Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.09.2015, Az.: 9 LB 98/13

Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in der Islamischen Republik Afghanistan infolge einer Konversion vom Islam zum Christentum; Ernsthafte individuelle Bedrohung jeder Zivilperson aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz Ghazni; Subsidiärer unionsrechtlicher Abschiebungsschutz für einen afghanischen Staatsangehörigen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.09.2015
Aktenzeichen
9 LB 98/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 28363
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2015:0907.9LB98.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 13.09.2012

Fundstelle

  • ZAR 2015, 405

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Zur Frage der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG in der Islamischen Republik Afghanistan infolge einer Konversion vom Islam zum Christentum

  2. 2.

    Im Distrikt Jaghorie in der Provinz Ghazni der Islamischen Republik Afghanistan liegt keine durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnete außergewöhnliche Situation vor, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG ausgesetzt wäre.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 13. September 2012 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutz hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan.

Er ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger hazarischer Volkzugehörigkeit, wurde am 1. Januar 1988 geboren, ist ledig, hat keine Kinder und hielt sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan, deren Zeitpunkt nicht mehr feststellbar ist, im Dorf Sange Shanda in der Provinz Ghazni auf. Am 5. September 2006 wurde der Kläger in Griechenland erkennungsdienstlich behandelt. Im Jahr 2011 reiste er in das Bundesgebiet ein, wo er am 19. Mai 2011 einen Asylantrag stellte.

Zur Begründung gab er im Wesentlichen an, sein Vater habe sechs bis sieben Jahre zuvor einen Mann namens "Mardan" umgebracht und sei deshalb inhaftiert worden. Daraufhin hätten die Angehörigen des "Mardan" ihn, den Kläger, umbringen wollen. Er sei zweimal geschlagen und zudem bedroht worden.

Mit Bescheid vom 21. November 2011 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorlägen noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a.F., und drohte ihm unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan an. Zu den Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. führte es aus: Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen von § 60 Abs. 2 und Abs. 3 AufenthG a.F. seien nicht erkennbar. Insbesondere habe der Kläger eine Gefährdung durch nichtstaatliche Akteure, für die kein ausreichender (quasi)staatlicher Schutz zur Verfügung stehe, nicht glaubhaft machen können. Auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F. lägen nicht vor. Zwar könne das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in der Provinz Ghazni nicht ausgeschlossen werden. Der Konflikt erreiche aber kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorlägen, der Kläger liefe bei einer Rückkehr allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr, einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

Der Kläger hat Klage erhoben und im Wesentlichen geltend gemacht: Er habe Afghanistan verlassen, weil ihm in der Provinz Ghazni aufgrund der allgemeinen Situation und aus individuellen Gründen Gefahren für Leib und Leben gedroht hätten. Er befürchte, von Angehörigen derjenigen Familie umgebracht zu werden, deren Mitglied von seinem Vater getötet worden sei. Er sei etwa 14 bis 15 Jahre alt gewesen, als der Nachbar Hadji Aslam Wasser aus dem Wasserreservoir auf seine eigenen Felder geleitet habe, obwohl an jenem Tag seiner Familie dieses Recht zugestanden habe. Sein Vater habe daraufhin dessen Cousin "Mardan" erschossen und sei inhaftiert worden. Als er, der Kläger, älter geworden sei, hätten Angehörige der Nachbarsfamilie ihm gedroht, ihn umzubringen. Er sei einige Jahre nach dem Zwischenfall in der Schule von Freunden des Neffen des "Mardan" so geschlagen worden, dass er Zähne verloren habe und an der Nase verletzt worden sei. Daraufhin sei er geflohen.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 21. November 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen,

hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG (a.F.) bestehen,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Zu den Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die vom Kläger befürchtete Rache durch die Nachbarsfamilie sei kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 60 Abs. 11 AufenthG a.F. in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, der für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. erforderlich sei. Als ein solcher Schaden gelte eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. "Im Rahmen" eines Konflikts bestehe eine Gefahr nur, wenn sie mit diesem in einem inhaltlichen Zusammenhang stehe. Die vom Kläger geschilderten privaten Übergriffe wiesen keinen inhaltlichen Zusammenhang zu einem etwaigen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auf. Auch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F. setze voraus, dass ein Schaden "im Rahmen" eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts drohe.

Der Kläger hat gegen dieses Urteil die Zulassung der Berufung beantragt, soweit das Verwaltungsgericht eine Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a.F. festzustellen, abgelehnt hat. Der Senat hat mit Beschluss vom 27. Februar 2013 (9 LA 50/13) wegen einer Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG die Berufung zugelassen, soweit es die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. betrifft; im Übrigen hat der Senat den Antrag auf Zulassung der Berufung verworfen.

Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor: Die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 Nr. 3 AsylVfG lägen im Hinblick auf die Provinz Ghazni vor. Dort herrsche ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Die Anzahl der durch bewaffnete oppositionelle Gruppen bewirkten Vorfälle sei deutlich gestiegen. Bei etwa 1,1 Millionen Einwohnern in der Provinz Ghazni könne eine konkrete individuelle Gefahr für ihn nicht ausgeschlossen werden. Er könne auch keinen Schutz in anderen Landesteilen Afghanistans finden. Insbesondere verfüge er über keine familiären Strukturen in der Stadt Kabul, so dass es ihm nicht möglich wäre, dort eine Unterkunft und eine Arbeitsstelle zu finden und seine Existenz zu sichern. Er habe nur vier Jahre lang eine Schule besucht und habe keine Berufsausbildung. Zudem sei er in der Bundesrepublik Deutschland zum Christentum konvertiert. Der Kläger hat seine Taufurkunde vom 15. November 2014 und eine Bescheinigung des Pastors D. vom 1. August 2015 vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung von Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. November 2011 zur Feststellung zu verpflichten, dass bei ihm die Voraussetzungen für ein subsidiäres unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 Nr. 2 und/oder Nr. 3 AsylVfG erfüllt sind.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht den Kläger weder der Gefahr einer "Blutrache" ausgesetzt noch geht sie von einer ernsthaften Umkehr des Klägers zum Christentum aus. In der Provinz Ghazni herrsche auch kein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt, dass für jeden Rückkehrer eine erhebliche Gefahr für Leib oder Leben allein aufgrund seiner Anwesenheit zu befürchten sei.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den Verwaltungsvorgang des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und die beigezogene Ausländerakte über den Kläger Bezug genommen, die ihren wesentlichen Inhalten nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts bedarf keiner Änderung, soweit darin dem Kläger subsidiärer unionsrechtlicher Abschiebungsschutz hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan versagt wird. Die Beklagte ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Berufungsverhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht zu der Feststellung verpflichtet, dass beim Kläger die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 Nr. 2 und / oder Nr. 3 AsylVfG (§ 60 Abs. 2 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.) erfüllt sind.

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als solcher gelten unter anderem nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (1.) sowie gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (2.). Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen nicht vor.

1. Der Kläger hat den Senat in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugen können, dass ihm im Fall der Rückkehr in sein Heimatdorf Sange Shanda eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG droht.

Die Auslegung dieser Vorschrift orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - Rn. 15 und 25; vom 31.1.2013 - 10 C 15.12 - Rn. 22, jeweils zu § 60 Abs. 2 AufenthG a.F.). Der Gerichtshof entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12, Tarakhel ./. Switzerland - HUDOC Rn. 93 m.w.N.). Art. 3 EMRK findet auch dann Anwendung, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Personen oder Personengruppen ausgeht, sofern nachgewiesen ist, dass die Gefahr tatsächlich besteht und die staatlichen Behörden des Zielstaats nicht in der Lage sind, insoweit angemessenen Schutz zu gewähren (EGMR, Urteil vom 5.9.2013 - K.A.B. ./. Sweden - HUDOC Rn. 69). Dem entspricht die Regelung des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c Nr. 3 AsylVfG, wonach die drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, sofern der Staat oder die Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylVfG Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten.

Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen, sowie - in einigen Fällen - vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, Urteil vom 4.11.2014, a.a.O., Rn. 94). Eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK hat der Gerichtshof dann angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (vgl. EGMR, Urteil vom 9.7.2015 - 32325/13, Mafalani ./. Croatia - HUDOC Rn. 69 m.w.N.). Von einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie beim Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist, ferner, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (vgl. die Zusammenfassung in EMGR, Urteil vom 3.9.2015 - 10161/13, M. und M. ./. Croatia - HUDOC Rn. 132). Angesichts der fundamentalen Bedeutung von Art. 3 EMRK hat sich der Gerichtshof zudem eine gewisse Flexibilität für solche Fälle vorbehalten, in denen die Ursache der Gefahr auf Umständen beruht, die nicht in der direkten oder indirekten Verantwortung der staatlichen Behörde liegen oder die für sich genommen nicht die Standards von Art. 3 EMRK verletzen (vgl. EGMR, Urteil vom 27.5.2008 - 26565/05, N. ./. United Kingdom - HUDOC Rn. 32 m.w.N.). Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG muss hingegen nicht - wie das Verwaltungsgericht dies für § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. angenommen hat - "im Rahmen" eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts stattfinden. Lediglich für ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG kommt es darauf an, ob die danach erforderliche ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.

Für das Beweismaß zu Art. 3 EMRK, das auch bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG anzuwenden ist, verwendet der Gerichtshof den Begriff der tatsächlichen Gefahr ("real risk") (vgl. EGMR, Urteil vom 28.2.2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italy - HUDOC Rn. 125, 140). Dies entspricht dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a.a.O., Rn. 22). Dabei streitet für einen Ausländer, der in seinem Herkunftsland bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr wiederholen werden (BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a.a.O., Rn. 23).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Senat nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf Sange Shanda mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG droht.

a) Eine solche ist zunächst nicht in Form einer "Blutrache" zu befürchten. Der Senat ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch die Nachbarsfamilie veranlasste unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Racheakt für die Tötung eines ihrer Mitglieder durch den Vater des Klägers erleiden wird.

Für den Kläger greift nicht die tatsächliche Vermutung, dass sich eine vor der Ausreise erfolgte unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf wiederholen wird. Denn der Senat ist nicht davon überzeugt, dass der Kläger vor seiner Ausreise eine solche, durch Mitglieder der Nachbarsfamilie veranlasste Behandlung erfahren hat. Der Kläger hat nämlich auf wiederholte Nachfrage des Senats zu einem erlittenen Schaden zunächst erklärt, ihm habe lediglich eine Person gedroht, sie werde ihn schlagen, wenn sie ihn erwische; tatsächlich geschlagen worden sei er nicht. Erst auf Vorhalt, er habe gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angegeben, zweimal von Angehörigen der getöteten Person geschlagen worden zu sein, hat er diese Angabe bestätigt. Diese Erklärung hält der Senat - ungeachtet der Frage, inwieweit in dem behaupteten Schlagen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gesehen werden kann - für unglaubhaft. Denn der Kläger hat zu den angeblichen Vorfällen keine Einzelheiten nennen können. Seine auf Nachfrage erfolgte Angabe, er sei von einer einzigen Person geschlagen worden, steht zudem im Widerspruch zu seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, wo er angegeben hatte, zweimal von jeweils drei Personen geschlagen worden zu sein. An den in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht geschilderten Vorfall, er sei "drei, vier, fünf Jahre" nach der Tötung des Nachbarn "Mardan" durch seinen Vater in der Schule von Freunden des Neffen des getöteten "Mardan" derart geschlagen worden, dass er mehrere Zähne verloren habe, hat ihm in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren jede Erinnerung gefehlt. Auf mehrfache Nachfrage hat er vielmehr geäußert, einen Vorfall in einer Schule habe es nicht gegeben. Da ein Zusammenschlagen, das zum Verlust mehrerer Zähne führt, derart prägend ist, dass eine Erinnerung daran auch nach Jahren noch vorhanden sein müsste, geht der Senat davon aus, dass dieser Vorfall nicht stattfand. Dies gilt umso mehr, als dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren erläutert hat, er habe bereits ein bis zwei Monate nach dem Streit mit der Nachbarsfamilie das Land verlassen, was einem mehrere Jahre nach der Auseinandersetzung stattgefundenen Vorfall in einer Schule entgegensteht.

Der Senat ist auch nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch die Nachbarsfamilie veranlasste unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Vielmehr hat der Senat in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass der Kläger die inzwischen viele Jahre zurückliegende Auseinandersetzung zwischen seiner und der Nachbarsfamilie als abgeschlossen ansieht. Denn als maßgeblichen Beweggrund dafür, dass er Afghanistan verließ, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung zunächst nicht etwa die Angst vor einer "Blutrache" angeführt, sondern die damals sehr schlechte Sicherheitslage. Erst auf wiederholte Nachfrage des Senats ist er überhaupt auf den Streit mit der Nachbarsfamilie zu sprechen gekommen, wobei er unter anderem bemerkte "Was soll ich noch näher erzählen, es ist alles vorbei". Aus Sicht des Senats spricht entscheidend gegen eine dem Kläger im Fall der Rückkehr drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch die Nachbarsfamilie ferner, dass sich nach den Angaben des Klägers sein nur ein Jahr jüngerer Bruder seit dem Vorfall bis heute weiterhin in Sange Shanda aufhält, ohne dass Mitglieder der Nachbarsfamilie jemals ihn oder den Rest seiner dort verbliebenen Familie bedroht haben oder dort auch nur aufgetaucht sind.

b) Der Senat ist des Weiteren nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG wegen der von ihm geltend gemachten Konversion vom Islam zum Christentum droht.

Zwar hält es der Senat nach der aktuellen Erkenntnismittellage durchaus für möglich, dass afghanische Staatsangehörige, die vom Islam zum Christentum konvertiert sind, in Afghanistan unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgesetzt sein können, wenn sie dort ihren christlichen Glauben offen praktizieren oder aus Angst vor Übergriffen verleugnen oder verheimlichen und dadurch in erhebliche Gewissenskonflikte geraten. Denn eine Konversion wird in Afghanistan nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht, wenngleich die Todesstrafe wegen Konversion nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes bislang nie vollstreckt worden ist (Lagebericht vom 2.3.2015, S. 12). Zum Christentum konvertierte frühere Moslems sind in Afghanistan zudem durch die Taliban gefährdet, die jeden mit dem Tode bedrohen, der sich zum Christentum bekehrt (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6.8.2013, S. 52). Auch die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung ist afghanischen Konvertiten gegenüber offen feindselig gestimmt (USDOS, Afghanistan 2013 International Religious Freedom Report, S. 1, 3 f., 6 ff.; UNHCR-Richtlinien vom 6.8.2013, S. 50; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update von Okt. 2014, S. 17). Wer vom Islam zum Christentum übertritt, kann insbesondere in Dorfgemeinschaften der Gefahr von Repressionen aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld ausgesetzt sein (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 12); er muss mit massivem Druck und Diskriminierung bis hin zu gewaltsamen Übergriffen durch Familienangehörige, Freunde oder der Dorfgemeinschaft rechnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update von Okt. 2014, S. 17).

Der Senat ist jedoch nach der ausführlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass diesem infolge der geltend gemachten Konversion zum Christentum bei einer Rückkehr nach Afghanistan Repressionen oder erhebliche Gewissenskonflikte drohen. Denn der Senat hat nicht die Überzeugung zu gewinnen vermocht, dass der Kläger einen seine religiöse Identität prägenden Glaubenswechsel vollzogen hat, so dass weder zu erwarten ist, dass er in Afghanistan den christlichen Glauben praktizieren wird noch dass er in innerliche Konflikte geriete, wenn er dort von religiösen Betätigungen des christlichen Glaubens absähe.

Ein ernsthafter und nachhaltiger Glaubenswechsel des Klägers ist nicht bereits erwiesen durch seine Taufurkunde und die von ihm vorgelegte Bescheinigung des Pastors D., in der ausgeführt wird, der Kläger sei aus Überzeugung Christ geworden, sei in der persischchristlichen Gemeinde der St. E. -Kirche in F. geistlich heimisch geworden, habe nach und nach die christliche Botschaft durchdrungen und verstanden, studiere viel in der Bibel, habe mit dem persischen Prediger intensive Glaubensgespräche geführt, habe sich aus voller Überzeugung taufen lassen, sei ein aktiver Besucher der christlichen Kirche und führe nun selbst viele Glaubensgespräche. Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Verwaltungsgerichte sich bei der Prüfung der inneren Tatsache, ob eine Person eine ausgeübte oder unterdrückte religiöse Betätigung ihres Glaubens für sich selbst als verpflichtend zur Wahrung ihrer religiösen Identität empfindet, nicht auf eine Plausibilitätsprüfung hinreichend substantiierter Darlegung beschränken dürfen, sondern insoweit das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zugrunde zu legen haben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.8.2015 - 1 B 40.15 - Rn. 9 und 13). Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem eigenen Vorbringen des Asylbewerbers sowie durch Rückschlüsse von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen (BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 - Rn. 31; Beschluss vom 25.8.2015, a.a.O., Rn. 14).

Der Senat ist nach der ausführlichen Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass dieser religiöse Betätigungen des christlichen Glaubens als zur Wahrung seiner religiösen Identität verpflichtend empfindet:

Der Kläger hat ausgeführt, dass er eigentlich nicht habe Christ werden wollen, aber - nachdem er zwei Jahre lang nur in seinem Zimmer in der Asylbewerberunterkunft gesessen habe - in F. ein Kontakt zu Konvertiten entstanden sei, mit denen er sich nun regelmäßig an Samstagen nachmittags in der evangelischen St. E. -Kirche in F. treffe. Der Kreis bestehe aus 30 bis 35 Personen und werde von einem iranischen Pastor geleitet; ferner nähmen daran ein iranischer und ein afghanischer Pastor aus Hamburg teil. Es würden Gedichte gelesen, gesungen und gebetet. Jeder äußere seine Gedanken. Auch werde über die persönliche Vergangenheit geredet. Die Teilnehmer brächten Speisen mit, die gemeinsam im Anschluss verzehrt würden. Immer wenn er zu diesem Kreis gegangen sei und gebetet habe, hätten sich seine Probleme bis zum nächsten Treffen aufgelöst. An weiteren religiösen Veranstaltungen nehme er - abgesehen von Rasenmähen, Fensterputzen und Stühleeinsammeln - nicht teil.

Der Senat hat aufgrund dieser Beschreibungen zwar durchaus den Eindruck gewonnen, dass sich der Kläger in dem genannten Kreis wohlfühlt, weil er dort der Einsamkeit der Asylbewerberunterkunft entzogen ist und sich in angenehmer Atmosphäre mit Personen austauschen kann, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie er selbst. Er ist aber nicht davon überzeugt, dass sich der Kläger dem christlichen Glauben tatsächlich in einer von ihm innerlich als verpflichtend empfundenen Weise zugewendet hat. Der Senat hat nicht den Eindruck gewonnen, dass die Taufe für den Kläger persönlich von prägender Bedeutung gewesen ist. Zwar hat er einen allgemeinen Bezug der Taufe zur Reinigung von religiös definierter Schuld (Sünde) herzustellen vermocht. Auf die Frage, was die Taufe für ihn persönlich bedeute, hat sich seine Antwort jedoch darin erschöpft, dass ein Blinder und ein Kranker geheilt würden. Der Kläger ist auch nicht in der Lage gewesen, den Taufspruch zu seiner nur etwa ein Dreivierteljahr zurückliegenden Taufe wiederzugeben. Als ihm dieser aus seiner Taufurkunde vorgelesen wurde, hat er angegeben, den Spruch nicht zu kennen; sein Taufspruch müsse ein anderer sein. Die Befragung des Klägers hat darüber hinaus ergeben, dass er die wesentlichen christlichen Feierlichkeiten weder begeht noch mit ihrer Bedeutung vertraut ist. So hat er auf Nachfrage erklärt, die Bedeutung des Osterfestes müsse er noch lernen. Weihnachten sei für ihn Neujahr. Auf die Frage, wie er Weihnachten nach seiner Taufe am 15. November 2014 gefeiert habe, hat er erwidert, Neujahr habe er "mit Knallen und Ballern" gefeiert. Zu dem in der Bescheinigung des Pastors D. vom 1. August 2015 angesprochenen Bibelstudium befragt, hat er angegeben, das Alte Testament bereits gelesen zu haben und das Neue Testament erst in der kommenden Woche zu erhalten. Angesprochen auf "Moses" - eine der Zentralfiguren im Alten Testament - hat er allerdings einräumen müssen, diesen nicht zu kennen. Auch die christlichen Kerngebete sind dem Kläger gänzlich unbekannt. Er hat keines zu nennen vermocht und hat auf konkrete Nachfrage erklärt, weder das "Vater unser" noch das Glaubensbekenntnis zu kennen. Die zehn Gebote sind für ihn ebenfalls kein Begriff gewesen. Schließlich hat der Kläger nicht einmal mit hinreichender Sicherheit die Frage des Senats beantworten können, ob es sich bei den samstäglichen Treffen um Gottesdienste handele; er hat hierzu angegeben, es werde dort gebetet, die Fragen des Senats könne er nach 10 bis 15 Jahren genau beantworten. Diese Äußerungen reichen in ihrer Gesamtschau nicht aus, um eine ernsthafte und nachhaltige innere Hinwendung des Klägers zum Christentum anzunehmen.

Es besteht auch kein Anhalt für die Annahme, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf allein aufgrund des Umstands seiner formal vollzogenen Taufe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Denn es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass der bloße Umstand seiner Taufe Personen mit Ausnahme seiner Mutter überhaupt bekannt ist. So hat der Kläger angegeben, seine Familie - womit er seine Mutter meine - habe "keine Probleme mehr damit". Die Befürchtung des Klägers, natürlich würden im Fall seiner Rückkehr auch die übrigen Leute in Afghanistan erfahren, dass er Christ sei, denn wenn man "einen Stift hochhebe", wüssten alle, was man damit schreiben wolle, teilt der Senat nicht. Denn mangels eines ernsthaften inneren Glaubenswechsels besteht für den Kläger keinerlei Veranlassung, Personen außerhalb seiner Familie über seine Taufe zu informieren und / oder eine christliche Lebensweise zu praktizieren. Angesichts der beschriebenen Erkenntnismittellage ist auch nicht damit zu rechnen, dass der Umstand seiner Taufe seitens seiner Mutter verbreitet wird.

c) Nach Ansicht des Senats droht dem Kläger im Distrikt Jaghori der Provinz Ghazni, wo sich sein Heimatdorf Sange Shanda befindet, auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder eine erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG aufgrund der allgemeinen Situation der Gewalt.

Eine allgemeine Situation der Gewalt im Abschiebezielstaat kann für sich genommen nur in Fällen ganz extremer allgemeiner Gewalt ("in the most extreme cases of general violence") eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nach sich ziehen, wenn eine tatsächliche Gefahr einer Fehlhandlung ("ill-treatment") infolge des bloßen Umstands der Anwesenheit im Zielstaat besteht ("where there is a risk of ill-treatment simply by virtue of an individual being exposed to such violence on return") (EGMR, Urteile vom 20.1.2009 - 32621/06, F.H./Sweden - HUDOC Rn. 90; vom 28.6.2011 - 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/United Kingdom - HUDOC Rn. 218 und 241; vom 29.1.2013 - 60367/10, S.H.H./United Kingdom - HUDOC Rn. 73 und 79; vom 9.4.2013 - 70073/10 und 44539/11, H. und B./United Kingdom - HUDOC Rn. 91 f.; vom 4.6.2015 - 59166/12, J.K. u.a./Sweden - HUDOC Rn. 53).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in jüngerer Zeit mehrfach angenommen, die allgemeine Lage in Afghanistan sei nicht als so ernst anzusehen, dass eine Abschiebung dorthin ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK wäre (vgl. EGMR, Urteile vom 20.7.2010 - 23505/09, N./Sweden - HUDOC Rn. 52; vom 13.10.2011 - 10611/09, Husseini/Sweden - HUDOC Rn. 84; vom 9.4.2013, a.a.O., Rn. 91 f.). Dieser Ansicht tritt der Senat unter Berücksichtigung der derzeitigen Erkenntnismittellage aus den nachfolgenden Erläuterungen unter 2. jedenfalls für den Distrikt Jaghori in der Provinz Ghazni bei.

2. Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger im Bezirk Jaghori in der Provinz Ghazni eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG droht.

Es kann offen bleiben, ob in diesem Gebiet zur Zeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Jedenfalls droht dem Kläger dort im Rahmen eines etwaigen solchen Konflikts keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass und unter welchen Voraussetzungen eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.) anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 24.6.2008 - 10 C 43.07 - Rn. 34 ff.; vom 27.4.2010 - 10 C 4.09 - Rn. 32 ff.; vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - Rn. 17 ff.; vom 13.2.2014 - 10 C 6.13 - Rn. 24; Beschluss vom 27.6.2013 - 10 B 11.13 - Rn. 7). Danach genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt (BVerwG, Urteil vom 13.2.2014, a.a.O., Rn. 24). Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG erfüllen (vgl. BVerwG, Urteile vom 24.6.2008, a.a.O., Rn. 34). Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist (BVerwG, Urteil vom 17.11.2010, a.a.O., Rn. 18 m.w.N.). Gefahrerhöhende individuelle Umstände dieser Art liegen beim Kläger nicht vor. Insbesondere ist ein nur formal dem Anschein nach vollzogener Glaubenswechsel, der nicht auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung und einer tatsächlichen Änderung der eigenen Glaubensvorstellungen beruht, kein im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG zu beachtender gefahrerhöhender persönlicher Umstand. In einem solchen Fall besteht jedenfalls dann kein Grund für die Annahme, dass der Ausländer bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Religionsausübung Übergriffen oder Einschränkungen ausgesetzt sein könnte, wenn der lediglich formale Glaubenswechsel - wie hier - in Afghanistan nicht bekannt geworden ist bzw. bei einer Rückkehr nicht bekannt werden wird (vgl. Senatsbeschluss vom 17.4.2015 - 9 LA 89/14 -). Andere gefahrerhöhende individuelle Umstände sind weder vom Kläger dargetan worden noch sonst ersichtlich.

Fehlen - wie hier - individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a.a.O., Rn. 18 m.w.N.). Erforderlich ist insoweit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a.a.O., Rn. 18 m.w.N.). Für die individuelle Betroffenheit von der Gefahr bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, zu umfassen hat, sowie einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.11.2011, a.a.O., Rn. 23; vom 13.2.2014, a.a.O., Rn. 24). Allerdings sieht das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls ein Risiko von 1:800 (0,125 %), in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.) nichts zu ändern vermag (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, a.a.O., Rn. 23).

Hiervon ausgehend ergibt sich aus der aktuellen Erkenntnismittellage, dass die Situation im Distrikt Jaghori in der Provinz Ghazhi nicht durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer dortigen Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Denn die Wahrscheinlichkeit, dort als Zivilperson durch Akte willkürlicher Gewalt verletzt oder getötet zu werden, liegt unterhalb des vom Bundesverwaltungsgericht für weit von der Erheblichkeitsschwelle entfernt erachteten Risikos von 0,125 %:

Landesweit verzeichnet die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) für die Jahre 2010 bis 2014 folgende Zahlen getöteter und verletzter Zivilpersonen:

JahrGetötete ZivilistenVerletzte ZivilistenGesamtErkenntnismittel
20102.7904.3687.158Annual Report 2011 von Feb. 2012, S. 3
20113.1314.7067.837Annual Report 2012 von Feb. 2013, S. 1 Fn. 20
20122.7684.8217.589Annual Report 2013 von Feb. 2014, S. 1 Fn. 26
20132.9695.6688.637Annual Report 2014 von Feb. 2015, S. 1 Fn. 2
20143.6996.84910.548Annual Report 2014 von Feb. 2015, S. 1

Für die erste Jahreshälfte 2015 verzeichnet die UNAMA landesweit 1.592 getötete und 3.329 verletzte Zivilpersonen (insgesamt 4.921 getötete und verletzte Zivilpersonen), was bei einer Verdopplung zu folgenden geschätzten Zahlen für 2015 führt:

JahrGetötete ZivilistenVerletzte ZivilistenGesamtQuelle
20153.1846.6589.842Verdopplung der im UNAMA Midyear Report 2014 von Aug. 2015 auf S. 1 genannten Zahlen

Rückschlüsse auf die ungefähre Anzahl getöteter und verletzter Zivilpersonen in der Provinz Ghazni in den Jahren 2010 bis 2015 können unter Berücksichtigung weiterer Erkenntnisse zur Anzahl getöteter Zivilpersonen in bestimmten Regionen und zur Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in den einzelnen Provinzen gezogen werden:

Im Jahr 2010 wurden laut UNAMA in der Süd-Ost-Region - bestehend aus den Provinzen Ghazni, Khost, Paktika and Paktya (vgl. UNAMA Annual Report 2010 von März 2011, S. ii Fn. 9) - 513 Zivilpersonen getötet (UNAMA Annual Report 2010 von März 2011, S. xi). Nach den Erkenntnissen des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) gab es im Jahr 2010 in der Provinz Ghazni 1.544, in der Provinz Khost 910, in der Provinz Paktika 898 und in der Provinz Paktya 490 Angriffe Aufständischer (ANSO, Quarterly Data Report 2011 Q4, S. 11). Danach entfielen ca. 40,19 % der Angriffe Aufständischer in diesen Provinzen auf die Provinz Ghazni (1.544 ./. 3.842). Wird dieser Prozentsatz auf die o.g. Zahl von 513 Todesopfern angewandt, so ist für die Provinz Ghazni von ca. 207 getöteten Zivilpersonen im Jahr 2010 auszugehen (40,19 % von 513). Eine etwas höhere Zahl ergibt sich, wenn statt auf die Anzahl der Angriffe Aufständischer auf die Bevölkerungszahlen in den genannten Provinzen abgestellt wird: Nach den Schätzungen der Central Statistics Organization (CSO) der Islamischen Republik Afghanistan (veröffentlicht unter http://cso.gov.af/en) ist für das Jahr 2010 von folgenden Zahlen zur sesshaften Bevölkerung (ohne Nomaden) auszugehen: Ghazni: 1.111.300, Khost: 520.200, Paktika: 393.800, Paktya: 499.200 (vgl. CSO, Settled Population by Civil Division, Urban and Rural and Sex 2009-10). Danach betrug im Jahr 2010 der Anteil der Bevölkerung in Ghazni ca. 44 % der Gesamtbevölkerung dieser vier Regionen (1.111.300 ./. 2.524.500). Hiervon ausgehend ergibt sich für das Jahr 2010 eine geschätzte Anzahl von 226 getöteten Zivilpersonen in der Provinz Ghazni (44 % von 513). Ausgehend von dieser etwas höheren Zahl und unter Berücksichtigung des sich aus den Erhebungen der UNAMA ergebenden landesweiten Verhältnisses der verletzten zu den getöteten Zivilpersonen im Jahr 2010 ist von etwa 354 in der Provinz Ghazni verletzten Zivilpersonen im Jahre 2010 auszugehen (226 x 1,5655913).

Im Jahr 2011 wurden laut UNAMA in den Provinzen Khost, Paktika, Ghazni, Kunar und Nangahar insgesamt 446 Zivilpersonen getötet (UNAMA Annual Report 2011 von Februar 2012, S. 5). Nach den Erkenntnissen des ANSO gab es im Jahr 2011 in der Provinz Khost 1.106, in der Provinz Paktika 1.193; in der Provinz Ghazni 1.679, in der Provinz Kunar 1.280 und in der Provinz Nangahar 551 Angriffe Aufständischer (ANSO, Quarterly Data Report 2011 Q4, S. 11). Danach entfielen ca. 28,9 % der Angriffe Aufständischer in diesen Provinzen auf die Provinz Ghazni (1.679 ./. 5.809). Wird dieser Prozentsatz auf die o.g. Zahl von 446 Todesopfern angewandt, so ist für die Provinz Ghazni von ca. 129 getöteten Zivilpersonen im Jahr 2011 auszugehen (28,9 % von 446). Eine etwas höhere Zahl ergibt sich, wenn statt auf die Anzahl der Angriffe Aufständischer auf die Bevölkerungszahlen in den genannten Provinzen abgestellt wird: Nach den Schätzungen der CSO zur sesshaften Bevölkerung (veröffentlicht unter http://cso.gov.af/en) ist für das Jahr 2011 für die genannten Provinzen von folgenden Bevölkerungszahlen auszugehen: Khost: 528.900, Paktika: 400.500, Ghazni: 1.130.100, Kunar: 414.700, Nangahar: 1.383.900 (vgl. CSO, Settled Population by Province 2010-11). Danach betrug der Anteil der Bevölkerung in Ghazni im Jahr 2011 ca. 29,29 % der Gesamtbevölkerung dieser fünf Provinzen (1.130.100 ./. 3.858.100). Hiervon ausgehend ergibt sich für das Jahr 2011 eine geschätzte Anzahl von 131 getöteten Zivilpersonen in der Provinz Ghazni (29,29 % von 446). Ausgehend von dieser etwas höheren Zahl und unter Berücksichtigung des sich aus den Erhebungen der UNAMA ergebenden landesweiten Verhältnisses der verletzten zu den getöteten Zivilpersonen im Jahr 2011 ist von etwa 197 in der Provinz Ghazni verletzten Zivilpersonen im Jahre 2011 auszugehen (131 x 1,5030341).

Im Jahr 2012 gab es nach den Erkenntnissen des ANSO landesweit 21.784 sicherheitsrelevante Zwischenfälle einschließlich solcher der Aufständischen, der internationalen und afghanischen Sicherheitskräfte, der Nichtregierungsorganisationen und der allgemeinen Kriminalität, davon 1.531 - also ca. 7,03 % - in der Provinz Ghazni (ANSO, Quarterly Data Report 2012 Q4, S. 13). Eine Anwendung dieses Prozentsatzes auf die von der UNAMA für das Jahr 2012 verzeichneten landesweit 2.768 getöteten und 4.821 verletzten Zivilpersonen führt zu einer geschätzten Anzahl von 195 getöteten und 339 verletzten Zivilpersonen in der Provinz Ghazni im Jahr 2012.

Im ersten Quartal des Jahres 2013 gab es nach den Erkenntnissen des ANSO landesweit 2.405 sowie in der Provinz Ghazni 192 verübte Angriffe Aufständischer (ANSO, Quarterly Data Report 2013 Q1, S. 10). Danach haben 7,98 % aller im ersten Quartal 2013 landesweit verübten Angriffe Aufständischer in der Provinz Ghazni stattgefunden. Wendet man mangels Erkenntnissen zu anderen Arten sicherheitsrelevanter Zwischenfälle, die im Jahr 2013 zu getöteten und verletzten Zivilpersonen geführt haben, diesen Prozentsatz auf die von der UNAMA für das Jahr 2013 landesweit verzeichneten 2.969 getöteten und 5.668 verletzten Zivilpersonen an, so führt dies zu einer geschätzten Anzahl von 237 getöteten und 453 verletzten Zivilpersonen in der Provinz Ghazni im Jahr 2013.

Im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Oktober 2014 gab es nach den Erkenntnissen des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) landesweit 18.443 sicherheitsrelevante Zwischenfälle (Entführungen, Luftangriffe, bewaffnete Auseinandersetzungen, Verhaftungen, Tötungen, versuchte Tötungen, Waffenlager, Kriminalität, Demonstrationen, detonierte und entdeckte unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, Einschüchterungen, Landminen, Drogen, Selbstmordattentate und "Stand-Off"-Angriffe), davon 1.257 - also ca. 6,82 % - in der Provinz Ghazni (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan: Security Situation, Januar 2015, S. 32 und S. 85). Hochgerechnet auf das Jahr 2014 entspricht dies landesweit 22.132 sicherheitsrelevanten Zwischenfällen, davon 1.509 - ca. 6,82 % - in der Provinz Ghazni. Eine Anwendung des genannten Prozentsatzes auf die von der UNAMA verzeichneten Zahlen der im Jahr 2014 landesweit 3.699 getöteten und 6.849 verletzten Zivilpersonen führt zu einer geschätzten Anzahl von 253 getöteten und 468 verletzten Zivilpersonen in der Provinz Ghazni im Jahr 2014.

Für das Jahr 2015 ist mangels anderweitiger Erkenntnisse - wie für das Jahr 2014 - von einem Anteil von ca. 6,82 % an den landesweit stattgefundenen sicherheitsrelevanten Zwischenfällen auszugehen. Eine Anwendung dieses Prozentsatzes auf die für das Jahr 2015 anhand der von der UNAMA für das erste Halbjahr 2015 verzeichneten und auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechneten Zahlen der landesweit voraussichtlich etwa 3.184 getöteten und 6.658 verletzten Zivilpersonen führt zu einer geschätzten, hochgerechneten Anzahl von 218 getöteten und 455 verletzten Zivilpersonen in der Provinz Ghazni im Jahr 2015.

Zusammengefasst ist damit für die Jahre 2010 bis 2015 von folgenden geschätzten Zahlen der in der Provinz Ghazni getöteten und verletzten Zivilpersonen auszugehen:

Jahrgetötete Zivilisten (Provinz Ghazni)verletzte Zivilisten (Provinz Ghazni)Gesamtzahl getöteter und verletzter Zivilisten (Provinz Ghazni)
2010226354580
2011131197328
2012195339534
2013237453690
2014253468721
2015218455673

Nach den Schätzungen der CSO (veröffentlicht unter http://cso.gov.af/en) ist von folgenden Bevölkerungszahlen (ohne Nomaden) in der Provinz Ghazni in den Jahren 2010 bis 2015 auszugehen:

JahrSesshafte Bevölkerung in der Provinz GhazniSchätzung der CSO
20101.111.200Settled Population by Civil Division, Urban, Rural and Sex 2009-10
20111.130.100Settled Population by Province 2010-11, Afghanistan Statistical Yearbook
20121.149.400Settled Population by Civil Division, Urban, Rural and Sex 2011-12
20131.168.800Settled Population by Province 2012-13, Afghanistan Statistical Yearbook
20141.188.600Settled Population by Civil Division, Urban, Rural and Sex 2013-14
20151.208.600Settled Population by Civil Division, Urban, Rural and Sex 2014-15

Ausgehend hiervon ergibt sich für die Jahre 2010 bis 2015 folgende ungefähre Wahrscheinlichkeit, in der Provinz Ghazni infolge eines Akts willkürlicher Gewalt als Zivilperson getötet oder verletzt zu werden:

2010:580 ./. 1.111.200 = 0,05219 %
2011: 328 ./. 1.130.100 = 0,02902 %
2012: 534 ./. 1.149.400 = 0,04645 %
2013: 690 ./. 1.168.800 = 0,05903 %
2014: 721 ./. 1.188.600 = 0,06065 %
2015: 673 ./. 1.228.831 = 0,05476 %

Der Senat hält die bei den Berechnungen zugrunde gelegten Anteile der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle, die in der Provinz Ghazni stattfanden, an den landesweit aufgetretenen sicherheitsrelevanten Zwischenfällen für relativ genau. Denn die diesbezüglichen Erkenntnisse des EASO für das Jahr 2014 beruhen nicht nur auf einer umfassenden Auswertung von Medienberichten für den Referenzzeitraum von Januar bis September 2014, sondern zudem auf den Angaben mehrerer Kontaktpersonen, deren Identität aus Sicherheitsgründen zwar nicht preisgegeben wird, von denen aber diejenige Kontaktperson, von der die detaillierten Angaben zur Anzahl und zur Art der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle in den einzelnen Provinzen stammen, als "in hohem Maße verlässlich" ("highly reliable") bezeichnet wird (vgl. S. 12 des Reports des EASO). Der für die Vorjahre anhand der Angaben des ANSO ermittelte ungefähre Anteil der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle, die in der Provinz Ghazni stattfanden, an den landesweit aufgetretenen sicherheitsrelevanten Zwischenfällen bewegt sich im Bereich des für das Jahr 2014 ermittelten Anteils. Selbst wenn das ANSO nicht alle sicherheitsrelevanten Zwischenfälle erfasst haben sollte, würden sich die nicht erfassten Vorfälle höchstwahrscheinlich auf alle Provinzen verteilen, so dass der geschätzte Anteil der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle in der Provinz Ghazni an den landesweit aufgetretenen sicherheitsrelevanten Zwischenfällen keine großen Abweichungen erfahren dürfte.

Jedoch dürfte zu der von der UNAMA registrierten Anzahl toter und verletzter Zivilpersonen eine erhebliche Dunkelziffer hinzutreten. Denn die UNAMA verzeichnet in den Annual Reports nur dann verletzte und getötete Zivilisten, wenn der betreffende Vorfall mindestens durch drei Quellen bestätigt wurde (vgl. UNAMA Midyear-Report 2015, S. i. "Methodology"). Die Höhe der anzusetzenden Dunkelziffer lässt sich naturgemäß schwer bestimmen. Andere Obergerichte halten auf der Grundlage einer Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Danesch an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 3. September 2013 im Verfahren 8 A 119/12.A einen Faktor von 1:3 nicht für unrealistisch (vgl. HessVGH, Urteil vom 30.1.2014 - 8 A 119/12.A - Rn. 40; OVG NRW, Urteil vom 26.8.2014 - 13 A 2998/11.A - Rn. 151 f.; Beschluss vom 10.9.2014 - 13 A 729/14.A - Rn. 16). Bei einer Verdreifachung der von der UNAMA verzeichneten Anzahl getöteter und verletzter Zivilpersonen wäre für die Jahre 2010 bis 2015 in etwa von folgenden Wahrscheinlichkeiten auszugehen, in der Provinz Ghazni als Zivilperson durch einen Akt willkürlicher Gewalt getötet oder verletzt zu werden:

2010: 580 x 3 ./. 1.111.200 = 0,15658 %
2011:328 x 3 ./. 1.130.100 = 0,08707 %
2012: 534 x 3 ./. 1.149.400 = 0,13937 %
2013: 690 x 3 ./. 1.168.800 = 0,17710 %
2014: 721 x 3 ./. 1.188.600 = 0,18197 %
2015: 673 x 3 ./. 1.228.831 = 0,16430 %

Diese auf die gesamte Provinz Ghazni bezogenen ungefähren Wahrscheinlichkeitswerte bewegen sich zwar mit Ausnahme des Wertes für das Jahr 2011 oberhalb des vom Bundesverwaltungsgericht für weit von der Erheblichkeitsschwelle entfernt erachteten Risikos von 0,125 %.

Jedoch ist für den Distrikt Jaghorie in der Provinz Ghazni, aus dem der Kläger stammt, von einer Wahrscheinlichkeit von unter 0,125 % auszugehen, als Zivilperson durch einen Akt willkürlicher Gewalt getötet oder verletzt zu werden. Denn nach den Angaben der Kooperation Asylwesen Deutschland-Österreich-Schweiz von März 2011 ist die Provinz Ghazni ein Beispiel dafür, dass die Sicherheitslage innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich ist; der Distrikt Jaghori ist danach als sicher einzustufen (D-A-CH Kooperation Asylwesen, Sicherheitslage in Afghanistan, März 2011, S. 8). Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat Ende 2011 die Sicherheitslage in denjenigen Distrikten der Provinz Ghazni, in denen die Hazara die Mehrheit oder eine größere Minderheit darstellen - darunter der Distrikt Jaghori - als vergleichsweise stabil beschrieben (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung vom 24.11.2011, S. 10). Damit in Einklang stehen die Erkenntnisse des EASO, die - wie ausgeführt - auf einer als "in hohem Maße verlässlich" beschriebener Quelle beruhen, dass von den 1.257 sicherheitsrelevanten Zwischenfällen, die für die Provinz Ghazni im Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Oktober 2014 erfasst wurden, lediglich ein einziger Zwischenfall in Form der Aufdeckung eines Waffenlagers im Distrikt Jaghori stattfand (vgl. EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan: Security Situation, Jan. 2015, S. 85).

Der Kläger kann sein Heimatdorf Sange Shanda im Distrikt Jaghori vom Flughafen Ghazni aus auch erreichen, ohne solche Gebiete in der Provinz Ghazni durchqueren zu müssen, in denen von einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 0,125 % auszugehen ist, als Zivilperson durch einen Akt willkürlicher Gewalt getötet oder verletzt zu werden. Nach den Erkenntnissen des EASO fand mehr als die Hälfte der 1.257 in der Provinz Ghazni im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Oktober 2014 aufgetretenen sicherheitsrelevanten Zwischenfälle in den Distrikten Ghazni (278), Andar (250) und Qarabagh (186) statt (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan: Security Situation, Jan. 2015, S. 84). Dort verläuft der sog. "Kabul-Kandahar-Highway". Dem Bericht des EASO ist zu entnehmen, dass die Provinz Ghazni von zahlreichen Handlungen Aufständischer geprägt ist, welche gewöhnlich Regierungsbeamte und Arbeitnehmer angreifen, die sich auf dem "Kabul-Kandahar-Highway" bewegen (EASO, a.a.O.). Die Distrikte Andar und Qarabagh kann der Kläger auf der Rückreise in sein Heimatdorf vollständig meiden. Im Distrikt Ghazni, wo sich der Flughafen Ghazni befindet, ist er nicht gezwungen, den "Kabul-Kandahar-Highway" zu befahren. Er kann Sange Shanda vielmehr auch erreichen, indem er vom Flughafen Ghazni aus die westwärts verlaufende Route durch die Distrikte Jaghatu und Nawur wählt, in denen sich im Zeitraum 1. Januar bis 31. Oktober 2014 nach den Erkenntnissen des EASO mit 32 bzw. 2 sicherheitsrelevanten Zwischenfällen insgesamt nur 2,7 % aller in der Provinz Ghazni aufgetretenen sicherheitsrelevanten Zwischenfälle ereigneten (EASO, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG.