Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.03.2021, Az.: 13 ME 72/21
Absonderung; Befreiung; Corona; COVID-19; Immunität; Niedersächsische Quarantäne-Verordnung; Quarantäne; Risikogebiet; Vorwegnahme der Hauptsache
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 02.03.2021
- Aktenzeichen
- 13 ME 72/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 70784
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 19.02.2021 - AZ: 15 B 445/21
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs 9 CoronaVQuarV ND
- § 123 Abs 1 S 1 VwGO
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 15. Kammer - vom 19. Februar 2021 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 19. Februar 2021 hat keinen Erfolg.
I. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die Antragsgegnerin durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller gemäß § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung von der Absonderungspflicht nach Abs. 1 dieser Verordnung zu befreien, zu Recht abgelehnt. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigt keine andere Entscheidung.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der diesen vorläufigen Rechtsschutz Begehrende muss gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft machen, dass ihm der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dass ein Grund für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht (Anordnungsgrund).
Der Antragsteller hat auch im Beschwerdeverfahren weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht.
1. Ein Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 19.10.2010 - 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 81 (Stand: März 2014)). Dabei ist einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 - BVerwG 1 WDS VR 2.04 -, juris Rn. 3; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.7.1962 - I B 57/62 -, OVGE MüLü 18, 387, 388 f.) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 69, 74 - juris Rn. 17; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 - BVerwG 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.5.2010 - 8 ME 109/10 -, juris Rn. 14; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 193 f. jeweils m.w.N.).
Hier erstrebt der Antragsteller eine solche Vorwegnahme der Hauptsache. Das Ziel der von ihm begehrten einstweiligen Regelungsanordnung ist identisch mit dem Ziel einer Hauptsacheklage auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung einer entsprechenden Befreiung nach § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung vom 22. Januar 2021 (Nds. GVBl. S. 16) in der Fassung des Artikels 2 der Verordnung vom 12. Februar 2021 (Nds. GVBl. S. 55). Dem steht nicht entgegen, dass die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erstrebte Regelung vorläufig wäre und unter der auflösenden Bedingung des Ergebnisses eines Klageverfahrens stünde. Denn auch die bloße vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt die mit einem Klageverfahren erstrebte Rechtsposition und stellt den Antragsteller - ohne dass diese Rechtsstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte - vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - BVerwG 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15 - juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 2.2.2021- 13 ME 41/21 -, juris Rn. 6 f.; v. 8.10.2003 - 13 ME 342/03 -, NVwZ-RR 2004, 258 f. [VG Lüneburg 17.09.2003 - 5 A 265/02] - juris Rn. 29; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 21.10.1987 - 12 B 109/87 -, NVwZ-RR 1988, 19; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., Rn. 180 m.w.N.).
Der nach dem eingangs dargestellten Maßstab nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorwegnehmenden Regelungsanordnung kommt hier nicht in Betracht. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller nicht hinreichend glaubhaft gemacht hat, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (S. 2 f. des angefochtenen Beschlusses). Die hiergegen mit der Beschwerde erhobenen Einwände gebieten keine abweichende Beurteilung. Es mag offen bleiben, ob dem Antragsteller als alleinigem Geschäftsführer diverser Unternehmen eine Betriebsabwesenheit von mehr als einer Woche nicht möglich ist. Es ist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hinzuweisen, dass Spanien einschließlich der Kanarischen Inseln seit dem 21. Februar 2020 nicht mehr als Hochinzidenzgebiet gilt (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/infAZ/N/Neuartiges_Coronaviris/Risikogebiete_
neu.html). Nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung kann der Antragsteller daher durch einen negativen PCR-Test den Zeitraum der Absonderung auf fünf Tage verkürzen. Es ist dem Antragsteller darüber hinaus durchaus zuzumuten, für seine Bauprojekte auf den Kanarischen Inseln einen örtlichen Bauleiter einzustellen oder den bisherigen Bauleiter auszutauschen. Die Behauptung, die Bauüberwachung und Bauabnahme seien nicht delegierbar, spiegelt allein die subjektiv empfundene Unentbehrlichkeit des Antragstellers wieder, ist anhand objektiver Kriterien aber nicht nachvollziehbar dargelegt. Sofern der Antragsteller dennoch der Auffassung ist, seine eigenen Vorstellungen nur vor Ort durchsetzen zu können, ist er auf die oben beschriebene Möglichkeit einer verkürzten Quarantäne verwiesen. Daneben stehen dem Antragsteller auch die vielfältigen Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation zu Gebote.
2. Darüber hinaus steht dem Antragsteller aber auch kein Anordnungsanspruch zur Seite.
Auch nach dem Beschwerdevorbringen hält es der Senat nicht für überwiegend wahrscheinlich und damit nicht für glaubhaft gemacht (vgl. zu dieser Herabsetzung des Beweismaßes bei der nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO erforderlichen Glaubhaftmachung: BVerfG, Beschl. v. 29.7.2003 - 2 BvR 311/03 -, NVwZ 2004, 95, 96 - juris Rn. 16; BVerwG, Beschl. v. 26.2.2014- BVerwG 6 C 3.13 -, NVwZ 2014, 1229, 1231 - juris Rn. 27; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 94 f. (Stand: März 2014) m.w.N.), dass ein begründeter Einzelfall im Sinne des § 1 Abs. 9 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung vorliegt, in dem die Antragsgegnerin nach Abwägung aller betroffenen Belange aufgrund einer Reduzierung des ihr zukommenden Ermessens verpflichtet ist, den Antragsteller von den Absonderungspflichten zu befreien.
a) Ein begründeter Einzelfall kann zum einen dann anzunehmen sein, wenn aufgrund individueller Umstände abweichend von den Grundannahmen des § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung keine oder eine signifikant geringere Infektionswahrscheinlichkeit gegeben ist (vgl. die Begründung zur Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung v. 22.1.2021, Nds. GVBl. S. 22).
Diese Voraussetzungen liegen im Hinblick auf die fortbestehende Einordnung der Kanarischen Inseln als Risikogebiet nicht vor.
Im Übrigen verweist der Antragsteller nur darauf, im März 2020 an COVID-19 erkrankt gewesen zu sein. Eine daraus hergeleitete Immunität ist derzeit jedoch wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt (vgl. Epidemiologischer Steckbrief des RKI zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Stand 25.2.2021 unter 17. Immunität). Selbst bei Bestehen einer Immunität ist weiterhin unklar, ob und ggf. in welchem Ausmaß der Antragsteller dennoch Überträger des Virus sein kann. So ist, wenn es sich bei der Kontaktperson um einen früheren SARS-CoV-2 handelt, aufgrund der aktuellen Datenlage zu Reinfektionen und Kontagiosität bei erneuter Infektion nur dann keine Quarantäne erforderlich, wenn der Kontakt innerhalb von 3 Monaten nach dem Nachweis der vorherigen SARS-CoV-2-Infektion erfolgte (vgl. RKI: Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei SARS-CoV-2- Infektionen, Stand 16.2.2021 unter 3.1.2, 2. Hinweise zur Quarantäne).
b) Ein begründeter Einzelfall kann zum anderen aber auch dann gegeben sein, wenn aufgrund individueller Umstände dem Absonderungsverpflichteten die Befolgung der Absonderungspflicht nach § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar ist.
Nach der Verordnungsbegründung sind Ausnahmen insbesondere dann zuzulassen, wenn ein zwingender beruflicher, schulischer oder persönlicher Grund vorliegt und glaubhafte Schutzmaßnahmen ergriffen werden, die einem Schutz durch Absonderung nahezu gleichkommen. Für Einzelpersonen kann so etwa unter Vorlage eines Schutz- und Hygienekonzepts eine generelle Befreiung von der Absonderungspflicht aufgrund ihrer Tätigkeit erteilt werden. Dies betrifft beispielsweise Tätigkeiten im grenzüberschreitenden Linienverkehr oder Mitarbeiter in Kritischen Infrastrukturen. Der Antragsteller hat darzulegen, welche Schutz- und Hygienemaßnahmen ergriffen werden, um das Risiko einer Ansteckung und Verbreitung des Virus zu verringern. Die Behörde kann die Befreiung auch an Auflagen und Bedingungen knüpfen (vgl. Nds. GVBl. S. 22).
Auch diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt (siehe hierzu bereits oben I.1.). Der Antragsteller hat auch keine Schutzmaßnahmen glaubhaft gemacht, die einem Schutz durch Absonderung nahezu gleichkommen.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 Abs. 2 GKG. Dabei setzt der Senat im Hinblick auf die begehrte Vorwegnahme der Hauptsache entsprechend Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11) auch im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den vollen Auffangstreitwert an.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).