Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.03.2021, Az.: 13 OB 102/21

Abschiebung; Amtsgericht; Rechtswegbeschwerde; Wohnungsdurchsuchung; Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.03.2021
Aktenzeichen
13 OB 102/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70809
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 23.02.2021 - AZ: 11 B 1229/21

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Für den Erlass einer richterlichen Durchsuchungsanordnung nach § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG ist gemäß §§ 3 Abs. 1 Satz 3, 25 Abs. 1 Satz 2 NPOG das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die zu durchsuchende Wohnung liegt.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer -vom 23. Februar 2021 wird verworfen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die weitere Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht wird nicht zugelassen.

Gründe

1. Die Rechtswegbeschwerde der Antragstellerin gegen den Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 23. Februar 2021 ist unzulässig. Ihr fehlt das erforderliche Rechtschutzinteresse.

Eine zunächst zulässige Rechtswegbeschwerde wird gegenstandslos, wenn das Hauptsacheverfahren vor dem zuerst angegangenen Gericht durch prozessbeendende Erklärungen wegfällt oder sich die Rechtsfrage aus anderen Gründen nicht mehr stellt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.8.2016 - BVerwG 5 B 74.15 -, juris Rn. 4 m.w.N.; a.A. offenbar OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.10.2016 - OVG 1 L 42.16 -, juris Rn. 1). Dies gilt erst recht, wenn das Ausgangsverfahren schon zum Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde gegenstandslos geworden ist.

So liegt der Fall hier, da die Antragstellerin schon in ihrem Schriftsatz vom 3. März 2021, mit dem sie die Rechtswegbeschwerde eingelegt und begründet hat, ausführt, dass die Abschiebung, zu deren Zweck die Durchsuchungsanordnung beantragt worden ist, inzwischen durchgeführt worden sei. Sie macht daher nur noch geltend, dass sich die Frage des Rechtswegs auch bei künftig zum Zweck der Abschiebung beantragten Durchsuchungsanordnungen stellen werde. Die Rechtswegbeschwerde sieht einen - von der Antragstellerin zudem nicht ausdrücklich gestellten - Fortsetzungsfeststellungsantrag jedoch nicht vor.

2. Zur Vermeidung künftiger negativer Zuständigkeitsstreitigkeiten bei der richterlichen Anordnung zum Zwecke der Abschiebung beantragter Durchsuchungen von Wohnungen nach § 58 Abs. 6 ff. AufenthG weist der Senat aber darauf hin, dass nach seiner Auffassung in Niedersachsen die Zuständigkeit der Amtsgerichte nach § 25 Abs. 1 Satz 2 NPOG nach wie vor besteht.

a. Der Verwaltungsrechtsweg ist in diesen Fällen nicht nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Rechtsgrundlage und damit streitentscheidende Norm für den Erlass der begehrten Durchsuchungsanordnung ist allerdings § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG, so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt.

Die Streitigkeit ist auch nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO ausdrücklich zugewiesen. Eine abdrängende Sonderzuweisung besteht insbesondere nicht in § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. mit den Vorschriften in Buch 7 des FamFG, weil eine Durchsuchungsanordnung keine Freiheitsentziehung im Sinne dieser Vorschrift zur Folge hat (vgl. im Einzelnen zum fehlenden freiheitsentziehenden Charakter einer Durchsuchung: VG Arnsberg, Beschl. v. 11.11.2019 - 3 I 24/19 -, juris Rn 20 ff. m.w.N.).

Auch enthält § 58 Abs. 10 AufenthG keine abdrängende Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO. Nach dieser Vorschrift bleiben weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG betreffen, unberührt. § 58 Abs. 10 AufenthG selbst weist Anträge nach § 58 Abs. 8 AufenthG mithin nicht ausdrücklich einer anderen Gerichtsbarkeit zu.

Eine abdrängende Sonderzuweisung ergibt sich auch nicht aus § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO, wonach öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden können. Um eine Streitigkeit nach Landesrecht handelt es sich bei einer Durchsuchung nach der bundesgesetzlichen Rechtsgrundlage des § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG nicht (a.A. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 22.7.2020 - 4 O 25/20 -, juris Rn. 5 unter Hinweis auf die Befugnis der Länder zur Regelung des Verwaltungsverfahrens nach Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG). Der Richtervorbehalt als solcher ist bereits durch Art. 13 Abs. 2 GG vorgegeben und bedarf keiner Regelung durch den Landesgesetzgeber, die noch dem Verwaltungsverfahren zugerechnet werden könnte. Die Regelungen der Zuständigkeit des zum Erlass einer Durchsuchungsanordnung berufenen Gerichtszweigs und auch des anzuwendenden gerichtlichen Verfahrensrechts gehen hingegen über die Regelung des Verwaltungsverfahrens hinaus und berühren die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren.

b. Der Bundesgesetzgeber hat aber mit § 58 Abs. 10 AufenthG eine neben der allgemeinen Regelung des § 40 Abs. 1 VwGO gleichrangige eigenständige Zuständigkeitsregelung geschaffen, mit der es im Sinne einer Öffnungsklausel den Ländern jedenfalls ermöglicht wird, bereits bestehende Rechtswegregelungen für Wohnungsdurchsuchungen auf die Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG zu erstrecken.

Diese Auslegung ist mit dem Wortlaut des § 58 Abs. 10 AufenthG vereinbar. Dort heißt es: "Weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, bleiben unberührt." Diese Formulierung setzt nicht voraus, dass es sich bei den in Bezug genommenen landesrechtlichen Regelungen um weitergehende materiellrechtliche Befugnisse handelt. Denn die angesprochenen Absätze 5 bis 9 des
§ 58 AufenthG enthalten nicht nur materiellrechtliche Befugnisse, sondern - neben dem Richtervorbehalt in § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - auch weitere Regelungen zu dem bei der Durchsuchung einzuhaltenden Verfahren (vgl. Abs. 7, Abs. 9). Das lässt es zu, § 58 Abs. 10 AufenthG auch auf die landesrechtlichen Regelungen der gerichtlichen Zuständigkeit zu beziehen.

Bestätigt wird dieses Verständnis durch die Entstehungsgeschichte der Norm. In der Begründung der insoweit Gesetz gewordenen Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (BT-Drs. 19/10706, S. 14) heißt es:

"In der Praxis einiger Länder besteht das Problem, dass keine eindeutige Rechtsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zum Zwecke des Auffindens des Abzuschiebenden besteht.

Die Abschiebung ist eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung. Mit der Einfügung wird eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage im Aufenthaltsgesetz geschaffen.

Durch den Satz "Weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, bleiben unberührt" wird geregelt, dass durch die Absätze 5 bis 9 bundeseinheitlich ein Mindestmaß für Betretensrechte bei Abschiebungen vorgegeben wird. Bestehende Regelungen der Länder, die weitergehende Befugnisse geben, gelten fort, ohne dass hierzu ein Rechtsakt der Länder notwendig wäre."

Daraus wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber nicht in bestehende landesrechtliche Regelungen eingreifen wollte, die auch vor der bundesgesetzlichen Änderung Wohnungsdurchsuchungen zum Zwecke der Durchführung einer Abschiebung erlaubten (so etwa in Niedersachsen die §§ 24, 25 NPOG). In diesen Ländern wird die bereits bestehende landesrechtliche Rechtslage gegebenenfalls durch die nunmehrigen bundesrechtlichen Befugnisse materiellrechtlich angereichert. Sofern landesrechtliche Vorschriften eine weitergehende Eingriffsbefugnis zugestehen, bleiben diese bestehen (vgl. VG Karlsruhe, Beschl. v. 10.12.2019 - 3 K 7772/19 -, juris Rn. 23). Der Gesetzgeber wollte ersichtlich ausschließlich materiellrechtliche Mindeststandards einführen. Eine Zuständigkeitsverlagerung war hingegen nicht beabsichtigt (vgl. VG Arnsberg, Beschl. v. 11.11.2019 - 3 I 24/19 -, juris Rn. 43 ff.; a.A. OLG Köln, Beschl. v. 7.8.2020 - I-2 Wx 178/20, 2 Wx 178/20 -, juris Rn. 14; VG Braunschweig, Beschl. v. 22.1.2021 - 5 E 21/21 -, juris Rn. 3 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 6.10.2020 - 22 I 28/20 -, juris Rn. 5 ff.; jew. m.w.N.). Der Senat versteht § 58 Abs. 10 AufenthG - der eine auf gleichem Rang in der Normenpyramide wie § 40 Abs. 1 VwGO stehende bundesgesetzliche Regelung darstellt - daher als eine spezielle punktuelle Ermächtigung des Bundesgesetzgebers an die Länder, auf in Absätzen 5 bis 9 des § 58 AufenthG geregelte Materien und damit auch auf den Richtervorbehalt in § 58 Abs. 8 Satz 1, Abs. 6 AufenthG bezogene eigene landesrechtliche Normen beizubehalten, die materiell-rechtlich strengere Befugnisse zum Durchsuchen von Wohnungen als § 58 Abs. 6, Abs. 7 AufenthG gewähren oder die die bundesgesetzliche "Mindestbefugnis" in § 58 Abs. 6, Abs. 7 AufenthG - wie §§ 25 Abs. 1 Sätze 2 und 3, 19 Abs. 4 NPOG - vor allem hinsichtlich des zuständigen Gerichts(zweiges) und des anzuwendenden gerichtlichen Verfahrens ausführen oder ausfüllen. Damit hat der Bundesgesetzgeber die Länder punktuell in teilweiser Zurücknahme der Wahrnehmung seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 und 2, Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 (Aufenthaltsrecht) und Nr. 1 (Gerichtsverfassung, gerichtliches Verfahren) GG in vergleichbarer Weise wie für die ausschließliche Bundesgesetzgebungskompetenz in Art. 71 GG vorgesehen ermächtigt, eine von der bereits existierenden Bundesnorm (§ 40 Abs. 1 VwGO) abweichende Rechtswegzuweisung beizubehalten.

Für diese Auslegung spricht zudem, dass der Gesetzgeber - anders als etwa in § 56a Abs. 9 AufenthG - in Kenntnis der unterschiedlichen Landesregelungen nicht nur von der ausdrücklichen Bestimmung des Rechtswegs, sondern zugleich von der Regelung des anzuwendenden Verfahrensrechts abgesehen hat. Das unterscheidet § 58 AufenthG auch von der Regelung des § 4 VereinsG, der die Zuständigkeit für die dort geregelten Anordnungen und Maßnahmen dem Verwaltungsgericht zuweist, gleichzeitig aber das anwendbare Verfahrensrecht regelt. Hätte der Bundesgesetzgeber eine Änderung der bisher landesrechtlich bestimmten Zuständigkeit bewirken wollen, so wäre es erforderlich gewesen, diese Änderung sowie das anwendbare Verfahrensrecht ausdrücklich zu regeln. Das ist jedoch nicht geschehen. Die materiellrechtliche Neuregelung des § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG ist daher, da § 58 Abs. 10 AufenthG als speziellere Regelung gegenüber dem allgemeinen § 40 Abs. 1 VwGO vorrangig anzuwenden ist, durch die bestehenden landesrechtlichen Zuständigkeitsregelungen zu ergänzen.

In Niedersachsen war und ist nun gemäß § 3 Abs. 1 Satz 3 NPOG auch bei Anwendung des § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG für den Erlass einer Durchsuchungsanordnung damit weiterhin das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Wohnung liegt (§ 25 Abs. 1 Satz 2 NPOG). Die anzuwendenden Verfahrensvorschriften bestimmen sich nach § 25 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 19 Abs. 4 NPOG.

Ob für eine Zuständigkeit der Amtsgerichte auch praktische Erwägungen sprechen (vgl. einerseits VG Braunschweig, a.a.O., Rn. 13; andererseits VG Arnsberg, a.a.O., Rn. 45 ff., und den Vorschlag des Bundesrats in der Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022 und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes, BR-Drs. 504/20 (B), S. 2 f., und hierzu die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs. 19/23566, S. 4), bedarf zur Beantwortung der Frage der allein nach rechtlichen Kriterien zu entscheidenden Zuständigkeit keiner Würdigung.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, die von § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG nicht erfasst werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.10.1993 - BVerwG 1 DB 34.92 -, juris Rn. 18), folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Ein Streitwert ist nicht festzusetzen. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Kostentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum Gerichtskostengesetz.

4. Gründe für die Zulassung der weiteren Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG liegen nicht vor.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG).