine beiden Kinder seien zwischenzeitlich im Wege des Familiennachzuges mit einem von der Deutschen Botschaft in Ankara ausgestellten Visum auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hätten einen Asylantrag gestellt, über den bislang noch nicht entschieden worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern und die Klage, die zulässig, aber unbegründet ist, abzuweisen.

Der Kläger hat die Klage fristgerecht erhoben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bereits am 30. August 2017 eine wirksame Zustellung des angegriffenen Bescheides per Postzustellungsurkunde erfolgte oder von einer solchen erst durch die erneute Zustellung per Empfangsbekenntnis am 25. September 2017 auszugehen ist. Selbst bei Annahme einer wirksamen Zustellung am 30. August 2017 wäre die Klagefrist im Zeitpunkt der Klageerhebung am 2. Oktober 2017 noch nicht abgelaufen gewesen, da wegen einer unrichtig erteilten Rechtsbehelfsbelehrung gemäß § 58 Abs. 2 VwGO eine Einlegung des Rechtsbehelfs innerhalb eines Jahres seit der Zustellung zulässig war.

Nach § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Frist für einen Rechtsbehelf (hier: die zweiwöchige Klagefrist nach § 74 Abs. 1, 1. Halbsatz AsylG) nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs - von hier nicht erheblichen Ausnahmen abgesehen - innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig (§ 58 Abs. 2 VwGO).

Eine Rechtsbehelfsbelehrung, die über die Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage belehrt, ist nur dann "richtig" i. S. d. § 58 Abs. 1 VwGO, wenn das sachlich und örtlich zuständige Gericht benannt wird. Enthält sie die Angabe eines örtlich unzuständigen Gerichts, setzt sie die Klagefrist des § 74 Abs. 1, 1. Halbsatz AsylG nicht in Lauf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.5.2009 - 5 B 2.09 - juris Rn. 5).

Das hier in der Rechtsbehelfsbelehrung allein bezeichnete Verwaltungsgericht Braunschweig war örtlich nicht zuständig. Gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3, 1. Halbsatz VwGO ist in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat. Entscheidend ist der Zeitpunkt der Klageerhebung, da die örtliche Zuständigkeit durch eine nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderung der sie begründenden Umstände gemäß § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht berührt wird.

Im Zeitpunkt der Klageerhebung am 2. Oktober 2017 war der Kläger aufgrund des Zuweisungsbescheides der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (Standort Oerbke) vom 4. September 2017 gemäß § 50 Abs. 4 - 6 AsylG i. V. m. § 60 AsylG zur Wohnsitznahme in der zur Region Hannover gehörenden Stadt A-Stadt verpflichtet, die gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 3 Niedersächsisches Justizgesetz (NJG) zum Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts Hannover gehört.

Ob bei einem Zuständigkeitswechsel während der Rechtsbehelfsfrist, wie hier, über diesen belehrt werden muss (so VGH BW, Beschluss vom 1.6.1993 - A 12 S 874/93 - juris Rn. 7; VG Darmstadt, Beschluss vom 23.11.1999 - 5 G 2093/99.A (3) - juris), kann im vorliegenden Fall unentschieden bleiben, da das in der Rechtsbehelfsbelehrung genannte Verwaltungsgericht Braunschweig während der Rechtsbehelfsfrist zu keinem Zeitpunkt zuständig war. Vor Erlass des vorgenannten Zuweisungsbescheides war der Kläger zur Wohnsitznahme in der Landesaufnahmebehörde in dem zum Landkreis Heidekreis gehörenden Ort Oerbke verpflichtet, der gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 4 NJG zum Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts Lüneburg gehört.

Die Klage ist aber unbegründet, weil der Senat, anders als das Verwaltungsgericht, zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Kläger im für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) auf Grundlage der in diesem Zeitpunkt vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.4.2018 - 2 BvR 2435/17 - juris Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 - 10 C 13.12 - juris Rn. 9) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i. S. d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG; vgl. auch Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337/9), im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU, sowie EuGH, Urteil vom 25.1.2018 - C-473/16 - juris Rn. 31).

Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 34). Nach § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2) und unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3).

Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. innerstaatliche Fluchtalternative). Zu berücksichtigen sind insoweit die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG). Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen (§ 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 19). Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des zugrunde liegenden Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung von Verletzungen des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 32; dazu näher VGH BW, Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - juris Rn. 31 ff.).

Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37).

Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15.8.2017 - 1 B 123.17 u. a. - juris Rn. 8; vom 11.7.2017 - 1 B 116.17 u. a. - juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerfG, Beschluss vom 2.7.1980 - 1 BvR 147/80 - juris Rn. 52; dem folgend BVerwG, Urteil vom 31.3.1981 - 9 C 237.80 - juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 - 9 C 9.96 - juris Rn. 17) beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1997, a. a. O., Rn. 14). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.1982 - 9 C 308.81 - juris Rn. 9). Die Vorschrift privilegiert daher den Vorverfolgten bzw. Geschädigten: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten mithin nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind.

Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 23 zu Art. 4 Abs. 4 der Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304/12), im Folgenden: Richtlinie 2004/83/EG). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a.a.O., Rn. 23). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32.11 - juris Rn. 7).

Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Diese Überzeugungsbildung ist aufgrund der Tatsache, dass unabhängige und gesicherte Informationen vielfach fehlen und die verschiedenen Akteure, auf deren Informationen die Gerichte angewiesen sind, sehr unterschiedliche Interessen verfolgen, erheblich erschwert (vgl. NdsOVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rn. 37 ff.; VGH BW, Urteil vom 2.5.2017 - A 11 S 562/17 - juris Rn. 33 ff.). Deshalb bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen auch zur allgemeinen Lage im Irak. Besonderes Gewicht ist den Berichten des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 10 Abs. 3 Satz 2 b) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180/60); vgl. EuGH, Urteil vom 30.5.2013 - C-528/11 [Zuheyr Frayeh Halaf] - juris Rn. 44). Gewisse Prognoseunsicherheiten sind dabei als unvermeidlich hinzunehmen und stehen der Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen kann trotz alledem aber nicht verzichtet werden. Die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit kann nicht auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden.

Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt nicht schon dann in Betracht, wenn eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht, sondern in der Gesamtsicht der vorliegenden Erkenntnisse lediglich ausreichende Anhaltpunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie die andere Richtung vorliegen, also eine Situation besteht, die einem non-liquet vergleichbar ist (so aber OVG MV, Urteil vom 21.3.2018 - 2 L 238/13 - juris Rn. 41). Die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers. Kann nicht festgestellt werden, dass einem Ausländer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.8.2017, a. a. O., juris Rn. 8; OVG SH, Urteil vom 10.10.2018 - 2 LB 67/18 - juris Rn. 25; OVG NRW, Urteil vom 3.9.2018 - 14 A 837/18.A - juris Rn. 63 ff.).

Nach diesen Maßgaben besteht für den Kläger im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) bei einer - hypothetischen - Rückkehr in den Irak keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen. Der Kläger hat keine anlassgeprägte Einzelverfolgung geltend gemacht (dazu unter I.). Er kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Sindjar (dazu unter II.) oder eine individuelle Verfolgung wegen seiner yezidischen Gruppenzugehörigkeit (dazu unter III.) berufen.

I. Eine ausschließlich an individuelle, in der Person des Klägers liegende Umstände anknüpfende Verfolgungsgefahr (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung) lässt sich seinem Vortrag nicht entnehmen.

Die von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragene Bedrohung mit einem Maschinengewehr durch einen arabischen Nachbarn zur Erzwingung seines Verbleibs sowie seiner Konversion zum Islam während seiner Flucht vor dem IS am 3. August 2014 in seiner Heimatstadt Sindjar knüpfte unter Berücksichtigung seiner Angaben sowie angesichts der vorzunehmenden räumlich-zeitlichen Einordnung der Schilderung in das Gesamtgeschehen ausschließlich an dessen yezidische Religionszugehörigkeit an, hat ihn mithin als Angehörigen der Gruppe der Yeziden betroffen und war damit Teil einer mit dem Vormarsch des IS zum damaligen Zeitpunkt einhergehenden (unterstellten) Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar (dazu sogleich unter II.2.). Dass es sich um eine Verfolgung handelte, die an allein in der Person des Klägers liegende Umstände anknüpfte, lässt sich dem Vorbringen hingegen nicht entnehmen.

Hinzu kommt, dass die konkrete Bedrohungssituation mit dem Eingreifen weiterer Familienmitglieder des arabischen Nachbarn endete und die arabische Nachbarfamilie - insbesondere die Mutter des handelnden Nachbarn - dem Kläger in der Folgezeit nach dessen Angaben bei der Flucht sogar behilflich gewesen ist.

II. Allein die Zugehörigkeit des Klägers zu der Glaubensgemeinschaft der Yeziden lässt seine Verfolgung in Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei seiner Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen.

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13 ff.; Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 - juris Rn. 18).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 - juris Rn. 24).

Dabei ist es nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vorgenommen werden. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden. Diese Maßstäbe zur Feststellung einer Gruppenverfolgung gelten auch dann, wenn den Betroffenen schwere Gefahren, insbesondere Gefahren für Leib und Leben drohen. Das Ausmaß der drohenden Gefahr ist in die Bewertung einzubeziehen, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist. Diese Bewertung setzt als Grundlage jedoch Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppenverfolgung voraus, die alle Möglichkeiten der Tatsachenermittlung ausschöpfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 19).

Einen Verzicht auf eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung ausreichen kann, dass derartige Übergriffe "an der Tagesordnung" sind (etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136.96 - juris Rn. 2). Hierbei handelt es sich indes nicht um einen anderen rechtlichen Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte, sondern um eine erleichterte Tatsachenfeststellung im Einzelfall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.12.2002 - 1 B 42.02 - juris Rn. 5 und Beschluss vom 11.11.1999 - 9 B 563.99 - juris Rn. 3 f.).

Die vorgenannten Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 14; Urteil vom 18.7.2006, a. a. O., Rn. 21).

Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - juris Rn. 20).

An den in Bezug auf das Asylgrundrecht für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2011/95/EU hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 als auch der Richtlinie 2011/95/EU in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU und die flüchtlingserheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU definiert. Auch dem - allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen - Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (- C-465/07 [Elgafaji] - juris Rn. 43) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 16 zu der insoweit nahezu wortgleichen Richtlinie 2004/83/EG; offen gelassen im Beschluss vom 24.2.2015 - 1 B 31.14 - juris Rn. 5).

Der Senat ist unter Berücksichtigung dieses Maßstabes aufgrund der im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verfügbaren Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar der Provinz Ninive, der Herkunftsregion des Klägers, sowohl durch den irakischen Zentralstaat (dazu unter 1.) als auch durch den IS (dazu unter 2.) und sonstige Akteure (dazu unter 3.) nicht beachtlich wahrscheinlich ist.

1. Eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch den irakischen Zentralstaat wegen deren Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt (so bereits Urteil des Senats vom 19.3.2007 - 9 LB 373/06 - juris Rn. 36).

Der Begriff "Religion" i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

Wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung i. S. d. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU zu erfüllen, hängt von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten ab. Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere erreicht sein, wenn einem Antragsteller durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 28). Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der (positiven) Religionsfreiheit hat das Bundesverwaltungsgericht den Umstand angesehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.8.2015 - 1 B 40.15 - juris Rn. 11; Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 29). Dies setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste. Die konkrete Glaubenspraxis muss aber für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 30).

Anhaltspunkte für eine unzumutbare und die Annahme einer Verfolgung i. S. v. § 3a AsylG rechtfertigende Beeinträchtigung der Religionsausübung der Yeziden im Sindjar durch den irakischen Zentralstaat bestehen nach diesen Maßstäben nicht.

Die yezidische Religion ist eine monotheistische Religion, nach der Gott allmächtig ist und die Welt erschaffen hat. Ihm untergeordnet sind die sieben Engel und die yezidischen Heiligen. Seit dem 11. Jahrhundert gibt es innerhalb der Yeziden verschiedene Kasten, die nach dem Tod des yezidischen Reformators Sheik Adi eingeführt wurden und in die jeder Yezide hineingeboren wird. Es gibt die Laien ("Murid") und die Geistlichen, die sich wiederum in die Gruppe der "Sheikh" und der "Pir" unterteilen. Jeder Sheik- und Pir-Familie sind von Geburt an Muriden zugeordnet. Die Geistlichen haben die Funktion, die Laien zu betreuen und in der religiösen Lehre zu unterweisen. Man muss als Yezide geboren werden, eine Konversion zur yezidischen Religion ist nicht möglich. Zudem dürfen Yeziden nur innerhalb der Religionsgemeinschaft heiraten, andernfalls werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das Lalish-Tal mit mehreren Grabstätten und Heiligtümern ist der heiligste Ort für Yeziden. Dort befindet sich das wichtigste religiöse Zentrum der yezidischen Glaubensgemeinschaft. Jedes Jahr finden dort religiöse Feste und Zeremonien statt. Ziel eines jeden Yeziden sollte es sein, nach Lalish zu pilgern. Da Yeziden ihre religiösen Rituale nicht vor den Augen - aus ihrer Sicht - Ungläubiger praktizieren dürfen, wurden sie teilweise als Geheimorganisation bezeichnet. Für fundamentalistische und strenggläubige Muslime sind sie eine abtrünnige Sekte und werden als Ungläubige oder Teufelsanbeter angesehen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 17 - 19).

Die Verfassung des irakischen Zentralstaates erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Iraks fest und betont zugleich den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. die Abkehr vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze, fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Yeziden, Sabäer, Schabak und Fayli Kurden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.1.2019, S.11). Neben der verfassungsrechtlich garantierten Freiheit des religiösen Glaubens und der Religionsausübung für Yeziden ist der Staat darüber hinaus verpflichtet, die religiösen Stätten zu schützen (vgl. United States Department of State (USDOS), 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks).

Es ist zudem keine staatliche Behinderung der tatsächlichen Religionsausübung für Yeziden - die ausschließlich im Privatbereich erfolgt, da die religiösen Rituale der Yeziden nicht vor Personen, die nicht der Glaubensgemeinschaft angehören, praktiziert werden dürfen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 19) - ersichtlich. Zwar ist die irakische Gesellschaft nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräueltaten gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet seit dem Sturz Saddam Husseins jedoch nicht statt (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 74; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.1.2019, S.12; UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, 12.8.2016, S. 7). Vielmehr mischt sich der irakische Zentralstaat generell nicht in religiöse Angelegenheiten ein, sondern sorgt für den Schutz religiöser Stätten und Einrichtungen sowie die Sicherheit auf Pilgerwegen (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks). Einige Gemeindevorsteher der Yeziden bemängeln, dass bei der durch IS-Kämpfer erfolgten Vergewaltigung von Yezidinnen gezeugte Kinder als Muslime registriert worden seien (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks). Diese Vorgehensweise dürfte aber dem yezidischen Glauben entsprechen, nach dem nur Kinder, deren beide Elternteile Yeziden sind, auch selbst als Yeziden gelten. So hat die Führung der Religionsgemeinschaft kürzlich auch klargestellt, dass verschleppte Yezidinnen ihre in IS-Gefangenschaft geborenen Kinder zurücklassen müssen und diese nicht in die Religionsgemeinschaft aufgenommen werden (vgl. Spiegel Online, Irak, Jesiden verweigern Kindern von IS-Überlebenden die Aufnahme, 28.4.2019).

2. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar i. S. v. § 3 AsylG durch die Terrormiliz IS ist derzeit ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.

a) Dies gilt selbst dann, wenn man zu Gunsten des Klägers annimmt, dass er - angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS im Distrikt Sindjar im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung, deren Opfer er nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung selbst gewesen ist - bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak als Yezide aus dem Distrikt Sindjar von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen ist. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, wäre im Fall des Klägers widerlegt. Es sprechen nach der Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wird, da sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben.

aa) Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft im Distrikt Sindjar durch Mitglieder des IS wurde erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Mit der damaligen Entscheidung, die zu der Zeit dort als Sicherheitskräfte anwesenden Peschmerga zurückzuziehen, wurden die Yeziden dem IS schutzlos ausgeliefert. Die Terrororganisation stürmte am 3. August 2014 das zuvor von Kurden kontrollierte und von der yezidischen Minderheit bewohnte Gebiet im Distrikt Sindjar (vgl. International Crisis Group (ICG), Arming Iraq's Kurds: Fighting IS, Inviting Conflict, 12.5.2015, S. 2). Nicht allen Menschen gelang die Flucht in die kurdisch verwaltete Region im Nordirak. Insbesondere Menschen, die nicht über Autos verfügten, wurden von IS-Kämpfern festgehalten, umgebracht oder entführt (vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien (EZKS), Gutachten zum Erhebungsersuchen Nord-Irak vom 14.1.2015, S. 6). Vermutlich mehrere tausend Einwohner sind dabei getötet und vertrieben worden, einige konnten auf den Jabal Sindjar fliehen, andere wurden gefangen genommen (vgl. Médecins Sans Frontières (MSF), One year after fleeing violence, families in northern Iraq still live in uncertainty, 3.8.2015). In der Zeit, in der die Terrorgruppe die Herrschaftsgewalt über den Sindjar ausübte, kam es zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR, UNHCR position on returns to Iraq, 14.11.2016, S. 4; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 7.2.2017, S. 12). Nach Auffassung des UNHRC ("They Came to Destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1) hat der IS während seiner Herrschaftszeit im Sindjar an den Yeziden einen Völkermord begangen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt.

bb) Die Machtverhältnisse im Irak haben sich in der Zwischenzeit grundlegend geändert. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak nahezu vollständig verloren (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter https://isis.liveuamap.com/). Er hält dort kein Territorium mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 m. w. N.). Die Städte Sindjar und Ramadi wurden bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.2.2016, S. 7, 9) und standen zunächst unter Kontrolle der Kurden, dann im Nachgang zum kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September 2017 unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung bzw. der ihr unterstehenden Popular Mobilisation Units - PMU (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 18). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 von den irakischen Streitkräften eingenommen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 56) und die letzten irakischen Städte, die sich unter der Kontrolle des IS befunden haben - Al-Qaim, Ana und Rawa im Westen des Landes - im November 2017 zurückerobert (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 8). Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den IS (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.18, S. 18).

cc) Es ergeben sich derzeit keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, erneut den Distrikt Sindjar zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden flächendeckend zu verfolgen.

Die Schätzungen über die Anzahl der sich noch im Irak und in Syrien aufhaltenden Mitglieder des IS gehen weit auseinander; sie werden teilweise mit 20.000 bis 30.000 Personen angegeben (vgl. BFA, Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 und 5 m. w. N.), andere sprechen von 10.000 bis 25.000 Kämpfern (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Iraq, Security situation, März 2019, S. 28 m. w. N.). Bezüglich der Anzahl der Kämpfer im Irak reichen die Schätzungen von einer Stärke von 1.000 Personen über 3.000 Kämpfer bis hin zu einer Anzahl zwischen 15.500 und 17.100 verbliebenen Kämpfern (vgl. EASO, Iraq, Security situation, März 2019, S. 29 m. w. N.; United Nations Security Council (UNSC), Eight Report on the threat posed by ISIL, 1.2.2019, S. 4).

Seit dem militärischen Sieg über den IS wandelt sich die Organisation wieder zunehmend zu einer aus dem Untergrund operierenden Terrorgruppe, die sich auf Selbstmordanschläge und Guerilla-Taktik konzentriert (vgl. EASO, Iraq, Security situation, März 2019, S. 34; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.2.2018, S. 15). Nachdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.18, S. 18 - 19 m. w. N.): Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Anschließend versuchte der IS die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Der Fokus der Aktivitäten des IS lag in den Provinzen Diyala, Kirkuk und Salah al-Din. Gleichzeitig verstärkte er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (vgl. Joel Wing, Islamic State Rebuilding In Rural Areas Of Central Iraq, 3.7.2018, S. 5 des Ausdrucks).

Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (vgl. Joel Wing, Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018, S. 1 - 2 des Ausdrucks). Die Mitglieder des IS haben sich verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist zu früheren Taktiken zurückgekehrt: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (vgl. The Atlantic, ISIS Never Went Away in Iraq, 31.8.2018, S. 4 des Ausdrucks).

Im Oktober 2018 kam es zu Einsätzen der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninive, Diyala und Salah al-Din. Ziel war es, den IS daran zu hindern, sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (vgl. Congressional Research Service (CRS), Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.2018, S. 5). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (vgl. CRS, Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.2018, S. 5). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben sowie Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen ausgeübt, die sich weigern zu zahlen. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und in denen sich Kämpfer des IS tagsüber offen zeigen. Dies geschieht selbst bei ständigen Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind, da die Kämpfer ausweichen, wenn die Einsätze stattfinden, und zurückkehren, wenn sie wieder beendet sind. Der IS verfügt derzeit über eine nach außen hin expandierende Kontrolle in diesen Gebieten (vgl. Joel Wing, October 2018, Islamic State Expanding Operations In Iraq, 2.11.2018, S. 3 des Ausdrucks und Joel Wing, Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018, S. 2 des Ausdrucks). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (vgl. Niqash, New Terror Campaign: Extremists Intimidate, Harass, Dislocate Locals In Salahaddin, Then Take Over, 12.7.2018, S. 2 des Ausdrucks). Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt, die Bevölkerung eingeschüchtert wird und aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften kooperiert (vgl. Joel Wing, Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018, S. 2 - 3 des Ausdrucks).

In den Provinzen Ninive, Salah al-Din, Anbar, Kirkuk sowie Diyala muss weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und irakischen Sicherheitskräften gerechnet werden. Dabei ist der Zentralirak derzeit der wichtigste Stützpunkt für den IS. Die Gewalt dort nahm im Sommer 2018 zu, ist aber inzwischen wieder gesunken. In den Gebieten, in denen der IS aktiv ist, gibt es weiter regelmäßige Angriffe auf Städte; Zivilisten und Beamte werden entführt und es kommt regelmäßig zu Schießereien (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, S. 26 - 27 m. w. N.).

Damit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass von dem IS weiter eine ernstzunehmende Bedrohung ausgeht, insbesondere in Form von Anschlägen, Entführungen sowie Übergriffen auf Sicherheitskräfte. Ihm ist es nach dem vollständigen Verlust seines Territoriums gelungen, im Irak weiter über Unterstützungs- und Einflusszonen zu verfügen. Im Nordwesten des Irak hat er eine durch die südlich von Sindjar gelegene Jazeera Wüste verlaufende Nachschubroute zwischen Syrien, Anbar und Salah al-Din sowie einen Rückzugsort westlich von Mossul geschaffen (vgl. Karte des Institute for the Study of War, ISIS Re-Establishes Iraqi Sanctuary, 7.3.2019; BFA, Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 und 4 m. w. N.). Die Erkenntnisse über die gegenwärtige Stärke des IS rechtfertigen indes nicht die Annahme, dass er derzeit oder in absehbarer Zukunft in der Lage sein wird, erneut ein Gebiet im Irak zu besetzen. Ein Herrschaftsterritorium hat sich der IS in den letzten eineinhalb Jahren im Herkunftsland des Klägers nicht mehr aufbauen können. Bei Auswertung der Quellen fehlt es zudem an ausreichenden Anhaltspunkten, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Dabei hat der Senat auch in den Blick genommen, dass die aktuelle Situation nicht mit der zum Zeitpunkt der Eroberung des Distrikts Sindjar im Sommer 2014 vergleichbar ist. Damals kontrollierte der IS bereits seit dem Kalenderjahr 2013 zahlreiche Gebiete in Syrien und drang sodann im Juni 2014 von dort aus in den Irak ein, nahm, nachdem die irakische Armee ihre Stellungen dort kampflos aufgab, am 10. Juni 2014 Mossul und in der Folgezeit mit den dort erbeuteten schweren Waffen nach dem Rückzug der Peschmerga große Teile der Provinz Ninive, einschließlich den Distrikt Sindjar ein (vgl. EZKS, Gutachten zum Erhebungsersuchen Nord-Irak vom 14.1.2015, S. 2, 5). Aktuell dürfte der IS über einen vergleichbaren Rückhalt in Syrien nicht mehr verfügen. Nach aktuellen Meldungen (vgl. https://www.tagesschau.de, IS in Syrien für besiegt erklärt, 23.3.2019) ist mit Baghus seine letzte Bastion in Syrien im März 2019 gefallen. Darüber hinaus hat es nach dem Einmarsch des IS in die Provinz Ninive in der Region eine massive Aufrüstung und Ausbildung der verschiedenen Sicherheitsakteure durch internationale Unterstützung gegeben. Die USA führen Ausbildungsmaßnahmen für die irakischen Sicherheitskräfte durch und unterstützen den Aufbau der irakischen Armee (vgl. zu den einzelnen Programmen CRS, Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.2018, S. 2, 15, 18). Bereits Ende August 2014 hatte die Bundesregierung die Peschmerga-Kämpfer durch Lieferung militärischer Ausrüstung unterstützt (vgl. Auswärtiges Amt, Kampf gegen den IS: Bundeswehr verstärkt Peschmerga-Ausbildung, 28.1.2015, S. 3 des Ausdrucks) und sich in der Folgezeit auch an der Ausbildung der Sicherheitskräfte der Regionalregierung von Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte beteiligt (vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Einsatz Counter Daesh/Capacity Building Irak soll weitergehen, 2.10.2018; Spiegel Online, Kampf gegen den IS, Bundeswehr startet neue Irak-Mission, 29.8.2018; Auswärtiges Amt, Kampf gegen den IS: Bundeswehr verstärkt Peschmerga-Ausbildung, 28.1.2015, S. 1 - 3 des Ausdrucks). Damit dürfte sich auch das militärische Kräfteverhältnis erheblich zu Lasten des IS verschoben haben.

Aufgrund dieser veränderten Situation liegen stichhaltige Gründe i. S. v. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vor, die dagegen sprechen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht würde, da die der Annahme einer Vorverfolgung und damit des Eingreifens der Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugrunde liegende Tatsachengrundlage - die territoriale Herrschaft des IS über den Distrikt Sindjar, die erst eine flächendeckende Verfolgung der Yeziden in der Region in der Vergangenheit ermöglicht hatte - entfallen ist.

b) Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar, der Herkunftsregion des Klägers, da es dort an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. Die gebotene Relationsbetrachtung zwischen der Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerungsgruppe und der Anzahl sowie des Gewichts der Verfolgungsmaßnahmen i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG ergibt bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen. Selbst wenn man davon ausginge, die wegen einer (unterstellten) Gruppenverfolgung der Yeziden durch den IS vor der Ausreise des Klägers angenommene Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU griffe unabhängig vom Bestehen der territorialen Herrschaft des IS im Distrikt Sindjar ein, führte dies zu keinem anderen Ergebnis, da die tatsächliche Vermutung einer begründeten Verfolgungsfurcht aufgrund der nachfolgend dargelegten Umstände durch stichhaltige Gründe widerlegt wäre.

aa) Bei der Beurteilung, ob Yeziden einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sind, ist entsprechend der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zunächst die aktuelle Zahl der Gruppenzugehörigen, hier der im Distrikt Sindjar lebenden Yeziden, zu ermitteln.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in den letzten Jahren angesichts der mit der Eroberung des Sindjar durch den IS einhergehenden Fluchtbewegungen zu erheblichen Veränderungen der Bevölkerungszahl gekommen sein dürfte. Angaben zu der aktuellen Bevölkerungszahl der Yeziden im Sindjar sind nicht bekannt. Nach den aktuellsten Schätzungen von EASO (Country of Origin Information, Iraq, Security situation (supplement) - Iraq Body Count - civilian deaths 2012, 2017 - 2018, Februar 2019, S. 26) - das sich auf einen, unter anderem auf Auswertung von Kartenmaterialien beruhenden Datensatz von WorldPop (https://data.humdata.org/dataset/worldpop-by-cod-irq) mit Sitz an der Universität von Southhampton (EASO, Country of Origin Information, Iraq, Security situation (supplement) - Iraq Body Count - civilian deaths 2012, 2017 - 2018, Februar 2019, S. 11) bezieht - wird von einer Bevölkerungszahl für den Distrikt Sindjar von 84.074 Personen ausgegangen. Der Datensatz datiert jedoch von Januar 2015 und kann damit bereits nicht die Anzahl der Rückkehrer nach der Verdrängung des IS aus dem Sindjar umfassen.

Mangels aktueller Angaben zu der Anzahl der im Distrikt Sindjar lebenden Yeziden wird deren Bevölkerungszahl daher anhand derjenigen vor der Eroberung des Sindjar durch den IS (dazu unter (1)) abzüglich der Anzahl der infolge des Einmarsches aus dem Distrikt flüchtenden Yeziden sowie der von dort stammenden yezidischen Opfer des IS (dazu unter (2)) zuzüglich der zwischenzeitlich dorthin zurückgekehrten Yeziden (dazu unter (3)) ermittelt. Auf Grundlage dieser Berechnungsmethode geht der Senat bei seiner Relationsbetrachtung davon aus, dass derzeit etwa 138.500 Yeziden im Distrikt Sindjar leben.

(1) Hinsichtlich der Anzahl der im Irak lebenden Yeziden weichen die Angaben stark voneinander ab. Da seit Jahrzehnten keine offiziellen Volkszählungen durchgeführt werden (vgl. Konrad Adenauer Stiftung, Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven, 14.6.2017, S. 90) handelt es sich bei den Angaben nur um grobe Schätzungen, die je nach Quelle stark variieren und von 350.000 bis 750.000 reichen (vgl. auch die zusammenfassende Darstellung des BFA, Jesiden in Dahouk und Bagad - Lebensräume der Jesiden, 26.7.2018, S. 2 - 6 m. w. N.). So ist in einem Bericht des USDOS vom 10. August 2016 (2015 Report on International Religious Freedom - Iraq, S. 2 des Ausdrucks) die Rede von ungefähr 350.000 bis 400.000, in einem aktuelleren Bericht vom 29. Mai 2018 (2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, S. 2 des Ausdrucks) wird hingegen von 600.000 bis 750.000 Yeziden im Nordirak ausgegangen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019 (S.19) lag die Zahl der monotheistisch-synkretistischen Yeziden im Irak nach eigenen Angaben vor 2014 bei etwa 450.000 bis 500.000 Personen.

Die Hauptsiedlungsgebiete der Yeziden (Karte der Siedlungsorte mit yezidischer Bevölkerung unter https://bluebirdmaps.com/2017/07/18/yezidi-villages-in-kurdistan-iraq/ abrufbar) lagen bis zum Eroberungsfeldzug des IS im Sommer 2014 in den Dörfern und Kleinstädten der Distrikte Sindjar und Sheikhan in der Provinz Ninive (vgl. Konrad Adenauer Stiftung, Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven, 14.6.2017, S. 92) sowie in der Provinz Dohuk (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.1.2019, S. 19). Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages (Zur Situation religiöser Minderheiten in Irak und Syrien, 7.10.2015, S. 12) hat im Oktober 2015 die Zahl der Yeziden im Sindjar-Gebiet vor den Ereignissen im Sommer 2014 mit 300.000 angegeben, während in einem Bericht der Nichtregierungsorganisation Nadiàs Initiative (In the Aftermath of Genocide, 2018, S. 7) von etwa 400.000 und in einem der ICG (Iraq's new battlefront: The struggle over Ninewa, 28.9.2009, S. 30) von knapp 370.000 Personen ausgegangen wird. Das EZKS berichtete in einem älteren Gutachten vom 20.11.2011 (S. 2-3) über Schätzungen von Informanten vor Ort, die von 250.00 Yeziden im Sindjar ausgingen und kam bei einer Berechnung anhand einer Schätzung der Gesamtbevölkerung durch den Provinzrat Ninive im Sindjar und des geschätzten Bevölkerungsanteils der dortigen Yeziden auf 210.000 Personen im Distrikt Sindjar. In einem neueren Gutachten vom 16. September 2013 (S. 11 - 12) kommt das EZKS hingegen auf der Grundlage von Erkenntnissen zu der Anzahl ausgegebener Lebensmittelkarten auf 290.922 Yeziden im Sindjar, wobei die Bevölkerung allein in den letzten beiden Jahren vor dem Berichtszeitpunkt um 2,5 % gewachsen sei. Angesichts der unterschiedlichen Schätzungen erscheint - unter Berücksichtigung der Wachstumsrate sowie der Lebensbedingungen im Sindjar in den vergangenen Jahren - die Annahme eines Mittelwertes von 300.000 Yeziden im Sindjar vor dem Einmarsch des IS angemessen.

(2) Davon ist die Anzahl der yezidischen Personen, die seitdem aus dem Sindjar geflohen oder der Gewaltherrschaft des IS zum Opfer gefallen sind, in Abzug zu bringen.

Das Vorrücken des IS im Distrikt Sindjar löste eine massive Flüchtlingswelle aus; zehntausende Yeziden sind im Jahr 2014 auf der Flucht vor dem IS (zunächst) in die umliegenden Berge gegangen, viele sind in die Flüchtlingslager in Kurdistan-Irak geflohen (vgl. National Public Radio, Yazidis Remain In Fear On Iraq`s Mount Sinjar After Attempted Genocide, 29.3.2018, S. 2 des Ausdrucks). Das Auswärtige Amt geht in seinem Lagebericht vom 12.1.2019 (S. 19) von etwa 200.000 Flüchtlingen aus, der UNHCR (Informationen zur Situation vertriebener Jesiden in der Region Kurdistan Irak, Oktober 2018, S. 1) spricht von über 275.000 Personen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, die große Mehrheit davon Yeziden. In einem Bericht der Deutschen Welle (Die innere Hölle einer jesidischen Mutter, 22.6.2018, S. 4 des Ausdrucks) ist von mehr als 200.000 geflohenen irakischen Yeziden die Rede. Nach Einschätzung der International Organization for Migration (IOM) in ihrem Bericht aus Oktober 2018 (Iraq Displacement Crisis, 2014-2017, S. 16) habe es infolge der Sindjar-Krise Ende August 2014 insgesamt im Irak 365.000 yezidische Binnenflüchtlinge gegeben; im März 2015 sollen es 500.000 gewesen sein, die überwiegend aus dem Sindjar stammten (IOM Iraq, Understanding Ethno-Religious Groups In Iraq: Displacement And Return, Februar 2019, S. 7). Bei den Zahlen von IOM ist zu berücksichtigen, dass sie die Annahme einer hohen, vermutlich deutlich über der Schätzung des Senats liegenden Anzahl an im Nordirak lebenden Yeziden indizieren und keine genauere Zuordnung zu dem Distrikt Sindjar ermöglichen. In Anbetracht der unterschiedlichen Flüchtlingszahlen, die sich teilweise nicht auf den Anteil der Yeziden beziehen, teilweise keine genauere Zuordnung zu der Herkunftsregion des Klägers ermöglichen, erscheint die Annahme von 200.000 yezidischen Flüchtlinge aus dem Distrikt Sindjar angemessen. Daneben galten bis September 2018 etwa 3.000 bis 3.200 vom IS verschleppte Yeziden weiter als vermisst (vgl. USDOS, Country Report On Human Rights Practices 2018 - Iraq, 13.3.2019, S. 13 des Ausdrucks; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 77). Zudem sind nach vom UNHRC (Report of the Special Rapporteur on minority issues on her mission to Iraq, 9.1.2017, S. 12) wiedergegebenen Schätzungen aus August 2016 zwischen 2.000 und 5.500 Yeziden durch den IS seit dem 3. September 2014 getötet worden. Nimmt man hiervon einen Mittelwert von etwa 3.800 Todesopfer und geht von 3.200 weiter vermissten Personen aus, kommt man auf eine Zahl von 207.000 Yeziden, die von der ursprünglichen Bevölkerungsanzahl der Yeziden im Sindjar in Abzug zu bringen ist.

(3) Dem Differenzwert ist sodann die Anzahl der nach dem militärischen Sieg über den IS in den Sindjar zurückkehrenden Yeziden hinzuzufügen. Dabei ist den Quellen zu entnehmen, dass viele Yeziden auch nach der Zurückdrängung des IS weiter in den in Kurdistan-Irak liegenden Flüchtlingslagern sowie in den Bergen im Sindjar leben. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl yezidischer Flüchtlinge ist zudem bereits aus dem Irak ausgereist, viele haben Ausreisegedanken. So leben einem Beamten aus Dohuk zufolge noch 240.000 Yeziden in den Flüchtlingslagern in Dohuk (vgl. BFA, Jesiden in der Provinz Ninawa, 11.2.2019, S. 4 f. m. w. N.), etwa 90.000 Yeziden sollen das Land verlassen (vgl. Nadiàs Initiative, In the Aftermath of Genocide, 2018, S. 12) und ein großer Teil der in den Flüchtlingslagern lebenden Yeziden Auswanderungspläne haben (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, S. 65).

Daneben gibt es aber auch Rückkehrbewegungen in den Distrikt Sindjar. In einem Bericht des National Public Radio (Yazidis Remain In Fear On Iraq`s Mount Sinjar After Attempted Genocide, 29.3.2018, S. 6 des Ausdrucks) wird ein Einheimischer zitiert, nach dem bisher etwa 4.000 der 50.000 aus dem Distrikt Sindjar stammenden Familien in ihr Gebiet zurückgekehrt seien. IOM (Iraq Displacement Crisis 2014-2017, Oktober 2018, S. 34) geht davon aus, dass bis Ende 2017 insgesamt 48.816 Personen in den Distrikt Sindjar zurückgekehrt sind. Andere Quellen gehen von rund 52.000 (vgl. BFA, Jesiden in der Provinz Ninawa, 11.2.2019, S. 6, 9 m. w. N.) bzw. 60.000 bis 70.000 (vgl. Nadiàs Initiative, In the Aftermath of Genocide, 2018, S. 14) Rückkehrern aus. In einer Informationsgrafik der unter der Leitung des UNHCR stehenden Organisation Global Protection Cluster zu Rückkehrern in Ninive wird die Anzahl der in den Distrikt Sindjar bis März 2018 zurückgekehrten Familien mit 8.197 angegeben, wobei unter Berücksichtigung der zu Vormonaten veröffentlichten Informationsgrafiken - nach denen bis September 2017 6.850, bis Januar 2018 8.152 und bis Februar 2018 8.177 Familien zurückgekehrt sind - die Rückkehrbewegungen in diesem Zeitraum an Dynamik verloren haben.

Anhaltspunkte für einen signifikanten Anstieg der Zahl der Rückkehrer seit Veröffentlichung der vorgenannten Quellen bestehen nicht. Verschiedene Hilfsorganisationen berichten vielmehr über eine Änderung der Einstellung Binnenvertriebener. Ursprünglich erklärte eine Mehrheit, sie würden zurückkehren, sobald der Krieg gegen den IS vorbei sei. Jetzt sind sie aufgrund der Sicherheitslage, des Mangels an Dienstleistungen, zerstörter Häuser, von wenig Arbeitsplätzen und Geld besorgt. Es gibt auch eine beträchtliche Anzahl an Binnenvertriebenen, denen die Rückkehr verweigert wird, weil ihnen vorgeworfen wird, mit dem IS in Verbindung zu stehen. Darüber hinaus gibt es Menschen, die in ihre ursprünglichen Gebiete zurückgereist sind, die Situation dort jedoch als mangelhaft wahrgenommen haben und wieder in die Binnenvertreibung zurückgekehrt sind (vgl. Joel Wing, Number Of Displaced In Iraq Returning Home Declined Again, 19.9.2018, S. 1 des Ausdrucks). Nach einer Umfrage des UNHCR (COI Note on the Situation of Yazidi IDPs in the Kurdistan Region of Iraq, Mai 2019, S. 10 - 11) in den Flüchtlingscamps beabsichtigten im Februar 2019 nur 3 % der aus dem Distrikt Sindjar Vertriebenen, in den kommenden zwölf Monaten zurückzukehren.

Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Angaben zu der Anzahl der Rückkehrer sowie der voneinander abweichenden Aktualität der Quellen und der Entwicklung der Rückkehrbewegungen ist die Annahme eines Wertes von 55.000 Rückkehrern angemessen. Zu dem Anteil der Yeziden unter den Rückkehrern verhalten sich die vorgenannten Quellen, die sich ausschließlich auf die Gesamtzahl der Rückkehrer in den Distrikt Sindjar beziehen, nicht. Dem Senat erscheint es sachgerecht, sich bei dem Anteil der Yeziden an den Rückkehrern an deren Anteil an der Bevölkerung im Sindjar vor der Vertreibung durch den IS, wobei von 83 % ausgegangen wird (vgl. EZKS, Gutachten vom 16.9.2013, S. 12), zu orientieren, was etwa 45.500 Personen ergibt.

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Annahmen beträgt die geschätzte Anzahl der aktuell im Sindjar lebenden Yeziden 138.500 (300.000 Yeziden vor dem Einmarsch des IS abzüglich 207.000 Flüchtlinge bzw. Opfer des IS zuzüglich 45.500 Rückkehrer).

bb) Der Bevölkerungszahl sind die in Anknüpfung an ihre religiöse bzw. ethnische Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe gegen Yeziden gerichteten Verfolgungshandlungen im Sindjar gegenüberzustellen. Für die Relationsbetrachtung wird dabei auf den Zeitraum ab 2018 abgestellt, da sich die Ausgangslage für die Yeziden im Sindjar mit dem militärischen Sieg der Allianz gegen den IS im Irak Ende 2017 grundlegend geändert und sich die Organisation seitdem von einer territorialen Herrschaftsmacht zu einer aus dem Untergrund operierenden, sich auf Guerilla-Taktik konzentrierenden Gruppe entwickelt hat.

Zu den relevanten Verfolgungsmaßnahmen können anschlagsbedingte Tötungen und Verletzungen zählen, sofern sich eine Anknüpfung an die Religion bzw. Ethnie feststellen lässt (dazu unter (1)). Daneben sind aber auch Eingriffe in die tatsächliche Religionsausübung (dazu unter (2)) oder mit der religiösen Verfolgung einhergehende Vertreibungen (dazu unter (3)) zu berücksichtigen, wenn sie entweder für sich genommen eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in ihrer Kumulation gleichgewichtige Maßnahmen darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

(1) Aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass seit der Beendigung der territorialen Kontrolle des IS im Irak insgesamt eine kontinuierliche Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage eingetreten ist (vgl. CRS, Iraq: Issues in the 116th Congress, 26.3.19, S. 10 und Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.18, S. 1 - 2).

Der Irak Experte Joel Wing (Security In Iraq May 8-14, 2019, 17.(16.)5.2019) nimmt in seinen statistischen Erfassungen eine direkte Zuordnung der Todesopfer und Verletzten im Irak zu den Aktivitäten des IS vor, wobei es sich bei den genannten Zahlen nach eigenen Angaben nicht um Schätzungen handelt, die versuchen, das Gesamtausmaß zu erfassen, sondern um einzeln dokumentierte Fälle, die nicht als erschöpfend anzusehen sind (vgl. BFA, Anbar, Sicherheitslage, Erreichbarkeit, 16.4.2019, S. 9).

Nach seinen Auswertungen gab es aufgrund gewaltsamer Handlungen durch den IS im Jahr 2018 im gesamten Irak 3.480 Tote und 2.811 Verletzte. Im Jahr 2019 ist bei den Fallzahlen bisher eine rückläufige Tendenz zu erkennen. So sind bis zum 14. Mai 2019 insgesamt 681 Tote und 517 Verletzte erfasst worden. Eine Aufteilung auf die Provinzen lässt sich dem Bericht ausdrücklich nur für die letzten beiden Wochen entnehmen. Daneben sind die Art und der Umfang der Aktivitäten des IS im Zeitraum von 2018 bis zum Berichtszeitpunkt aufgegliedert nach Provinzen aufgeführt, wobei ein Schwerpunkt der Aktivitäten in der Provinz Diyala lag, gefolgt von den Provinzen Kirkuk und Ninive. Angaben zu dem Anteil der zivilen Opfer enthalten diese statistischen Erfassungen indes nicht. Vor dem Hintergrund, dass ein Schwerpunkt der Aktivitäten des IS in bewaffneten Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften liegt, die Hauptziele des IS die Sicherheitskräfte der irakischen Zentralregierung (Iraqi security forces - ISF) und die PMU-Milizen sowie teilweise Regierungsvertreter sind, dürfte für die Ermittlung der zivilen Opfer ein wesentlicher Abschlag von den erfassten Zahlen vorzunehmen sein, von denen wiederum diejenigen herausgerechnet werden müssten, die keinen zielgerichteten Übergriffen ausgesetzt waren, sondern Zufallsopfer der bewaffneten Auseinandersetzungen geworden sind. Ein weiterer Abschlag dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass die Behörden häufig den IS für Angriffe verantwortlich machen und in einigen Fällen der IS die Verantwortung für die Angriffe übernimmt, obwohl er nicht immer für die Gewalt verantwortlich ist (vgl. The Danish Immigration Service, Northern Iraq, Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5.11.2018, S. 21). Des Weiteren ist zu beachten, dass die Übergriffe des IS entweder vorsätzliche Terrorakte gegen Zivilisten oder die Zivilisten Zufallsopfer willkürlicher oder wenig beherrschbarer Gewaltakte des IS sein können. Hinzu kommt, dass es für die Kämpfer des IS auch nicht immer erkennbar ist, ob sie es mit einem Zivilisten oder einem Mitglied einer der vielzähligen Milizen zu tun haben (vgl. The Danish Immigration Service, Northern Iraq, Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5.11.2018, S. 21 - 22).

Einen ersten Überblick über die Anzahl der zivilen Opfer im Irak, jedoch ohne Angabe des auf den Aktivitäten des IS beruhenden Anteils, lässt sich den Zahlen des Iraq Body Count-Projektes, einer Datenbank, die von der in London ansässigen Firma Conflict Casualities Monitor betrieben wird (abrufbar unter https://www.iraqbodycount.org/), entnehmen, das seit 2003 die Gesamtanzahl der zivilen Todesfälle aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Irak dokumentiert, wobei seit Februar 2017 nur vorläufige Zahlen verfügbar sind. Die statistischen Erfassungen beruhen auf öffentlich zugänglichen Quellen, wie Pressemitteilungen, Informationen von Nichtregierungsorganisationen oder Primärquellen und verfolgen das Ziel einer erschöpfenden Darstellung aller Konfliktfälle mit Todesopfern (vgl. zur Methode im Einzelnen EASO, Country of Origin Information, Iraq, Security situation (supplement) - Iraq Body Count - civilian deaths 2012, 2017 - 2018, Februar 2019, S. 7 - 11).

Danach ist die Zahl der zivilen Todesopfer im Irak seit 2015 rückläufig und erreichte 2018 mit 3.319 zivilen Todesopfern im Irak einen absoluten Tiefstand seit Beginn der statistischen Erfassung. Auffällig ist dabei der deutliche Rückgang der Fallzahlen seit dem militärischen Sieg über den IS Ende 2017. So sind für das Jahr 2017 noch 13.183 Todesfälle erfasst worden; seit Januar 2018 bewegen sich die monatlichen Zahlen zwischen 474 registrierten Todesopfern im Januar 2018 und 123 erfassten Fällen im März 2019, wobei auch in diesem Gesamtzeitraum insgesamt eine abnehmende Tendenz der Fallzahlen festzustellen ist. Auf die Provinz Ninive entfielen im Kalenderjahr 2018 insgesamt 1.596, davon auf den Distrikt Sindjar 95 Todesopfer (vgl. EASO, Country of Origin Information, Iraq, Security situation (supplement) - Iraq Body Count - civilian deaths 2012, 2017 - 2018, Februar 2019, S. 26). Bei Einsicht in die für die letzten 19 Wochen einsehbaren weiteren Angaben zu den diesen Zahlen zugrunde liegenden einzelnen Vorfällen (Rubrik "Recent Events" unter dem Punkt "Database", abgerufen am 29.7.2019) fällt auf, dass kein Schwerpunkt im Distrikt Sindjar lag. Soweit Vorfälle aus dem Sindjar genannt sind, handelt es sich überwiegend um die Entdeckung von Massengräbern, die mutmaßlich auf die Zeit der Herrschaft des IS im Sindjar zurückzuführen sind und statistisch erst mit der Entdeckung erfasst werden können. Anhaltspunkte für aktuelle Tötungen von Yeziden durch Mitglieder des IS lässt sich den Angaben zu den Einzelvorfällen nicht entnehmen, wobei nur in seltenen Fällen die ethnische Zugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit der Opfer sowie die organisatorische Zugehörigkeit der Täter genannt wird.

In der statistischen Erfassung United Nations Casuality Figures for Iraq der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI), deren Zahlen nach eigenen Angaben als absolutes Minimum zu betrachten sind, da nur verifizierte Berichte in die Statistik aufgenommen werden, liegen die Fallzahlen deutlich niedriger und werden für das Jahr 2018 mit 935 zivilen Todesopfern und 1.654 verletzten Zivilisten infolge der bewaffneten Auseinandersetzungen sowie von Terroranschlägen und sonstiger Gewalt im gesamten Irak angegeben. Dabei ist ein Rückgang der Fallzahlen nach dem militärischen Sieg über den IS auch hier unverkennbar. So sind für das Jahr 2017 noch 3.298 zivile Todesopfer und 4.781 verletzte Zivilisten statistisch erfasst worden. Auch im Laufe des Jahres 2018 zeigt sich eine abnehmende Tendenz. Während im Januar 2018 noch 115 Todesopfer und 250 Verletzte erfasst wurden, haben die statistisch erfassten Zahlen im Dezember 2018 mit 32 Todesopfern und 32 Verletzten einen absoluten Tiefstand seit Beginn der statistischen Erfassung im November 2012 erreicht. Eine weitere Aufgliederung auf die einzelnen Provinzen erfolgt in den Berichten lediglich für die drei im jeweiligen Monat am stärksten betroffenen. Dabei sind die Provinzen Bagdad und Anbar am häufigsten vertreten. Den Berichten lässt sich für die Provinz Ninive für das Jahr 2018 entnehmen, dass für Januar 13 Todesopfer und 7 Verletzte, für Juli 13 Todesopfer und 5 Verletzte, für August 29 Todesopfer und 10 Verletzte, für Oktober 29 Tote und 36 Verletzte, für November 8 Tote und 19 Verletzte und für Dezember 7 Tote und 19 Verletzte erfasst wurden. Da die Provinz Ninive in den übrigen Monaten nicht aufgeführt ist, kann bei Betrachtung der Fallzahlen der genannten Provinzen für Ninive für Februar von höchstens 12 Toten und 11 Verletzten, für März von höchstens 11 Toten und 22 Verletzten, für April von höchstens 10 Toten und 21 Verletzten, für Mai von höchstens 20 Toten und 16 Verletzten, für Juni von höchstens 19 Toten und 18 Verletzten und für September von höchstens 9 Toten und 38 Verletzten ausgegangen werden. Folglich lag die erfasste Zahl der zivilen Todesopfer in der Provinz Ninive für das Jahr 2018 bei maximal 180 und die der verletzten Zivilisten bei höchstens 222.

Damit beziehen sich sowohl die Zahlen des Iraq Body Count-Projektes (3.319 zivile Todesopfer im Jahr 2018 im Irak, davon 1.596 in der Provinz Ninive und davon wiederum 95 im Distrikt Sindjar) als auch der UNAMI (935 zivile Todesopfer und 1.654 verletzte Zivilisten im Irak im Jahr 2018, davon maximal 180 zivile Todesopfer und 222 verletzte Zivilisten in der Provinz Ninive) zwar allein auf zivile Opfer, erfassen aber weder den Anteil, der auf Aktivitäten des IS zurückzuführen ist, noch denjenigen, der auf Zivilisten als Zufallsopfer der kriegerischen Auseinandersetzungen entfällt. Beides ist indes für die Bewertung der Verfolgungsdichte bei der Prüfung einer Gruppenverfolgung durch den IS in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund i. S. v. § 3b AsylG entscheidend, so dass es auch hier eines erheblichen Abschlages von den erfassten Fallzahlen (zuzüglich einer angemessenen Dunkelziffer nicht erfasster Todesfälle) bedürfte.

Das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) geht auf Grundlage der Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), die angeben, konservative Schätzungen zu verwenden, in seinen Kurzübersichten zu den ersten drei Quartalen 2018 vom 20. Dezember 2018 davon aus, dass in diesem Zeitraum bei "Gewalt gegen Zivilpersonen" im gesamten Irak 348 Menschen gestorben sind. Die statistische Erfassung in der Kategorie "Gewalt gegen Zivilpersonen", in der nur vorsätzliche Gewalttaten, auch z. B. Bombenangriffe, Schießereien und Folter gegen Zivilpersonen, erfasst werden (vgl. ACLED, Codebook 2017, S. 13), dürfte für die Frage der gezielten Übergriffe auf Yeziden im Irak etwas aussagekräftiger sein als die allgemeine Erfassung aller zivilen Opfern durch das Iraq Body Count-Projekt sowie die UNAMI, da sie die für die Bewertung der Verfolgungsdichte nicht relevante Anzahl ziviler (Zufalls-)Opfer infolge der bewaffneten Auseinandersetzungen im Irak ausblendet. Den Kurzberichten von ACCORD lassen sich ebenfalls rückläufige Fallzahlen entnehmen. Angesichts der noch für das Jahr 2017 statistisch erfassten Anzahl der Todesopfer bei Gewalt gegen Zivilpersonen in Höhe von 3.228 wird auch hier der deutliche Rückgang nach dem militärischen Sieg über den IS deutlich. Im Jahr 2018 sind die Fallzahlen nochmals kontinuierlich von 174 Todesfällen im ersten Quartal über 105 Todesfälle im zweiten Quartal auf 69 Todesfälle im dritten Quartal zurückgegangen. Bei der Aufteilung auf die einzelnen Provinzen, bei der nicht mehr nach der Art des Vorfalls differenziert wird, sind in den ersten drei Quartalen 2018 insgesamt 737 Todesfälle in der Provinz Ninive erfasst worden, was bei einer Zahl von 4.803 für den gesamten Irak einem Anteil von etwa 15 % entspricht. Geht man angesichts fehlender alternativer Anhaltspunkte davon aus, dass der Anteil in der Kategorie "Gewalt gegen Zivilpersonen" identisch ist, käme man für die Provinz Ninive in dieser Kategorie auf etwa 52 Todesopfer in den ersten drei Quartalen 2018. Bei Annahme eines aus den drei Quartalen gebildeten Durchschnittswerts für das vierte Quartal 2018 ergäben sich etwa 69 Todesopfer in der Provinz Ninive in der Kategorie "Gewalt gegen Zivilpersonen" im Jahr 2018. Bei der Aufteilung der Vorfälle auf die zehn Distrikte der Provinz Ninive ist zu berücksichtigen, dass ein Schwerpunkt der Vorfälle in der Region Mossul zu liegen scheint, die bei der Nennung der Tatorte in den Quartalsberichten auffällig häufig vertreten ist. Von den gezielten Übergriffen gegen Zivilpersonen sind in die Relationsbetrachtung wiederum nur diejenigen einzustellen, die sich gegen Yeziden richteten und darüber hinaus in Anknüpfung an deren Glaubenszugehörigkeit erfolgten. Dazu enthalten die statistischen Erfassungen aber keine ausreichenden Anhaltspunkte.

Die letzte bekannte Erfassung von aus dem Sindjar stammenden Yeziden, die Opfer eines Tötungsdeliktes geworden sind, datiert aus einem Gutachten des EZKS vom 16.9.2013 (S. 2 - 6), nach dem für den Zeitraum von Juli 2011 bis Juli 2013 von 28 Fällen ausgegangen wird, wobei sich nur drei im Sindjar, die meisten hingegen in Mossul ereignet haben sollen. Auch den vorliegenden Berichten über vom IS einzeln verübter Anschläge (vgl. z. B. Darstellung USDOS, Country Report On Human Rights Practices 2018 - Iraq, 13.3.2019, S. 12 - 14 des Ausdrucks) lässt sich nicht entnehmen, ob die Opfer yezidische Glaubensangehörige waren. Mangels aktuellerer Zahlen erscheint daher eine Ermittlung des Anteils der Yeziden an den zivilen Opfern entsprechend deren Bevölkerungszahl sachgerecht.

Soweit es sich bei den Opfern um Yeziden handelt, wäre bei der gebotenen Prüfung, ob die gegen sie gerichteten Verfolgungshandlungen auf deren Glaubenszugehörigkeit zurückzuführen und daher für die Festlegung der Verfolgungsdichte relevant sind, zu berücksichtigten, dass sich - auch wegen des Fehlens einer funktionstüchtigen Polizei und Justiz - häufig nicht abschließend ermitteln lässt, inwieweit die Taten politisch-religiös motiviert oder aber nur Ausdruck der allgemein instabilen Sicherheitslage sind und daher jeden Iraker hätten treffen können. Dies gilt gerade für terroristische Anschläge, die nicht stets als gezielte Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer aufgefasst werden können (vgl. EZKS, Jeziden im Irak, 17.2.2010, S. 5 - 6). Oftmals stellen diese Anschläge eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung dar, welche nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind. Auch nach dem Gutachten des EZKS vom 16. September 2013 (S. 5) lägen für die im Zeitraum von Juli 2011 bis Juli 2013 erfassten 28 getöteten Yeziden aus dem Sindjar lediglich in sechs Fällen Hinweise vor, dass die getöteten Personen wegen ihrer yezidischen Glaubenszugehörigkeit angegriffen worden seien. In allen anderen Fällen sei hingegen kein ursächlicher Zusammenhang nachweisbar. Dieser Umstand gewinnt vor dem Hintergrund an Gewicht, dass sich der IS wieder zunehmend zu einer aus dem Untergrund operierenden Gruppe gewandelt hat, die vermehrt auf Terroranschläge setzt. Dabei scheinen nicht die Yeziden im Mittelpunkt zu stehen, vielmehr werden nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen angegriffen (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 1 des Ausdrucks).

(2) Anhaltspunkte für sonstige aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsausübung der Yeziden im Sindjar durch den IS sind nicht ersichtlich. Nach dem Einfall des IS im Sindjar im August 2014 erfolgten massive Eingriffe in die Religionsfreiheit Andersgläubiger; Konversionen zum Islam wurden systematisch erzwungen, Verweigerer exekutiert (vgl. UNHRC, "They came to destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 8 - 9). Diese auf der Ausübung der territorialen Gewalt im Sindjar beruhende Möglichkeit des flächendeckenden Eingriffs in die Religionsfreiheit der Yeziden ist mit dem militärischen Sieg über den IS entfallen. Den bekannten aktuellen Erkenntnismitteln lassen sich keine zielgerichteten Eingriffe des IS in die Religionsfreiheit der Yeziden im Sindjar mehr entnehmen.

(3) Nach der Verdrängung des IS aus dem Sindjar im Jahr 2015 sind diesem auch keine Vertreibungen in der Region in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit mehr zuzurechnen. Mit dem Einmarsch des IS im Sindjar im August 2014 ging eine massenhafte Vertreibung von Yeziden einher (vgl. UNHRC, "They came to destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 33). Auch heute, nach dem Ende der IS-Herrschaft im Sindjar, leben noch viele Yeziden aus dem Distrikt in Flüchtlingslagern (vgl. The New Humanitarian (TNH), The Yazidis who never came down the mountain, 23.4.2018). Dies vermag indes keine aktuelle Vertreibung von Yeziden wegen deren Glaubenszugehörigkeit durch den IS zu begründen. Die Gründe der fehlenden Rückkehr sind unterschiedlicher Natur und dürften oftmals einer Gemengelage aus angespannter Sicherheitslage, Vertrauensverlust in die dort lebende arabische Bevölkerung und schlechten humanitären Bedingungen geschuldet sein (vgl. BFA, Jesiden in der Provinz Ninawa, 11.2.2019, S. 6 - 9). Eine erneute Vertreibung durch den IS im Falle der Rückkehr ist angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse im Irak derzeit hingegen nicht beachtlich wahrscheinlich. Allein der Umstand, dass die Rückkehr durch Handlungen des IS (Verminen des Geländes, Errichtung von Sprengfallen in Gebäuden, Zerstörung von Häusern sowie der Landwirtschaft), die während seiner damaligen Gebietsherrschaft in dem Distrikt erfolgten, erschwert wird, vermag keine aktuelle Vertreibung zu begründen.

cc) Bei Zugrundelegung der ermittelten Bevölkerungszahl der Yeziden im Sindjar sowie der Erkenntnisse über Verfolgungshandlungen gegen Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft in dem Distrikt rechtfertigt eine aus einer quantitativen Ermittlung der Verfolgungswahrscheinlichkeit (dazu unter (1)) sowie einer wertenden Betrachtung dieser Ergebnisse (dazu unter (2)) bestehende Gesamtschau derzeit nicht die Annahme, jeder Yezide im Sindjar werde durch den IS mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgt.

(1) Eine quantitative Betrachtung erbringt keine beachtliche aktuelle Verfolgungswahrscheinlichkeit für alle Yeziden aus dem Sindjar. Dies gilt selbst dann, wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausginge, dass ein Drittel der auf Grundlage der Statistiken von ACCORD hochgerechneten Fallzahlen für die Provinz Ninive von 69 für das Jahr 2018 und damit 23 Fälle auf den Sindjar, als einem von zehn Distrikten in der Provinz Ninive, entfiele, davon sämtliche Opfer Yeziden wären und alle diese Übergriffe durch den IS sowie wegen der yezidischen Glaubenszugehörigkeit erfolgten, und man darüber hinaus zugunsten des Klägers noch annähme, dass auf einen Todesfall ein Verletzter käme (46 Fälle) sowie eine Dunkelziffer von 1:2 in die Berechnung aufgenommen wird (92 Fälle). Bei der sich daraus ergebenden Referenzzahl von 92 Fällen für das Jahr 2018, die nach Auffassung des Senats schon sehr hoch gegriffen scheint, ergibt sich bei einer angenommenen Bevölkerungszahl von 138.500 Yeziden eine Wahrscheinlichkeit, als Yezide im Sindjar im Jahr 2018 getötet oder verletzt zu werden, von etwa 1:1505 (0,066 %). Auch wenn man - aufgrund der nach eigenen Angaben konservativen Schätzungen von ACCORD sowie in der Annahme einer der aktuellen Lage im Sindjar geschuldeten geringen Erfassungsquote - von einer hohen Dunkelziffer von 1:3 ausginge, ergäbe sich bei dann 138 Referenzfällen eine Verfolgungswahrscheinlichkeit von etwa 1:1003 (0,100 %). Wenn man darüber hinaus noch zu Gunsten des Klägers die niedrigeren Schätzungen von EASO bzgl. der Bevölkerungszahl im Sindjar nähme und von 115.431 Yeziden ausginge (84.074 Bewohner im Januar 2015 (alle) zuzüglich 55.000 Rückkehrer; Anteil der Yeziden an der Bevölkerung 83 %) läge die Wahrscheinlichkeit bei 1:836 (0,120 %). Dabei ist noch nicht die sich aus allen Erkenntnismitteln ergebende kontinuierliche Abnahme der Referenzfälle in den letzten Monaten einberechnet und die allgemein positive Entwicklung der Sicherheitslage. Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 22, 23) hat selbst bei einer Gefahrendichte von 1:800 im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs auf subsidiären Schutz, bei dem es den gleichen Prognosemaßstab wie beim Flüchtlingsschutz ansetzt, festgestellt, dass das Risiko so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass sich der Mangel einer fehlenden wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auszuwirken vermag.

(2) Auch bei einer gleichwohl erfolgenden wertenden Betrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung, zu der jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann, gehört (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 11.10 - juris Rn. 21), erscheint eine Verfolgung aller Yeziden im Distrikt Sindjar nicht als beachtlich wahrscheinlich.

Die Gesundheitsversorgung im Sindjar ist zwar nur auf einem geringen Niveau gewährleistet, verbessert sich seit der Verdrängung des IS aber zunehmend. Nach einem Bericht von TNH vom 16. März 2018 (Iraq's Yazidis return to a healthcare crisis, S. 3 - 6 des Ausdrucks) besteht gerade angesichts der schlechten Lebensbedingungen im Sindjar ein dringender Bedarf an medizinischer Versorgung. Die meisten Rückkehrer leben in informellen Lagern, beschädigten Gebäuden oder ländlichen Gebieten, weit weg von Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Das General Hospital in der Stadt Sindjar ist zwar in Betrieb, konnte aber viele Behandlungen nicht durchführen, so dass viele Patienten in besser ausgestattete Krankenhäuser in Dohuk oder das 130 km entfernte Mossul überwiesen werden mussten. Viele konnten sich die Reise jedoch nicht leisten oder hatten Angst, als Yezide in die ehemalige IS-Hochburg zu fahren. Zum Berichtszeitpunkt waren die von der Provinz Ninive versprochenen zwei Krankenwagen noch nicht geliefert. Entsprechende Krankentransporte wurden mit Unterstützung der Sicherheitskräfte vor Ort durchgeführt. Das Personal des Krankenhauses der Stadt Sindjar gab an, dass in den letzten 6 Monaten vor dem Berichtszeitpunkt mindestens 11 Leute wegen des Mangels an Medikamenten, Krankenwagen sowie medizinischer Ausrüstung gestorben seien. Weitere medizinische Hilfe erhalten die Menschen im Sindjar von vor Ort tätigen Hilfsorganisationen. Der stellvertretende Leiter des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), dem Koordinierungsorgan der Vereinten Nationen für Soforthilfe, im Irak gab an, dass die Vereinten Nationen 19 humanitäre Partner haben, die derzeit Hilfe im Sindjar leisten (einschließlich einiger im Gesundheitsbereich), von denen sieben internationale Nichtregierungsorganisationen sind. Das UN-Entwicklungsprogramm hat 38 Projekte in Sindjar, davon vier im Gesundheitsbereich, sagte ein Sprecher, der hinzufügte, dass die Rehabilitation von zwei primären Gesundheitseinrichtungen in der Region Sindjar abgeschlossen ist, während andere Projekte "in Umsetzung" sind (vgl. TNH, Iraq's Yazidis return to a healthcare crisis, 16.3.2018, S. 7 - 8 des Ausdrucks). MedAir betreibt an einem Morgen pro Woche eine mobile Klinik, um eine grundlegende Grundversorgung anzubieten, die niederländische Nichtregierungsorganisation, Road to Peace hat eine Pädiatrie eingerichtet (vgl. TNH, Iraq's Yazidis return to a healthcare crisis, 16.3.2018, S. 8 des Ausdrucks). Im September 2018 berichtete MSF (Sinjar, Irak: Wiedereröffnung des Allgemeinspitals in Sinuni, 14.11.2018) von der Wiedereröffnung des Allgemeinspitals in Sinuni. Danach hat die Hilfsorganisation die Notaufnahme saniert und leitet diese. Daneben betreibt sie die einzige Geburtsklinik mit Operationssaal in der Region sowie einen Rettungsdienst für Überweisungen in andere Einrichtungen. Zum Berichtszeitpunkt war zudem geplant, bis Ende 2018 in Sinuni medizinische Behandlungen psychischer Beeinträchtigungen anzubieten.

Erschwerend hat der Senat berücksichtigt, dass es im Rahmen des Konfliktes - auch in der Region Sindjar - weitreichende Zerstörungen der ländlichen Gebiete gegeben hat. Einige der von Amnesty International (Dead land, Islamic State's deliberate destruction of Iraq's farmland, S. 5) beobachteten Zerstörungen scheinen Kollateralschäden aus den Kämpfen gewesen zu sein, in vielen Fällen geht die Menschenrechtsorganisation davon aus, dass der IS bewusst auf die ländliche Umwelt abzielte, die den Lebensunterhalt der Menschen, die vom Land leben, sichert. Einige der deutlichsten Beispiele dafür seien die Bewässerungsbrunnen. Diese Brunnen wurden nach dem Bericht oft durch Schutt, Öl oder andere Fremdkörper sabotiert. Das Blockieren der Brunnen ging oft mit dem Diebstahl und/oder der Zerstörung der Pumpe, der Kabel, der Generatoren und Transformatoren einher. Der IS verbrannte auch Obstgärten oder holzte sie ab und riss wichtige Stromleitungen ab oder stahl sie. Dieses Vorgehen stellt zwar keine Fortwirkung zielgerichteter Verfolgungshandlungen gegenüber Yeziden dar, sondern dürfte als typische Kriegshandlung einzustufen sein, erschwert den Rückkehrern den Wiederaufbau ihrer Lebensgrundlage aber erheblich. Hinzu kommt, dass die Sicherheitslage angesichts der unterschiedlichen Sicherheitsakteure weiter angespannt ist, ein schwieriges Verhältnis der Yeziden zu ihren sunnitischen Nachbarn, denen sie nahezu kollektiv vorwerfen, dem IS keinen Widerstand geleistet oder mit ihm kollaboriert zu haben, besteht, wesentliche öffentliche Dienstleistungen, wie Wasser, Strom und Gesundheitsversorgung unzureichend und uneinheitlich sind, und das Gebiet nach wie vor stark mit verbliebenem explosivem Kriegsmaterial und unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen (IEDs) kontaminiert ist (vgl. BFA, Jesiden in der Provinz Ninawa, 11.2.2019, S. 2 - 15 m. w. N.).

Dabei darf aber nicht unbeachtet bleiben, dass unterschiedliche Aufbauprojekte initiiert worden sind. So erfolgt eine Stabilisierungshilfe für die vom IS befreiten Gebiete über das von dem United Nation Development Program (UNDP) verwaltete Facility for Stabilization (FFS), das seit seiner Gründung Mitte 2015 etwa 830 Millionen Dollar erhalten hat, wobei 1.388 Projekte abgeschlossen werden konnten und weitere 978 Projekte laufen oder geplant sind. Im Januar 2019 wurden 426 Millionen Dollar für Stabilisierungsprogramme in fünf Regionen in den Provinzen Ninive, Anbar und Salah al-Din vorgesehen. Auf einer Wiederaufbaukonferenz in Kuweit im Februar 2018 boten die teilnehmenden Länder dem Irak aufgrund kurz- und mittelfristigen Wiederaufbaubedarfs Darlehen in Höhe von 30 Milliarden Dollar, Investitionszusagen, Exportkreditvereinbarungen sowie Zuschüsse an. Daneben besteht mit dem Humanitarian Response Plan des UNOCHA ein humanitäres Hilfsprogramm für bedürftige Iraker (dazu im Einzelnen CRS, Iraq: Issues in the 116th Congress, S. 17 - 18). Auch die Bundesregierung beteiligt sich seit 2016 am Wiederaufbau der Sindjar-Region durch Mittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und unterstützt Projekte der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit sowie anderer Implementierungspartner. Aufbauhilfe wird auch mit Mitteln des Auswärtigen Amtes geleistet. Das Gesamtvolumen der Projekte beläuft sich auf etwa 65 Millionen EUR (vgl. zu den einzelnen Projekten Anfragebeantwortung der Bundesregierung vom 5.2.2019, BT-Drucks. 19/7538, S. 10 - 12).

Bei der Bewertung der Situation vor Ort hat der Senat auch die Rückkehrbewegungen in den Distrikt Sindjar in den Blick genommen. Mittlerweile sind, wie oben dargelegt, etwa 45.500 aus dem Sindjar vertriebene Yeziden in ihre Heimatregion zurückgekehrt und stellen sich den dortigen Gegebenheiten, was zumindest als Indiz für eine fehlende beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aller Yeziden im Sindjar gewertet werden kann, da zumindest die Rückkehrer selbst die Wahrscheinlichkeit ihrer Verfolgung durch den IS als gering eingestuft haben dürften.

Eine abweichende obergerichtliche Bewertung der aktuellen Situation der Yeziden im Sindjar ist nicht ersichtlich. Die obergerichtliche Rechtsprechung hatte eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak vor dem Einmarsch des IS bisher überwiegend verneint. Der Senat ist in seinem Urteil vom 19. März 2007 (a. a. O., Rn. 49, 57 - 58, 64), in dem er von landesweit höchstens 200 Referenzfällen für die Zeit ab 2004 sowie einer Bevölkerungszahl von 400.00 Yeziden im Irak ausgegangen ist, im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung zu dem Ergebnis gekommen, dass Yeziden hinsichtlich ihres Lebens, ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Freiheit im Irak keiner Verfolgungsgefahr in Anknüpfung an ihre Religionsgemeinschaft ausgesetzt waren und für Yeziden auch keine unzumutbar eingeschränkte Möglichkeit zur Religionsausübung bestand (so im Ergebnis auch Nds. OVG, Beschluss vom 8.2.2012 - 13 LB 50/09 - juris Rn. 41). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 22.1.2014 - 9 A 2561/10.A - juris Rn. 113) verneinte die erforderliche Verfolgungsdichte unter Annahme einer Bevölkerungszahl von 290.000 Yeziden im Sindjar sowie von 45 Referenzfällen pro Jahr (ebenso SächsOVG, Beschluss vom 29.4.2014 - A 4 A 105/14 - juris Rn. 45) sowie einer Berücksichtigung der Lebensbedingungen und Sicherheitslage im Rahmen einer wertenden Betrachtung. Seitdem sind - soweit ersichtlich - keine Berufungsentscheidungen zu der Frage einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar ergangen.

Die Verwaltungsgerichte gehen aktuell, nach dem militärischen Sieg über den IS im Irak, überwiegend von einer fehlenden Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar bzw. der Provinz Ninive aus (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 4.6.2019 - Au 5 K 18.32006 - juris; VG Hannover, Urteil vom 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris; VG Köln, Urteil vom 10.4.2019 - 4 K 12036/17.A - juris; VG Göttingen, Urteil vom 19.2.2019 - 2 A 275/17 - juris; VG C-Stadt, Urteil vom 29.10.2018 - 8 A 3336/18 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 4.7.2018 - A 10 K 17769/17 - juris; VG Aachen, Urteil vom 11.6.2018 - 4 K 530/18.A - juris; VG Münster, Urteil vom 26.4.2018 - 6a K 4203/16.A - juris; VG Oldenburg, Urteil vom 27.2.2018 - 15 A 883/17 - juris; VG Augsburg, Urteil vom 15.1.2018 - Au 5 K 17.35594 - juris; a. A. VG Hannover, Urteil vom 6.11.2018 - 6 A 4570/17 - juris und VG Düsseldorf, Urteil vom 24.10.2018 - 16 K 17561/17.A - V. n. b.).

Das Ergebnis des Senats harmoniert auch mit der Einschätzung des UNHCR (International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 6, 79), der bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Mitgliedern religiöser Minderheiten aus Gegenden, in denen der IS präsent oder in der Nähe ist, davon ausgeht, dass die individuellen Umstände des Einzelfalls entscheidend sind, mit anderen Worten nicht generell für jeden Angehörigen der religiösen Minderheit ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht.

Ohne Erfolg beruft sich der Kläger in diesem Zusammenhang auf die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Die Reisewarnung richtet sich an deutsche Staatsangehörige, die in den Irak reisen wollen und stellt auf deren spezifische Gefährdungssituation ab. Hingegen trifft sie keine Aussage über die Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger. Aus der Reisewarnung können daher bereits keine Rückschlüsse auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG gezogen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris Rn. 6; Urteil des Senats vom 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 64); erst recht enthält sie keine Anhaltspunkte für eine begründete Furcht vor Verfolgung in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 AsylG.

Damit kann derzeit nicht angenommen werden, dass Yeziden im Sindjar einer allgemeinen, nicht an individuelle Verhaltensweisen, sondern an die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft anknüpfenden Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt sind.

3. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Sindjar durch andere nichtstaatliche Akteure ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.

Die Gräueltaten des IS während dessen territorialer Herrschaftsgewalt im Nordirak vermögen mangels innerer Verknüpftheit (vgl. zu dieser Anforderung BVerwG, Urteil vom 18.7.2006, a.a.O., Rn. 26) eine tatsächliche Verfolgungsvermutung durch andere Akteure nicht zu begründen. Anhaltspunkte für aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsfreiheit der Yeziden im Sindjar liegen im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vor. Vor dem Einmarsch des IS war die tatsächliche Ausübung der Religion gewährleistet (vgl. Urteil des Senats vom 19.3.2007, a. a. O., Rn. 64 - 66). Yezidische religiöse Stätten im Sindjar wurden durch extra hierfür eingesetztes Personal geschützt, während religiöser Zeremonien waren Sicherheitskräfte anwesend (vgl. EZKS, Gutachten vom 16.9.2013, S. 8). Es ist nicht ersichtlich, dass die Religionsausübung für die Yeziden nach der Verdrängung des IS aus dem Sindjar noch in relevanter Weise behindert wird.

a) In Bezug auf Sicherheitskräfte des Autonomiegebietes Kurdistan-Irak wird in den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln überwiegend lediglich allgemein von Diskriminierung gesprochen, wobei sich den Ausführungen eine für die Annahme einer Verfolgungshandlung i. S. v. § 3a AsylG erforderliche Intensität nicht entnehmen lässt. So werden in dem Bericht des USDOS (2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks) einige Yeziden, christliche Führer sowie Nichtregierungsorganisation zitiert, die von Schikanen und Diskriminierungen durch die kurdische Regionalregierung (KRG), Peschmerga und den kurdischen Sicherheits- und Geheimdienst Asayish in der Provinz Ninive sprechen. Soweit davon berichtet wird, dass Yeziden aufgrund der Bildung eigener yezidischer Milizen, die der PKK bzw. den Volksmobilisierungseinheiten PMU nahestehen, Vergeltungshandlungen durch kurdische Sicherheitskräfte ausgesetzt sind (vgl. French Office for the Protection of Refugees and Stateless Persons, The Security situation of religious and ethnic minorities, 14.11.2017, S. 6 - 7), ist nicht erkennbar, dass diese in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit erfolgen. Vielmehr dürfte es sich dabei um Maßnahmen machtpolitischer Natur handeln, die nicht die Yeziden als Gruppe betreffen, sondern einzelne Personen, die sich selbst oder deren Angehörige sich entsprechenden, mit den kurdischen Sicherheitskräften konkurrierenden Gruppierungen angeschlossen haben (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 8 des Ausdrucks). Die im April 2016 durch die kurdischen Sicherheitsbehörden erfolgte Beschränkung des Transports von Lebensmitteln und Medikamenten aus Kurdistan-Irak in den Sindjar (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 8 des Ausdrucks) betraf alle Bewohner des Sindjar, unabhängig von ihrer Glaubenszugehörigkeit.

Im Übrigen dürften die vorstehenden Angaben, soweit sie auch den Distrikt Sindjar betreffen, nicht mehr aktuell sein, da sich die kurdischen Sicherheitskräfte nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September 2017 am 17. Oktober 2017 aus dem Sindjar zurückgezogen haben bzw. zurückgedrängt worden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.1.2019, S. 9; ICG, Winning the Post-ISIS Battle for Iraq in Sinjar, 20.2.2018, S. 10); irakische Streitkräfte und vor allem schiitische Milizen drangen immer weiter nach Sindjar vor (vgl. zusammenfassenden Darstellung BFA, Schiitische Milizen in Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 2 - 19 m. w. N.). Derzeit dürften sich keine Sicherheitskräfte aus Kurdistan-Irak mehr im Sindjar befinden (vgl. Danish Immigration Service, Northern Iraq, Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5.11.2018, S. 17).

b) Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Yeziden im Sindjar in nennenswertem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. dazu im Einzelnen BFA, Übergriffe schiitischer Milizen im Sindschar, 23.7.2018, m. w. N.). Vielmehr gewannen die schiitischen Milizen nach ihrem Vordringen in den Sindjar durch die Zusammenarbeit mit lokalen yezidischen Stammesführern an Akzeptanz. Sie tolerierten die örtlichen yezidischen Milizen und gingen im Sicherheitsbereich weitreichende Kooperationen ein, indem sie die yezidischen in die schiitischen Milizen integrierten bzw. Yeziden rekrutierten (vgl. ICG, Winning the Post-ISIS Battle for Iraq in Sinjar, 20.2.2018, S. 10 - 11).

Darüber hinaus ist bereits unklar, ob sich die schiitischen Milizen aktuell überhaupt noch im Distrikt Sindjar aufhalten. So berichtet ein kurdischer Nachrichtensender von deren Abzug (vgl. Kurdistan24, Official: Hashd al-Shaabi withdraws from Shingal, 22.8.2018), die schiitischen Milizen selbst sprechen von einer Repositionierung (vgl. Kurdistan24, Shia militias deny withdrawing from Iraq's Nineveh, says "forces repositioned", 12.8.2018). Nach dem Bericht des Danish Immigration Service (Northern Iraq, Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5.11.2018, S. 16 - 17) scheinen die Sicherheitskräfte des irakischen Zentralstaates, die Iraqi Security Forces (ISF), derzeit der bedeutendste Sicherheitsakteur in der Provinz Ninive zu sein. Sie haben dort aber keine Kontrolle über alle bewaffneten Akteure. Die Kontrolle über die Provinz Ninive ist auf verschiedene Sicherheitsakteure verteilt. Die ISF kontrollieren den südlichen Teil und den nördlichen Teil der Provinz, während verschiedene PMU den östlichen Teil von Ninive kontrollieren. Den größten Teil des Bezirks Sindjar kontrollieren danach derzeit die yezidischen Milizen Ezidkhan Protection Force (HPE) und die Sindjar Resistance Unit (YBS).

c) Belastbare Hinweise für gezielte Übergriffe auf Yeziden in Anknüpfung an deren Glaubenszugehörigkeit durch andere Akteure, insbesondere anderer, sich in der Region befindlicher Milizen - hinter dem Begriff der Volksmobilisierungseinheiten PMU verbergen sich mehr als 60 verschiedene Gruppierungen; größtenteils vom Iran unterstützte schiitische Milizen, aber auch irakische schiitische Milizen und Milizen ethnischer und/oder religiöser Minderheiten, wie Sunniten, Yeziden, Christen, Turkmenen, Shabak etc. (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 2) - bestehen ebenfalls nicht. Zwar ist allgemein von Spannungen zwischen den zahlreichen regionalen Milizen im Sindjar die Rede, die jeweils eigene politische Ziele verfolgen (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 6), was auch zu Problemen der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen an einem der vielen Checkpoints von Sicherheitskräften jeweils anderer ethnischer oder religiöser Gruppierungen in der Provinz Ninive (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 20-21) geführt haben dürfte. Dass es in diesem Zusammenhang zu gezielten Übergriffen gegenüber Yeziden wegen deren Glaubenszugehörigkeit kommt, ist aber nicht ersichtlich. Dies gilt ebenso für Berichte, nach denen es Yeziden nicht erlaubt worden sei, in ihre Häuser in vom IS befreiten Gebieten zurückzukehren, da davon auch sunnitische Araber, Turkmenen und andere Personen betroffen waren (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 21).

d) Es ergeben sich auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Glaubensausübung aufgrund einer - im Zusammenhang mit der Sicherheitslage, dem Erfordernis verschiedener Durchreiseerlaubnisse sowie Schikanen und Misshandlungen an Checkpoints stehenden - eingeschränkten Bewegungs- bzw. Reisefreiheit in der Provinz Ninive in einer die Annahme einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung von Yeziden rechtfertigenden Weise beeinträchtigt ist.

Das USDOS (2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks) berichtet zwar, dass der kurdische Geheim- und Sicherheitsdienst Asayish Genehmigungen für den Übertritt über die Hauptbrücke von Dohuk nach Ninive forderte. Für eine Rückkehr in die Provinz Ninive benötigten Flüchtlinge aus Kurdistan-Irak nicht nur Erlaubnisse der Behörden des Aufenthaltsortes, sondern auch des Zielgebietes sowie der Sicherheitsakteure, durch deren kontrolliertes Gebiet die Route führte (vgl. im Einzelnen The Danish Immigration Service, Northern Iraq, Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5.11.2018, S. 26 - 27). Den Berichten lässt sich indes weder entnehmen, dass Yeziden nicht in den Sindjar zurückkehren konnten oder können, noch, dass die Beschränkungen der Behinderung der Religionsausübung, wie z. B. des Besuchs religiöser Stätten, dienten.

Die Erkenntnismittel enthalten zudem keine Hinweise, dass das yezidische Heiligtum Lalish im Norden der Provinz Ninive in der Nähe der Grenze zu Kurdistan-Irak nicht von Yeziden aus dem Sindjar bereist werden kann. Dabei ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der irakische Zentralstaat in der Vergangenheit, seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung entsprechend, für den Schutz religiöser Stätten und Einrichtungen sowie die Sicherheit auf Pilgerwegen gesorgt hat (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom - Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks). Übergriffe an Checkpoints dürften zudem auch in der Provinz Ninive keine zielgerichteten Handlungen gegen die yezidische Religionsausübung darstellen, sondern vielmehr machtpolitisch motiviert und der unklaren Sicherheitslage mit vielen verschiedenen Sicherheitsakteuren in der Region geschuldet sein.

III. Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Yeziden aus dem Sindjar. Ist eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich dies aber aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 24; Urteil vom 30.10.1984 - 9 C 24.84 - juris Rn. 12).

In der Vergangenheit waren yezidische Intellektuelle mit öffentlich sichtbarem Erfolg bzw. Einfluss oder yezidische Würdenträger, wenn sie regelmäßig yezidische Einrichtungen besuchen, Yeziden im Alkoholgeschäft oder im Gaststätten- und Hotelgewerbe sowie in der Vergnügungsindustrie, in Schönheits- oder Frisiersalons oder Yeziden, die - etwa als Polizisten oder Taxifahrer - in häufigen Kontakt zur moslemischen Bevölkerung traten oder aufgrund typischer Kleidungsstücke oder anderer Merkmale als Yeziden auffielen, besonders gefährdet (vgl. EZKS, Gutachten vom 26.10.2005, S. 8 - 9). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019 (S. 17) sowie des USDOS (Country Report On Human Rights Practices 2017 - Iraq, 20.4.2018, S. 15 des Ausdrucks) sind vor allem Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Musiker, Richter und Rechtsanwälte, alle Mitglieder des Sicherheitsapparats, Mitarbeiter der Ministerien oder von Provinzregierungen, Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Yeziden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, sowie medizinisches Personal besonders gefährdet. Ob bei diesen Personengruppen letztlich die Gefahr einer Verfolgung besteht, lässt sich nach Auffassung des erkennenden Senats nicht allgemein und grundsätzlich beantworten, sondern ist eine Frage der konkreten Umstände des Einzelfalls. Zu prüfen ist bei Übergriffen jeweils auch, ob wirklich ein Bezug zum yezidischen Glauben besteht, also nicht unabhängig davon auch bei anderen Personen eine entsprechende Gefährdung vorhanden ist. Im vorliegenden Fall erübrigt sich eine solche Einzelfallprüfung, weil der Kläger nicht zu einer der genannten Personengruppen gehört.

Soweit es dem Kläger, der nach eigenen Angaben der Pir-Kaste angehört und dessen Familie nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung etwa 470 der Kaste der Muriden angehörige Familien zugeordnet sind, aufgrund einer eingeschränkten Reisefreiheit oder der angespannten Sicherheitslage nicht möglich bzw. zumutbar wäre, alle ihm zugeordneten Muriden aufzusuchen, wäre insoweit ebenfalls nicht erkennbar, dass dies auf einer zielgerichteten Beschränkung seiner Religionsausübungsfreiheit beruhte. Es dürfte sich vielmehr auch hierbei um eine Reflexwirkung machtpolitischer Entscheidungen ohne religiösen Bezug handeln. Mögliche, daraus resultierende finanzielle Einbußen, wie bei den Sheikhs, die von den Spenden für spirituelle Begleitung und religiöse Dienste leben (vgl. EZKS, Gutachten vom 21.5.2014, S. 4), vermögen als rein wirtschaftlicher Aspekt keine Verfolgungshandlung i. S. v. § 3a AsylG in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund i. S. v. § 3b AsylG zu begründen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.