Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 26.09.2022, Az.: 3 A 683/17
Abschiebungshindernis; Abschiebungsverbot; Benadir; humanitäre Lage; Sicherheitslage; Somalia
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 26.09.2022
- Aktenzeichen
- 3 A 683/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 59663
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 AsylVfG 1992
- § 4 AsylVfG 1992
- § 60 Abs 5 AufenthG
- Art 3 MRK
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Sicherheitslage in Benadir (Mogadischu) hat derzeit ein Stabilitätsniveau, welches eine Bedrohungslage im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und damit auch die Ge-fahr, deswegen einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, jedenfalls für Personen ohne besondere gefahrerhöhende Umstände ausschließt.
2. Einzelfallentscheidung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen in Somalia (hier: junger Mann ohne tragfähiges soziales Netzwerk).
Tatbestand:
Der 24-jährige Kläger ist nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, islamischen Glaubens und dem Clan der Hawiye (Sub-Clan Badi-Ade) angehörend. Er reiste nach eigenen Angaben im April 2014 im Alter von 15 Jahren aus seinem Heimatland aus und erreichte die Bundesrepublik im Oktober 2015 auf dem Landweg. Hier stellte er am 03.02.2016 einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 27.09.2017 gab der Kläger an, er habe in Somalia zuletzt in einer Kleinstadt in der Region Hiiraan in Zentalsomalia gelebt. Im Jahr 2013 habe er an einem Fußballturnier in der Stadt Jalalaqsi teilgenommen. Dort seien er und andere Spieler von al-Shabaab-Milizionären überfallen und entführt worden. Aus ihrem Gefängnis hätten sie entkommen und in ihre Heimatstadt zurückkehren können. Sein Vater habe ihn zunächst bei einem Freund versteckt, nach zwei Tagen sei er zu Fuß nach Jalalaqsi gelaufen. Von dort sei er mit dem LKW nach Mogadischu gefahren. Von Mogadischu sei er nach Dolow an der Grenze zu Äthiopien gegangen, dort habe er vier oder fünf Monate bei einer islamischen Sekte namens Timoweyn unbehelligt gelebt. Als die Sekte von al-Shabaab angegriffen worden sei, sei er ausgereist. In Somalia lebten im Heimatort noch seine Eltern, zwei Brüder, zwei Schwestern. Außerdem habe er Großfamilie dort. Er habe Angst, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatgebiet von al-Shabaab getötet werde. Die Ausreise habe er durch 350 US-Dollar, die er von seinem Vater bekommen habe, und „Sklavenarbeit“ in Libyen finanziert. Er habe in Somalia bis zur 7. Klasse die Schule besucht und seinem Vater bei dessen Arbeit, dem Verkauf von Wasser, geholfen.
Mit Bescheid vom 26.10.2017, dem Kläger zugestellt am 28.10.2017, lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz ab (Ziffern 1 bis 3) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 4). Zudem forderte sie den Kläger zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung nach Somalia androhte (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen an, Entführungen durch al-Shabaab fänden wahllos und nicht in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal statt. Dass al-Shabaab bei Rückkehr des Klägers gerade ihn suchen sollte, um ihm Leid zuzufügen, sei nicht ersichtlich. In Zentralsomalia bestehe zwar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Jedenfalls sei der Kläger als gesunder, arbeitsfähiger junger Mann aber auf eine interne Schutzmöglichkeit in der Republik Somaliland oder in Puntland zu verweisen. Sein Existenzminimum könne er dort durch Gelegenheitsarbeiten und Unterstützung seitens der Familie (wie in der Vergangenheit) decken.
Dagegen hat der Kläger am 10.11.2017 fristgerecht Klage erhoben. Zur Begründung bezieht er sich auf seine Angaben in der Anhörung beim Bundesamt und trägt ergänzend vor, ihm drohe bei seiner Rückkehr Verfolgung durch die al-Shabaab-Miliz. Sichere Landesteile gebe es insoweit nicht. Selbst wenn es solche gäbe, sei ihm eine Rückkehr nicht zumutbar, weil er mit den Gegebenheiten in seinem Herkunftsland inzwischen nicht mehr vertraut sei. Jedenfalls sei ihm aufgrund des innerstaatlichen Konflikts in Somalia subsidiärer Schutz zu gewähren. Wegen regelmäßiger Hungersnöte sei zumindest ein Abschiebungsverbot festzustellen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids vom 26.10.2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den Staat Somalia festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihren Bescheid.
Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung ergänzend zu seinem Fluchtschicksal befragt. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Akten der Beklagten und der Ausländerakten des Landkreises B-Stadt Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie die Erkenntnismittel, die sich aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ergeben.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist mit dem zweiten Hilfsantrag begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Im Übrigen ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 26.10.2017 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Einzelrichterin legt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zugrunde.
I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG, Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden: QRL) Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Nach § 3c AsylG, Art. 6 QRL kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG, Art. 8 QRL nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.
Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Eine solche Gefahr kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, juris Rn. 14; VGH München, Beschluss vom 03.06.2016 - 9 ZB 12.30404 -, juris Rn. 5). Erforderlich ist demnach eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung, die – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraussetzt, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Diese Verfolgung muss landesweit drohen (VGH München, Beschluss vom 03.06.2016 - 9 ZB 12.30404 -, juris Rn. 5).
Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 - 9 C 32.87 -; BVerfG, Beschluss vom 29.11.1990 - 2 BvR 1095/90 -, jeweils juris). Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, juris).
Ausgehend von diesen Grundsätzen und unter Würdigung des Vorbringens des Klägers steht ihm kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist. Rekrutiert werden von al-Shabaab vor allem männliche Jugendliche und junge Männer, aber auch Menschen allen Alters und Frauen (EASO, Somalia, Targeted profiles, Country of Origin Information Report, September 2021 [im Folgenden: Targeted profiles], S. 18). Wird die Entführung des Klägers als wahr unterstellt, erfolgte sie - wie im Bescheid ausgeführt - wahllos und nicht in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal.
Im Fall der Rückkehr droht dem Kläger keine Verfolgung durch al-Shabaab wegen Desertion. Deserteure von al-Shabaab riskieren, von dieser Gruppe gefangen genommen oder getötet zu werden. Al-Shabaab versucht, Abtrünnige, die sie erreichen kann, zu bestrafen, um abschreckende Beispiele zu schaffen. Es ist unwahrscheinlich, dass Deserteure niederer Ränge über lange Entfernungen verfolgt werden (EASO, Targeted profiles, S. 27 ff.; EUAA, Country Guidance: Somalia, Juni 2022 [im Folgenden: Country Guidance], S. 86 f.). Dass einem einzelnen Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht, ist eher eine theoretische Möglichkeit (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 27.07.2022 [im Folgenden: Länderinformation], S. 103). Im Fall des Klägers ist davon auszugehen, dass al-Shabaab nicht mehr bekannt ist, dass er von ihr entführt wurde und anschließend geflohen ist. Nach eigenen Anhaben war der Kläger nicht einmal 24 Stunden in Gefangenschaft, sondern konnte zusammen mit den wahllos Mitgefangenen nach wenigen Stunden fliehen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Milizen ihn wiedererkennen und zuordnen können.
Eine Zwangsrekrutierung des jungen, erwachsenen Klägers durch al-Shabaab im Fall seiner Rückkehr ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich:
Zwangsrekrutierungen kommen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al-Shabaab vor. Dort kommt Zwang etwa dann zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Al-Shabaab versucht in ihrem Hauptrekrutierungsbereich in Süd-/Zentralsomalia in erster Linie, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung sowie finanzielle Versprechen anzulocken (BFA, Länderinformation, S. 43, 101 f.; EASO, Somalia, Targeted profiles, S. 19-23). Die Region Hiiraan steht in Teilen unter der Kontrolle von al-Shabaab, insbesondere ihre größeren Städte stehen unter mindestens gemischter Kontrolle von al-Shabaab und AMNISOM/Regierungsstreitkräften (vgl. EUAA, Country Guidance, S. 16/62; BFA, Länderinformation, S. 48 f.). Nach den vorstehenden Ausführungen kommen Zwangsrekrutierungen ohnehin nur in besonderen Lagen zur Anwendung, deren Eintritt nicht vorhersehbar ist.
II. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Der Prüfung der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG ist - wie bei der Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Hat der Ausländer bereits einen ernsthaften Schaden erlitten, oder war er von einem solchen unmittelbar bedroht, kommt ihm auch hier die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, juris Rn. 27). Schließlich wird auch subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG).
Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich und es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass dem Kläger in Somalia einer der genannten ernsthaften Schäden drohen könnte.
Nach Überzeugung der Einzelrichterin droht ihm in seinem Herkunftsstaat nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG. Maßgeblich ist dabei die im Einzelfall individuell drohende Todesstrafe aufgrund eines gerichtlichen Urteils (Bergmann, in: ders./Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 4 Rn. 4). Tötungen durch nichtstaatliche Akteure wie al-Shabaab fallen demnach, selbst wenn sie ernsthaft drohen würden, nicht hierunter (VG Oldenburg, Urteil vom 26.07.2021 - 1 A 1011/18 -, UA S. 13 V.n.b.).
Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) droht dem Kläger nicht wegen einer individuellen Bedrohung durch al-Shabaab. Insoweit wird auf die Ausführungen zum Flüchtlingsschutz verweisen.
Mit Blick auf die humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen in Somalia ist dem Kläger kein subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen. Selbst wenn man annähme, dass die Schwelle des Art. 3 EMRK insoweit erreicht wäre (dazu unten), fehlte es an einer Verursachung durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 25.02.2021 - 4 LA 212/19 -, juris Rn. 8; VG Frankfurt Oder, Urteil vom 22.8.2019 - 2 K 1811/15.A -, juris Rn. 3 m.w.N.).
Auch die allgemeine Sicherheitslage es rechtfertigt nicht, bei erwachsenen Rückkehrern generell von einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK auszugehen. Insoweit wird auf die folgenden Ausführungen zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG verwiesen.
Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt begründet subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder die betroffene Region allein durch die Anwesenheit in dem Gebiet tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 -, juris Rn. 43). Der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, ist umso geringer, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Schutzsuchenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände zählen, aufgrund derer der Schutzsuchende als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09, Rn. 33; Nds. OVG, Urteil vom 05.12.2017 - 4 LB 50/16 -, Rn. 38; zum Vorstehenden insgesamt: VG Bremen, Urteil vom 15.06.2021 - 7 K 530/19 -, Rn. 38; jeweils juris).
Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, ist für die anzustellende Gefahrenprognose auf den Zielort der Abschiebung abzustellen, wobei als Zielort der Abschiebung in der Regel die Herkunftsregion anzusehen ist, in die der Betreffende typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 13 ff. m.w.N.; Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, Rn. 17; jeweils juris). Abzustellen sind daher im Fall des Klägers auf die Regionen Hiiraan (Herkunftsregion) und Benadir (auch: Banadir, Banaadir; entspricht der Hauptstadt Mogadischu) als gewöhnlichem Zielort von Rückführungen nach Somalia (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Somalia, 28.06.2022 [im Folgenden: Lagebericht], S. 25; Nds. OVG, Urteil vom 05.12.2017 - 4 LB 50/16 -, juris Rn. 57).
Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war bei der Ermittlung der Gefahrendichte eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in dem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Das Risiko von 1:800 bzw. 0,125 % als Zivilperson binnen eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, war dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines ihr drohenden Schadens entfernt, dass es einer (weiteren) wertenden Gesamtbetrachtung nicht bedurfte (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 f.).
Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass eine solche „Mindestschwelle“, die erreicht werden müsste, bevor eine umfassende Beurteilung des Einzelfalls vorgenommen wird, nicht unionsrechtskonform sei (EuGH, Urteil vom 10.06.2021 - C-901/19 -, juris Rn. 31 ff.). Eine solche quantitative Analyse – also ein hoher Anteil der von willkürlicher Gewalt betroffenen Zivilpersonen an der Gesamtbevölkerung einer Region – lasse zwar den Schluss zu, dass es in Zukunft weitere zivile Opfer geben könne (EuGH, a.a.O., Rn. 32); jedoch könne diese Feststellung nicht das einzige Kriterium sein. Die systematische Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums durch die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats (das angesichts der konkreten Schwierigkeit, objektive und unabhängige Informationsquellen nahe der Gebiete eines bewaffneten Konflikts zu ermitteln, im Hinblick auf seine Zuverlässigkeit fragwürdig sein könne), wie etwa eine Mindestzahl ziviler Opfer (Verletzte oder Tote), um die Gewährung subsidiären Schutzes zu verweigern, könne dazu führen, dass die nationalen Behörden die Gewährung internationalen Schutzes unter Verstoß gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bestimmung der Personen, die diesen subsidiären Schutz tatsächlich benötigen, verweigern (EuGH, a.a.O., Rn. 35). Diese Auslegung soll auch das „forum shopping“, also die gezielte Asylantragsstellung in einem Mitgliedstaat, der eine solche Schwelle nicht anwendet, verhindern (EuGH, a.a.O., Rn. 36). Zu den im Rahmen der folglich gebotenen umfassenden Wertung aller Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigenden Faktoren gehören insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH a.a.O. Rn. 43; s.a. BVerwG, Beschluss vom 13.12.2021 - 1 B 85.21 -, Rn 4; zum Vorstehenden insgesamt: VG Bremen, Urteil vom 15.06.2021 - 7 K 530/19 -, Rn. 40 f.; jeweils juris).
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen stellt sich die allgemeine Situation in Somalia aktuell im Wesentlichen wie folgt dar: Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne flächendeckende effektive Staatsgewalt. Es mag den Zustand eines „failed state“ überwunden haben, bleibt aber ein sehr fragiler Staat. Die Autorität der Zentralregierung wird vom nach Unabhängigkeit strebenden „Somaliland“ im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen al-Shabaab in Frage gestellt. Das Land zerfällt in zwei Teile, nämlich die föderalen Gliedstaaten Süd- und Zentralsomalias und „Somaliland“. In Süd- und Zentralsomalia herrscht in vielen Gebieten Bürgerkrieg; dort kämpfen die somalischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der Militärmission der Afrikanischen Union AMISOM gegen al-Shabaab. Die Gebiete sind nur teilweise unter der Kontrolle der Regierung, wobei zwischen der im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkten Kontrolle der somalischen Bundesregierung und der Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete durch die Regierungen der föderalen Gliedstaaten Somalias, die der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen, unterschieden werden muss. Weite Gebiete stehen unter der Kontrolle der al-Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. In den von ihnen kontrollierten Gebieten bilden die al-Shabaab-Kräfte ein de facto-Regime. In den von al-Shabaab befreiten Gebieten kommt es weiterhin zu Terroranschlägen durch die islamistische Miliz. In Mogadischu sind insbesondere seit Jahresbeginn 2022 nahezu täglich Anschläge durch al-Shabaab zu verzeichnen. Der Gliedstaat Puntland im Norden des Landes ist einer der fünf offiziellen föderalen Gliedstaaten Somalias, wenngleich mit größerer Autonomie und finanzieller Unabhängigkeit von der Bundesregierung. Es konnten einigermaßen stabile staatliche Strukturen etabliert werden. Al-Shabaab kontrolliert hier keine Gebiete mehr, verübt aber Anschläge. „Somaliland“ hat im somaliaweiten Vergleich das bislang größte Maß an Sicherheit, Stabilität und Entwicklung erreicht; hier kontrolliert die al-Shabaab keine Gebiete (Lagebericht, S. 4-6; BFA, Länderinformation, S. 5 ff.).
Es kann dahinstehen, ob für die Regionen Benadir (Mogadischu) und Hiiraan in Zentalsomalia ein innerstaatlicher-bewaffneter Konflikt anzunehmen ist. Denn die Sicherheitslage in Benadir (Mogadischu) und Hiiraan hat mittlerweile ein Stabilitätsniveau erreicht, welches eine Bedrohungslage im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und damit auch die Gefahr, deswegen einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, jedenfalls für Personen ohne besondere gefahrerhöhende Umstände ausschließt (zu Mogadischu bereits: Nds. OVG, Urteil vom 05.12.2017 - 4 LB 50/16 -, juris Rn. 57 m.w.N.; ebenso: VG Oldenburg, Urteil vom 26.07.2021 - 1 A 1011/18 - UA S. 16 f., V.n.b.; EUAA, Country Guidance, S. 154 zu Benadir bzw. S. 156 zu Hiiraan). Die Sicherheitslage in den Regionen Benadir und Hiiraan stellt sich nicht als derart gefährlich dar, dass sie sich unabhängig von persönlichen Merkmalen gegenüber jeder Zivilperson individualisiert. Die erforderliche Gefahrendichte ist – auch bei einer umfassenden qualitativen Bewertung – nicht gegeben:
Zunächst erscheint eine quantitative Bewertung der Gefahrendichte in Benadir mangels belastbarer aktueller Zahlen zu den Einwohnerzahlen einerseits und der Opferzahlen in Hinblick auf das Tötungs- und Verletzungsrisiko andererseits kaum verlässlich möglich (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2021 - A 13 S 3196/19 -, juris Rn. 48). Die letzte Volkszählung stammt aus dem Jahr 2014.
Für Gesamtsomalia (ohne Somaliland) wird von monatlich durchschnittlich 236 Vorfällen ausgegangen und die Gefahrendichte für zivile Opfer im Rahmen vom Hochrechnungen für die Jahre 2021 und 2022 bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 15,4 Millionen zwischen 1:9367 und 1:20.878 geschätzt (vgl. BFA, Länderinformation, S. 25, 30 - geringfügige Änderungen gegenüber BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Version 3, 21.10.2021 S. 25, 30 f.).
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen berichtet für den Zeitraum Januar 2020 bis April 2021 von 4.351 sicherheitsrelevanten Vorfällen in Gesamtsomalia. Nach den Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) wird für den Zeitraum Januar 2020 bis Juni 2021 von 3.663 Vorfällen mit 4.820 Todesfällen ausgegangen, von denen allerdings der größte Teil (2.976 Todesfälle) auf Kampfhandlungen („battles“) zurückgeführt wird (vgl. EASO, Somalia - Security situation, Country of Origin Information Report, September 2021, [im Folgenden: Security situation], S. 30 f.).
Die Belastbarkeit der Zahlen des ACLED-Projekts ist eingeschränkt. Denn sie erfassen nicht die verletzten Personen und geben auch keine exakte Auskunft zum Verhältnis von getöteten Zivilpersonen zu getöteten Nicht-Zivilisten. Dies ist im Rahmen der Prüfung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, die auf Gefahren für die Zivilbevölkerung abstellt, jedoch geboten. ACLED kategorisiert lediglich die Konfliktvorfälle in insbesondere Kämpfe (battles), Explosionen/Fernangriffe (explosions/remote violence), Gewalt gegen Zivilpersonen (violence against civilians), Proteste, strategische Entwicklungen und Ausschreitungen. Es ist davon auszugehen, dass in der Kategorien Kämpfe deutlich mehr Soldaten bzw. Kämpfer betroffen sind als Zivilisten. Andererseits muss davon ausgegangen werden, dass gerade bei getöteten Zivilpersonen im ländlichen Bereich Südsomalias und vor allem in Gebieten, die von al-Shabaab kontrolliert werden, eine erhebliche Dunkelziffer besteht. Daher stellt die aufgrund der ACLED-Auskünfte ermittelte Tötungsquote nur eine höchst annäherungsweise Abbildung des Risikos dar, als Teil der Zivilbevölkerung Opfer willkürlicher Gewalt in Somalia zu werden (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 05.12.2017 - 4 LB 50/16 -, juris Rn. 45; EASO, Security situation, S. 12 f., 31; ACCORD, Somalia 2021, Kurzübersicht über die Vorfälle aus dem ACLED-Projekt in 2021, 30.05.2022, S. 3).
Für die Region Benadir/Mogadischu werden bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 1,65 Millionen (2014) bzw. 2,39 Millionen (2021) für das Jahr 2021 535 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 549 Todesfällen und für das Jahr 2020 489 Vorfälle mit 429 Todesfällen berichtet, von denen der größte Teil auf Kämpfe und Explosionen/Fernangriffe zurückzuführen ist (vgl. EASO, Security situation, S. 88 ff.; ACCORD, Somalia 2021, Kurzübersicht über die Vorfälle aus dem ACLED-Projekt in 2021, 30.05.2022). Aus diesen Zahlen des ACLED-Projekts für 2021 und der geschätzten Bevölkerungszahl für 2021 ergibt sich hinsichtlich des Risikos, bei Vorfällen in der von ACLED erfassten Art zu Tode zu kommen, eine Quote von 1:4.353. Unter der Annahme eines Faktors von drei für nicht erfasste verletzte Zivilisten sowie eine darüber hinausgehende Dunkelziffer an Referenzfällen (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 97) kommt man zu einer Wahrscheinlichkeit von 1:1.450.
Für die Region Hiiraan werden bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 520.685 im Jahr 2014 für das Jahr 2021 163 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 194 Todesfällen und für das Jahr 2020 179 Vorfälle mit 169 Todesfällen berichtet, wobei hier der mit Abstand größte Anteil auf Kämpfe zurückzuführen ist (vgl. EASO, Security situation, S. 97 ff.; ACCORD, Somalia 2021, Kurzübersicht über die Vorfälle aus dem ACLED-Projekt in 2021, 30.05.2022). Aus diesen Zahlen des ACLED-Projekts für 2021 und der geschätzten Einwohnerzahl für 2014 ergibt sich eine Quote von 1:2.684 und unter Berücksichtigung des Faktors von drei eine Quote von 1:895.
Für Mogadischu ist die allgemeine Sicherheitslage trotz der aktuell zugespitzten politischen Krise und der gleichzeitig weiterhin hohen Bedrohung durch al -Shabaab zwar unverändert als volatil und sehr angespannt zu bezeichnen, eine aus dem Rahmen der vorangegangenen Jahre ausbrechende Verschlechterung kann aber derzeit jedenfalls im Hinblick auf die Opferzahlen auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse nicht festgestellt werden. Noch vor etwa zehn Jahren kontrollierte die al-Shabaab die Hälfte der Hauptstadt Mogadischu, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Grabenkämpfe war. Verglichen hiermit hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung seitdem verbessert (vgl. BFA, Länderinformation, S. 25 f.; 42, 45 ff.). Auch wenn sich in der Stadt die Sicherheit verbessert hat, kann al-Shabaab aber nach wie vor Anschläge durchführen; fast täglich kommt es zu Zwischenfällen im Zusammenhang mit al-Shabaab. Al-Shabaab ist im gesamten Stadtgebiet präsent, dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische. Relevante Verwaltungsstrukturen gelten als von al-Shabaab unterwandert und in Mogadischu betreibt al-Shabaab nahezu eine Schattenregierung: Betriebe werden eingeschüchtert und „besteuert“, Schutzgeld gefordert und eigene Gerichte sprechen Recht. Gleichwohl gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass al-Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. Dies würde allenfalls dann drohen, wenn AMISOM aus Mogadischu abziehen würde. Derzeit besteht in Mogadischu kein Risiko, von al-Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Al-Shabaab führt in Mogadischu auch größere Sprengstoffanschläge durch, bei denen auch Selbstmordattentäter zum Einsatz kommen. Üblicherweise zielt al-Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates („officials“), der ökonomischen und politischen Elite, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und Militärgebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM ab. Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al-Shabaab gleich unsicher. Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al-Shabaab. Al-Shabaab greift Zivilisten nicht spezifisch an. Diese leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al-Shabaab: Einerseits sind jene einem erhöhten Risiko ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al-Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden. Andererseits besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (vgl. BFA, Länderinformation, S. 42-44). Allerdings kalkuliert al-Shabaab wohl aus politischen Interessen die Schädigung und Tötung von Zivilisten mit ein (ACCORD, Somalia: Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer:innen; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure - Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 05.05.2021, 31.05.2021, S. 11, 14).
Im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtungsweise ist damit insbesondere zu berücksichtigen, dass zu den zivilen Opfern zu einem nicht unerheblichen Teil Personen mit erhöhten Gefährdungspotentialen zählen dürften. Bedingt durch die von al-Shabaab verfolgte Strategie der asymmetrischen Kriegsführung und der strategischen Auswahl der Anschlagsziele waren und sind bestimmte Berufsgruppen wie Regierungsmitarbeiter, Angehörige von AMISOM, Mitarbeiter internationaler bzw. westlicher Organisationen, Angehörige der Sicherheitskräfte bzw. generell mit der Regierung zusammenarbeitende Personen, Angehörige der politischen und ökonomischen Elite, Deserteure, mutmaßliche Spione und Kollaborateure in besonderer Weise betroffen. Auch wenn die al-Shabaab einige Menschen in Somalia als „legitime Ziele“ erachtet, gilt dies für die meisten Zivilisten nicht. Zivilisten können ihr Risiko, zufällig Opfer eines Anschlags („zur falschen Zeit am falschen Ort“) zu werden, zwar nicht ausschließen, zumindest aber verringern, indem sie Gebiete oder Einrichtungen meiden, die von al-Shabaab bevorzugt angegriffen werden. Dazu gehören insbesondere Hotels und Restaurants, in denen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder oder Mitarbeiter der Regierung oder Mitarbeiter internationaler Organisationen verkehren, Regierungseinrichtungen sowie Stellungen und Stützpunkte von Regierungskräften und AMISOM. Im Hinblick auf die in Mogadischu weiterhin bestehende ausgesprochen fragile Sicherheitslage ist auch zu berücksichtigen, dass die Gefährdungssituation von verschiedenen Umständen beeinflusst wird und sich die Angriffe der al-Shabaab nicht primär gegen die Zivilbevölkerung richten. Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung hat damit die Intensität der Gewalt in Mogadischu noch keinen Grad erreicht, der als solcher für jeden rückkehrenden Zivilisten eine reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung begründen würde (wie VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2021 - A 13 S 3196/19 -, juris Rn. 52-54).
In der Region Hiiraan untergräbt al-Shabaab ebenfalls weiterhin die Sicherheit; die Aktivitäten im Bundesstaat HirShabelle haben sich intensiviert, die Zahl an Sprengstoffanschlägen auf AMISOM und somalische Armee hat sich erhöht. Beletweyne, Buulo Barde, Jalalaqsi und Maxaas befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM. Wesentliche Teile von Hiiraan befinden sich hingegen unter Kontrolle von al Shabaab – vor allem die Gebiete westlich der Straße Jalalaqsi – Beletweyne. Zudem sind Auseinandersetzungen unter Clans bzw. Clans und der Regierung von HirShabelle für eine Verschlechterung der Sicherheitslage um Beletweyne verantwortlich. In der Stadt ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken von al-Shabaab (BFA, Länderinformation, S. 48 ff.). Die Verantwortlichkeit für die Mehrheit der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Hiiran 2020/2021 wird al-Shabaab zugeschrieben; die als solche eingestufte gezielte Gewalt gegen Zivilpersonen hat einen Anteil von ca. lediglich 20 % und ereignet sich vornehmlich im Bezirk Beletweyne (EASO, Security situation, S. 100 f.). Damit ist auch in der Region Hiirann keine erhebliche und dauerhafte Verschlechterung der Sicherheitslage zu verzeichnen.
Die medizinische Versorgungslage, die in die wertende Gesamtbetrachtung ebenfalls einzustellen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23), hat sich in den vergangenen Jahren nicht signifikant verändert. Sie ist weiterhin im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet (Lagebericht, S. 24). Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt (BFA, Länderinformation, S. 231).
Individuell gefahrerhöhende Umstände sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich, wobei insoweit wegen des hohen Levels willkürlicher Gewalt nur ein niedriger Maßstab anzulegen ist (vgl. EUAA, Country Guidance, S. 154 bzw.156). Insbesondere hält die Einzelrichterin eine drohende Zwangsrekrutierung oder Bestrafung des Klägers durch al-Shabaab nicht für realistisch (s.o.). In Mogadischu besteht ohnehin kein Risiko, von al- Shabaab zwangsrekrutiert zu werden (BFA, Länderinformation, S. 43, 101).
III. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen in Somalia.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigender Behandlung voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenreche muss eine ausreichende reale Gefahr bestehen, die nicht nur auf bloßen Spekulationen beruht, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des Falles ernsthaft bestehen und darf nicht hypothetisch sein. Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, sodass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 13 f. m.w.N.).
Wegen etwaiger Gefahren aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage wird auf die obigen Ausführungen zu § 4 AsylG verwiesen.
Für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland gelten folgende Maßstäbe (BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 15 ff. m.w.N.), wobei es in Somalia an einem verantwortlichen Akteur fehlt:
Die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat haben weder notwendigen noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein [...]. Gleichwohl entspricht es der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen können. Es sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen ("very exceptional cases") begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend ("compelling") gegen eine Abschiebung sprechen. [...]. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" [...] aufweisen; diese kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält [...].
In seiner jüngeren Rechtsprechung zum Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 4 GRC stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim - Rn. 89 ff. und - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre". Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht [...] nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. [...]
Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nicht vulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind [...]
Die Gefahr muss [...] in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung durch den Vertragsstaat eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung - in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers - gerechtfertigt erscheint. [...]
Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist [...] grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist [...].“
Bei der Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung, einer adäquaten Unterkunft, zu sanitären Einrichtungen sowie die Möglichkeit der Erwirtschaftung der finanziellen Mittel zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, gegebenenfalls unter Berücksichtigung von erreichbaren Hilfen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2021 - A 13 S 3196/19 -, juris Rn. 57 m.w.N.). Zu den individuellen Faktoren gehören auch Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Volkszugehörigkeit, Ausbildung, Vermögen familiäre oder freundschaftliche Verbindungen (Nds. OVG, Beschluss vom 26.08.2022 - 4 LA 67/22 -, juris Rn. 10).
Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 139 m.w.N.). Davon ausgehend ist zunächst die Lage in Mogadischu (Zielort der Abschiebung, s.o.) in Bezug auf den Kläger in den Blick zu nehmen.
Die humanitäre Situation in Somalia stellt sich folgendermaßen dar:
Somalia gehört weiterhin zu den ärmsten Ländern der Erde. Seit Jahren befindet sich Somalia in einer anhaltenden humanitären Krise, für die politische, soziökonomische und Umweltfaktoren hauptverantwortlich sind. Regelmäßig wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen wie auch Überflutungen, zuletzt auch die Heuschreckenplage, die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zu einem Land mit hohen humanitären Nöten (vgl. Lagebericht, S. 4). In weiten Teilen ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nach wie vor nicht gewährleistet. Es gibt keinen sozialen Wohnraum oder Sozialhilfe und keine Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer (vgl. Lagebericht, S. 23; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2021 - A 13 S 3196/19 -, juris Rn. 58 f. m.w.N.). Die Grundversorgung in Somalia sieht sich einer dreifachen Bedrohung („Triple Threat“) aus Wüstenheuschrecken, Naturkatastrophen, wie Überschwemmungen und Dürre, sowie den Folgen der Covid-19-Pandemie einer ernsthaften Herausforderung ausgesetzt (Lagebericht, S. 23; BFA, Länderinformation, S. 204 ff.). Seit Ende 2020 ist es aufeinanderfolgend zu unterdurchschnittlichen Niederschlagsperioden gekommen. Dies hat in größeren Landesteilen zu Ernteausfällen, Tod von Nutztieren und verringerten Einkommen in der Landwirtschaft geführt. Die Dürre und zuletzt die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben Nahrungsmittel knapp und teuer werden lassen (BFA, Länderinformation, S. 204 ff.).
Zuletzt sind die Nahrungsmittelpreise stark gestiegen, was die Ernährungsunsicherheit vor allem für Binnenvertriebene in Mogadischu und die Bevölkerung bestimmter ländlicher Gebiete Somalias verschärft (vgl. ACCORD, ecoi-Themendossier zu Somalia: Humanitäre Lage, 25.08.2022 m.w.N.; Famine Early Warning Systems Network - FEWS NET, Food Security Outlook Update, Aug-Sept. 2022, Oct. 22-Jan. 23, abrufbar unter: https://fews.net/east-africa/somalia/food-security-outlook-update/august-2022). Die Ernährungsunsicherheit wird für urbanen Gebiete Mogadischus nach der aktuellen Klassifikation von FEWS NET für die Zeit von Juni bis September 2022 als „stressed“ (IPC Phase 2) angegeben und bleibt in den Prognosen für die Folgezeit bis Januar 2023 auf diesem Level. In den nicht-urbanen Gebieten Mogadischus einschließlich der Lager für Binnenvertriebene (IDP-Camps) wird es für die Zeit bis September 2022 als „Crisis“ (IPC Phase 3) angegeben und erreicht in den Prognosen für die Folgezeit bis Januar 2023 das Level „Emergency“ (IPC Phase 4). Für die Zeiträume Juni bis September 2022 und Oktober bis Dezember 2022 werden bis zu 14,9 % der Personen in den urbanen Bereichen Mogadischus und bis zu 29,9 % der Personen in den IDP-Camps als akut unterernährt eingestuft. Eine Aufstockung der humanitären Hilfen sei erforderlich, um Verschlechterungen abzuwenden.
Die makroökonomische Situation Somalias ist wegen unzureichende Daten schwer zu beschreiben. Für 2020 war ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden Für 2021 war ein Wachstum von 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 %. Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 %. Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 %, für 2022 werden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre 9,4 % prognostiziert. Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können. Die somalische Wirtschaft bleibt weiter fragil. Neben der Landwirtschaft ist für die wirtschaftliche Entwicklung vor allem die Diaspora ein bedeutender Faktor - insbesondere durch Investitionen und hohe Auslandsüberweisungen. Rücküberweisungen aus dem Ausland ermöglichen es vielen somalischen Staatsbürgern erst, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Neben der Diaspora sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen; auch ein Großteil der Regierungsausgaben wird durch externe Akteure bezahlt (vgl. BFA, Länderinformation, S. 193 f., 201).
Auf dem somalischen Arbeitsmarkt arbeiten ca. 95 % der Berufstätigen im informellen Sektor. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab. Zu den Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia gibt es unterschiedliche Aussagen: Einerseits wird berichtet, dass sie limitiert sind. Andererseits wird berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle. Gerade, um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen (vgl. BFA, Länderinformation, S. 195). Die Rekrutierung für offene Stellen geschieht größtenteils auf der Basis von Clanbeziehungen. Personen, die eine Arbeitskraft anstellen, haben die moralische Verpflichtung, hauptsächlich aus dem eigenen Clan heraus zu rekrutieren. Folglich werden Mitarbeiter oft nicht anhand ihrer Qualifikationen, sondern aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan ausgewählt (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Somalia - Höhe von Einkommen, Rolle des Clans am Arbeitsmarkt, 02.11.2020, S. 3 f.). Von zentraler Bedeutung bei einer Rückkehr ist das Vorhandensein familiärer Netzwerke und inwieweit diese auch während der Zeit im Ausland gepflegt bzw. deren Mitglieder in Somalia unterstützt worden seien. Die verwandtschaftliche Solidarität gelte dann sowohl für Frauen als auch für Männer, solange sie die von ihnen erwarteten moralischen Normen erfüllen würden. Bei den Unterstützungsmöglichkeiten bestimmter Abstammungsgruppen spiele auch deren Dominanz eine Rolle (ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Somalia: Humanitäre Lage, 25.08.2022; ACCORD, Somalia: Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer:innen; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure - Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 05.05.2021, 31.05.2021, S. 25, 32 f. 40; EASO, Key socio-economic indicators, September 2021, S. 48). Binnenvertriebene arbeiten häufig als Tagelöhner, von denen auf den städtischen Baustellen viele gebraucht werden (ACCORD vom 31.05.2021, S. 23; BFA, Länderinformation, S. 196, 200). Die Arbeitslosigkeit wird landesweit und speziell in Mogadischu - jüngst auch als Folge der weltweiten Covid-19-Pandemie - als hoch eingeschätzt, wobei aktuelle und detaillierte Daten fehlen (EASO, Key socio-economic indicators, September 2021, S. 45; BFA, Länderinformation, S. 196 ff.). Auch in Mogadischu sind Freundschaften und Clannetzwerke sehr wichtig. Zur Aufnahme jedenfalls kleinerer wirtschaftlicher Aktivitäten ist aber kein Netzwerk notwendig (BFA, Länderinformation, S. 220).
Das somalische Gesundheitssystem ist das zweitfragilste weltweit. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft und nicht durchgängig gesichert. Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete. Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können. Es mangelt an Geld, Personal, Referenzsystemen, Diagnoseeinrichtungen, an Ausbildungseinrichtungen, Regulierungen und Managementfähigkeiten. Insgesamt zählt die Gesundheitslage zu den schlechtesten der Welt. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt heute bei 57,1 Jahren. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen. Die Quoten von Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind unter den höchsten Werten weltweit (BFA, Länderinformation, S. 230 ff.). Der Umgang der somalischen Regierung mit der Covid-19-Pandemie war und ist völlig inadäquat (BFA, Länderinformation, S. 2).
Speziell für Rückkehrerinnen und Rückkehrer gilt: In einer vom UNHCR von 2018 bis Dezember 2021 durchgeführten repräsentativen Studie haben 59 % der Rückkehrerhaushalte angegeben, dass ihr Einkommen nicht ausreicht. Dies wird zu 43 % auf mangelnde Jobmöglichkeiten zurückgeführt. Die meisten Rückkehrer leben von Einkommen als Tagelöhner oder als Selbstständige sowie von humanitärer Hilfe (BFA, Länderinformation, S. 219). Als soziales Sicherungsnetz dient traditionell die erweiterte Familie inklusive des Sub-Clans oder Clans; sie bietet oftmals zumindest einen rudimentären Schutz (Lagebericht, S. 23; BFA, Länderinformation, S. 219 f.). Nach einer Experteneinschätzung aus dem Jahr 2021 würden Rückkehrende, die in Mogadischu überhaupt niemanden kennen und im Verwandtschaftsgefüge niemanden mobilisieren können, wahrscheinlich in ein IDP-Camp gehen und dort in irgendeiner Form vermutlich Hilfe bekommen. Menschen, die gar keine Mittel haben, würden irgendwo Mitleid finden, vielleicht auch in einer Moschee. Sie würden dort wahrscheinlich nicht verhungern. Wegen der Lebensumstände in einem IDP-Camp in Mogadischu würden sie vermutlich nicht dort bleiben, sondern versuchen so schnell wie möglich irgendwohin zu gehen, wo ein Familienmitglied ist (ACCORD vom 31.05.2021, S. 37; BFA, Länderinformation, S. 219, 221). In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie Toiletten und Wasserstellen. Die Rate an Unterernährung ist hoch. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen (BFA, Länderinformation, S. 189). Binnenvertriebene sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Zwangsräumungen von Gebieten der Binnenvertriebenen und der armen Stadtbevölkerung blieben nach wie vor ein großes Problem, insbesondere in den urbanen Ballungsräumen. Im Jahr 2021 wurden ca. 143.000 Menschen zwangsumgesiedelt. Besonders betroffen ist der Großraum Mogadischu. Die große Mehrheit der betroffenen Menschen zieht in Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke der Städte, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine Grundversorgung gibt (Lagebericht, S. 22). Hilfe für Rückkehrende aus Deutschland ist rar (vgl. Lagebericht, S. 23 f.; zur Rückkehr aus Österreich: BFA, Länderinformation, S. 220).
Bei der gebotenen Gesamtschau aller Umstände des vorliegenden Einzelfalls geht die Einzelrichterin mit Blick auf die schlechte allgemeine wirtschaftliche und Versorgungslage in Somalia davon aus, dass eine Abschiebung des Klägers nach Mogadischu diesen der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung aussetzen würde. Der Kläger zwar ist ein junger, erwerbsfähiger Mann ohne finanzielle und Unterhaltsverpflichtungen gegenüber anderen und verfügt über eine grundlegende Schulbildung. Zudem gehört er einem Mehrheitsclan an. Der Clan Hawiye verfügt in Zentralsomalia, insbesondere in Mogadischu, über erheblichen Einfluss; dominiert wird die Stadt insbesondere von den Subclans der Habargidir und Abgaal (vgl. EASO, Key socio-economic indicators, September 2021, S. 13, 47; ACCORD, Anfragebeantwortung: Mogadischu: Sozio-ökonomische Lage (insbesondere für RückkehrerInnen), 31.01.2020, S. 39). Dies genügt allerdings nicht für die Annahme existenzsichernder Erwerbsmöglichkeiten. Der Kläger hat Somalia im Alter von 15 Jahren verlassen und hält sich inzwischen seit acht Jahren außerhalb seines Herkunftslandes auf. Da er dort nie selbstständig gearbeitet hat, ist er mit den Gepflogenheiten des dortigen Arbeitsmarkts nicht vertraut. Es ist nicht davon auszugehen, dass er auf dem Arbeitsmarkt Mogadischus so Fuß fassen kann, dass er für sich „Bett, Brot und Seife“ sicherstellen kann. Insoweit kann ihn weder seine Familie noch seine Großfamilie, die nach seinen glaubhaften Angaben, die mit der Erkenntnislage übereinstimmen (vgl. IRB, The Badi-Ade clan, including distinguishing features, locations, occupations and position in clan hierarchy; treatment by authorities and other clans (2012-April 2018), 12.04.2018) in der Gegend um Jalalaqsi in Hiiraan lebt, unterstützen. Persönlichen Kontakt zu anderen Angehörigen des Clans der Hawiye in Mogadischu, die ihn bei der Aufnahme einer Arbeit unterstützen könnten, haben nach seinen glaubhaften Angaben weder er noch seine Familie. Er wird sich demnach gegen die zahlreichen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt für Tagelöhner nicht durchsetzen können. Er wäre im Falle einer Rückkehr nach Mogadischu ohne soziales Netzwerk, isoliert und als Rückkehrer aus dem Ausland in einer besonders verwundbaren Situation und ohne Anlaufstelle. Ohne solche sozialen Bindungen ist aber wie dargestellt selbst für einen jungen gesunden Mann nicht gewährleistet, dass es ihm selbst bei größtmöglicher Anstrengung gelingen kann, sich zu integrieren und wirtschaftlich Fuß zu fassen, um seinen existenzsichernden Lebensunterhalt zu verdienen. Die Unterkunft in einem IDP-Camp ist ihm angesichts der oft fehlenden Sanitäreinrichtungen und der drohenden Zwangsräumungen nicht zumutbar. Eine aus Mitleid motivierte Unterstützung mit Nahrungsmitteln ist aktuell angesichts der aktuellen Entwicklung der Ernährungsunsicherheit und der Preise nicht zu erwarten.
Sollte es dem Kläger gelingen, in sein Heimatdorf zurückzukehren, verfügt er dort zwar über soziale Bindungen. Die mehrköpfige Familie lebt dort aber selbst am Rande des Existenzminimums und hat es nach den glaubhaften Angaben des Klägers nicht vermocht, sich in den letzten Jahren neue Einnahmequellen zu verschaffen.
Da ein Abschiebungsverbot besteht, sind Ziffern 4. bis 6. des angefochtenen Bescheids aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.