Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.08.2023, Az.: 4 LB 68/22

Ausreise; illegal; Desertion; Diaspora-Status; Eritrea; Flüchtlingsanerkennung; soziale Gruppe; Haftbedingungen; Nationaldienst; oppositionelle Gesinnung; Politmalus; Reueerklärung; Rückführung, zwangsweise; Strafverfolgung; politisch motiviert; politische Überzeugung; Verknüpfung; starke Vermutung; Wehrdienstentziehung; Eritrea: Kein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung bei Entziehung vom Nationaldienst

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.08.2023
Aktenzeichen
4 LB 68/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 34481
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0822.4LB68.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 11.11.2020 - AZ: 3 A 11539/17

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Weder die Nationaldienstpflicht also solche noch die Bedingungen innerhalb des eritreischen Nationaldiensts oder eine etwaige Bestrafung wegen illegaler Ausreise oder Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst knüpfen an eine dem Dienstpflichtigen zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG oder ein anderes flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an.

  2. 2.

    Auch der Umgang des eritreischen Staats mit zwangsweise nach Eritrea zurückgeführten Personen knüpft nicht an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an, insbesondere nicht an eine zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 3. Kammer - vom 11. November 2020 geändert und die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in der Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil, durch welches sie verpflichtet worden ist, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der am ... 1990 in I. -Stadt geborene Kläger ist eritreischer Staatsangehöriger muslimischer Religionszugehörigkeit.

Der Kläger reiste nach eigenen Angaben im August 2015 in die Bundesrepublik ein und meldete sich am 28. September 2015 als asylsuchend. Am 25. August 2016 stellte der Kläger bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags am 25. August 2016 erklärte der Kläger vor dem Bundesamt, Eritrea im Oktober 2010 verlassen und in den Sudan gegangen zu sein. Von dort aus sei er im März 2014 nach Libyen gereist. Nach drei Monaten habe er mit einem Schlauchboot Sizilien erreicht. Dort sei er festgenommen und für fünf bis sechs Monate inhaftiert worden. Mit einem Pkw sei er über Mailand und die Schweiz in die Bundesrepublik gelangt. Sowohl in Italien als auch in der Schweiz habe er einen Asylantrag gestellt.

In der Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am selben Tag erklärte der Kläger, zum Stamm der Saho zu gehören. Personalpapiere besitze er nicht. Seine Eltern und Geschwister lebten in seinem Heimatort I. -Stadt. Er habe fünf Jahre eine islamische Schule besucht. Einen Beruf habe er nicht erlernt und in der Landwirtschaft gearbeitet. Wehrdienst habe er nicht geleistet.

Ein am 30. August 2016 gestelltes Übernahmeersuchen lehnten die schweizerischen Behörden mit Schreiben vom 1. September 2016 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, Italien habe am 16. Juni 2015 einem Aufnahmeersuchen stillschweigend zugestimmt. Die Überstellungsfrist an Italien sei auf 18 Monate verlängert worden, da der Kläger untergetaucht sei. Ein am 8. September 2016 an Italien gerichtetes Übernahmeersuchen blieb unbeantwortet.

Zu dem für den 21. November 2016 anberaumten persönlichen Gespräch im Dublin-Verfahren (Zweitbefragung) erschien der Kläger nicht.

Mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.). Dagegen wandte sich der Kläger mit Klage und Eilantrag vom 19. Dezember 2016 vor dem Verwaltungsgericht Hannover.

Mit Beschluss vom 6. Januar 2017 (3 B 7768/16) ordnete das Verwaltungsgericht Hannover die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers vom 19. Dezember 2016 (3 A 7767/16) gegen den Bescheid der Beklagten vom 1. Dezember 2016 an. Unter dem 22. September 2017 hob die Beklagte den Bescheid vom 1. Dezember 2016 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf.

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 6. November 2016 erklärte der Kläger, Personalpapiere nur in Gestalt eines Schülerausweises besessen zu haben, den er im Meer verloren habe. Er habe Eritrea aus Angst vor der Einziehung zum Militärdienst verlassen. Sein älterer Bruder sei zum Militär eingezogen worden und von dort nie zurückgekehrt. Er, der Kläger, habe zwei Jahre vor seiner Ausreise selbst einen Einberufungsbefehl erhalten. Das Militär sei mehrfach auf ihn zugekommen. Er habe sich vier bis sechs Monate auf einer Plantage unweit seines Geburtsorts versteckt und dort gearbeitet. Er sei immer wieder für drei Tage vorsichtig und versteckt nach Hause zurückgekehrt. Eines Tages hätten sie seinen Vater an seiner Stelle mitgenommen. Seine Mutter habe sich erschrocken und ihm gesagt, dass er das Land verlassen solle. Dass sein Vater erst nach zwei Jahren und vielzähligen Besuchen mitgenommen worden sei, erkläre er sich damit, dass sein Vater seine Abwesenheit mehrfach plausibel habe begründen können. Sein Vater sei nie wieder zurückgekehrt. Er habe insgesamt vier Schwestern und zwei Brüder. Er sei nie politisch aktiv gewesen und habe auch nie Probleme wegen seines Glaubens gehabt. Bei einer Rückkehr nach Eritrea befürchte er gefangen genommen oder eliminiert zu werden, weil er das Land illegal verlassen habe. Es gebe in Eritrea keine Menschenrechte und keine Demokratie.

Mit Bescheid vom 9. November 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger subsidiären Schutz zu (Ziffer 1) und lehnte den Antrag des Klägers im Übrigen ab (Ziffer 2). Wegen der Begründung wird auf den Bescheid Bezug genommen.

Gegen den Bescheid vom 9. November 2017 hat der Kläger am 28. November 2017 vor dem Verwaltungsgericht Hannover Klage erhoben.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheids vom 9. November 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte hat schriftlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht Hannover unter Aufhebung des insoweit entgegenstehenden Bescheids die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger habe im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er habe glaubhaft vorgetragen, in Eritrea das dienstfähige Alter erreicht und einen Einberufungsbescheid erhalten zu haben, sowie nach der Inhaftierung seines Vaters geflohen zu sein. Der Kläger müsse aufgrund seiner Flucht vor dem Nationaldienst in Eritrea mit einer Bestrafung rechnen. In der Haft wäre er einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Die Haftbedingungen in Eritrea seien häufig unmenschlich hart und lebensbedrohlich, insbesondere wegen massiver Überbelegung der Gefängnisse, unzureichender medizinischer Behandlung und der Anwendung von Isolationshaft. Auch Folter und Misshandlungen seien während der Haft weit verbreitet. Die Inhaftierung drohe dem Kläger zumindest auch wegen einer ihm von staatlicher Seite zugeschriebenen politischen Überzeugung. Es sei davon auszugehen, dass die eritreischen Behörden dem Kläger aufgrund seiner Flucht vor dem Nationaldienst eine oppositionelle Gesinnung bzw. eine regimefeindliche Haltung und Verrat an der nationalen Sache unterstellen. Dafür sprächen insbesondere der ideologische Stellenwert des eritreischen Nationaldiensts und der Umstand, dass der eritreische Staat Desertion und Wehrdienstentziehung als schwere Vergehen einstufe und die Bestrafung außergerichtlich und willkürlich durch militärische Vorgesetzte erfolge. Die Möglichkeit der straffreichen Rückkehr durch Erlangung des "Diaspora-Status" stehe nur freiwilligen Rückkehrer offen, während hier auf die zwangsweise Rückführung nach Eritrea abzustellen sei. Es sei auch zu berücksichtigen, dass für die Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Grund der Verfolgung eine Mitverursachung ausreiche. Zudem seien die Bedingungen im Nationaldienst für sich genommen hoch politisch. Auch der existierende Schießbefehl an der Grenze stelle sich als unverhältnismäßige Sanktion und damit als Indiz für eine politische Motivation dar. Eine andere Beurteilung sei auch nicht aufgrund der jüngsten Entwicklungen im Friedensprozess mit Äthiopien gerechtfertigt. Dass die im September 2018 unterzeichnete "Gemeinsame Erklärung über Frieden und Freundschaft" eine wesentliche Veränderung der Lage herbeigeführt habe, sei nicht ersichtlich.

Gegen das ihr am 13. November 2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Dezember 2020 die Zulassung der Berufung beantragt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen geltend gemacht, der darin aufgestellte Rechtssatz, dem Kläger drohten im Hinblick auf die Entziehung vom Nationaldienst und der illegalen Ausreise im Falle der Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG, die an Verfolgungsgründe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen, weil der eritreische Staat im Falle einer Desertion/Wehrdienstentziehung und einer damit begründeten Flucht aus Eritrea eine politische Gegnerschaft unterstelle, an die die drohende Bestrafung maßgeblich anknüpfe, stehe im Widerspruch zu der Entscheidung des Senats vom 17. Januar 2019 (4 LA 271/18). In dieser Entscheidung habe der Senat den Rechtssatz formuliert, dass eine drohende Einberufung zum Nationaldienst im Falle der Rückkehr eines eritreischen Staatsangehörigen nach Eritrea für sich genommen keine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG darstelle und weder die Bestrafung der illegalen Ausreise eritreischer Staatsangehöriger noch die Sanktionierung der Umgehung des Nationaldiensts durch illegale Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einen der in den §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe anknüpfe, insbesondere nicht an die politische Überzeugung. Das angegriffene Urteil beruhe auf dieser Abweichung, denn der aufgestellte Rechtssatz trage das Urteil alleine.

Durch Beschluss vom 18. Mai 2022 - 4 LA 264/20 - hat der Senat die Berufung wegen Divergenz gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zugelassen, weil das Urteil von einer Entscheidung des Senats (Senatsbeschl. v. 17.1.2019 - 4 LA 271/18 -) abweicht und auf dieser Abweichung beruht.

Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2022 hat die Beklagte die Berufung begründet und sich hierzu auf ihre Ausführungen in dem Bescheid vom 9. November 2017, den Zulassungsantrag vom 7. Dezember 2020 und den Senatsbeschluss vom 18. Mai 2022 bezogen. Darüber hinaus trägt sie vor, eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise drohe bereits nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Den Ausführungen des Auswärtigen Amts in seinem aktuellen Lagebericht zufolge ziehe allein die unerlaubte Ausreise aus Eritrea keine allgemeine staatliche Verfolgung nach sich. Auch EASO weise in seinem Bericht aus September 2019 darauf hin, dass eine Bestrafung von Rückkehrern von verschiedenen Faktoren abhänge, insbesondere von der Frage, ob im Zeitpunkt der Ausreise eine Dienstpflicht bestanden habe. Unabhängig davon knüpfe eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise auch nicht an einen Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG an, insbesondere nicht an eine (unterstellte) oppositionelle politische Überzeugung. Dagegen spreche vor allem das breite Spektrum möglicher Sanktionen. In den Grenzgebieten aufgegriffene Personen würden oft auch einfach nur an ihre Herkunftsorte zurückgeschickt. Nach aktuellen Erkenntnissen seien Fälle von Verhaftungen nach der Friedensvereinbarung mit Äthiopien sogar noch seltener geworden. Zudem bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sich der eritreische Staat dem Umstand gegenüber verschließe, dass der wesentliche Grund für die Ausreise vieler Eritreer in der wirtschaftlichen Lage und den humanitären Bedingungen Eritreas liege. Auch die Pflicht zur Ableistung des Nationaldiensts knüpfe nicht an einen Verfolgungsgrund an. Denn bei der Einberufung zum Nationalen Dienst würden alle Gruppen der Gesellschaft grundsätzlich gleichbehandelt. Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion etc. finde nach übereinstimmender obergerichtlicher Rechtsprechung nicht statt. Soweit sich der Kläger auf eine drohende Bestrafung wegen Desertion und/oder Entziehung vom Nationaldienst berufe, drohe ihm eine solche Strafe bereits nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Eritreer, die ihr Heimatland vor Erhalt eines Einberufungsbefehls verlassen, erfüllten bereits nicht den Tatbestand der Desertion. Zudem knüpften weder die Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst noch die Bestrafung wegen Desertion an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellten an Desertion geknüpfte Sanktionen nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen. Dies sei vorliegend nicht ersichtlich. Die Strafvorschriften für Wehrdienstentziehung und Desertion ahndeten ausschließlich den Umstand der Wehrdienstentziehung und würden im Regelfall allgemein und unterschiedslos gegenüber allen Deserteuren aus Gründen der Aufrechterhaltung der Disziplin angewandt. Eine Einschüchterung von vermeintlichen politischen Gegnern, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten werde nicht bezweckt. Der eritreische Staat lasse die politische Überzeugung seiner Bürgerinnen und Bürger im Falle der Bestrafung wegen Desertion vielmehr gänzlich unbeachtet. Hierfür spreche die große Bandbreite möglicher Folgen, die von Amnestie, über Belehrung bis zu jahrelanger Haft reichten. Würde der eritreische Staat allen Personen, die sich dem Nationaldienst durch Flucht entzogen haben, generell eine Regimegegnerschaft unterstellen, wäre zu erwarten, dass er alle im Wesentlichen gleichermaßen hart bestrafe. Gestützt werde diese Einschätzung durch eine Betrachtung des Strafrahmens von Art. 119 (Interference with Military Service) des neuen eritreischen Strafgesetzbuches (Penal Code of the State of Eritrea 2015). Danach betrage die Höchststrafe bei Desertion drei Jahre, was mit dem Strafrahmen des Diebstahls einer Sache mit Wert zwischen 2.001 und 10.000 Nakfa (vgl. Art. 328 - Theft of Property) vergleichbar sei. Zwar komme das Gesetz derzeit noch nicht zur Anwendung. Es lasse sich daraus aber ableiten, welchen Stellenwert der eritreische Staat Verstößen gegen die Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes beimesse. Auch die Bedingungen im Strafvollzug seien für Deserteure und andere Strafgefangene gleichermaßen hart. Zudem müsse bei lebensnaher Betrachtung auch dem eritreischen Staat bekannt sein, dass allein die Umstände der nationalen Wehrdienstverpflichtung und nicht eine regimefeindliche Haltung die Massenflucht eritreischer Staatsangehöriger ausgelöst haben.

Die Beklagte beantragt,

das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 11. November 2020 (2 A 11539/17) zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er tritt der Berufung entgegen und verteidigt das angegriffene Urteil im Wesentlichen unter Hinweis darauf, dass sich das Urteil auch auf neuere Erkenntnismittel stütze.

Am 22. August 2023 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Der Kläger ist zu seinem Verfolgungsschicksal informatorisch befragt worden und hat angegeben, einen Bruder und eine Schwester im Krieg in der Tigray-Region verloren zu haben. Seine Geschwister seien dort im Rahmen des Militärdiensts eingesetzt gewesen und ums Leben gekommen. Ein weiterer Bruder sei vor seiner Ausreise aus Eritrea ebenfalls in den Nationaldienst eingezogen worden und seither verschwunden. Auch von seinem Vater hätten sie nie wieder etwas gehört. Er selbst habe vor seiner Ausreise drei Briefe erhalten, in denen er zum Militärdienst einberufen worden sei. Dies sei der Auslöser für seine Ausreise gewesen. Seine Mutter lebe mittlerweile im Sudan. Im Rahmen eines Besuchs im Sudan habe er seine jetzige Ehefrau kennengelernt und sie zwei Wochen später, am 17. August 2021, geheiratet. Sie hätten einen gemeinsamen Sohn. Seine Ehefrau und sein Sohn lebten aktuell im Sudan. Er habe sich weder in Eritrea noch in der Bundesrepublik politisch betätigt. Über eine eritreische ID-Karte oder einen Pass verfüge er nicht. Seine Personalpapiere habe er im Meer verloren. Er habe in der Bundesrepublik bislang auch keinen Kontakt zu eritreischen Behörden gehabt. Er sei nicht bereit, die in dem "Reue-Formular" enthaltene Erklärung zu unterzeichnen, weil er bereits zwei Geschwister verloren habe und mit Sicherheit selbst sterben würde, wenn er das Formular unterzeichne. Diesbezüglich wird auf die Niederschrift über die öffentliche Sitzung des 4. Senates am 22. August 2023 (im Folgenden: Sitzungsniederschrift) Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die vor dem Hintergrund der Zuerkennung des subsidiären Schutzes durch die Beklagte allein streitgegenständliche Versagung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 9. November 2017 ist rechtmäßig. Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

I. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a)) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b)) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die folgenden Handlungen gelten: (1.) die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (2.) gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder (3.) eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung. Gemäß § 3c AsylG sind Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann (1.) der Staat, (2.) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (3.) nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Eine nähere Umschreibung der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe wegen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, deren Vorliegen zu prüfen ist, enthält § 3b Abs. 1 AsylG. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG).

Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in Verbindung mit § 3b AsylG konkretisierten Verfolgungsgründen sowie den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne "wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein. Für eine derartige "Verknüpfung" reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Ein bestimmter Verfolgungsgrund muss nicht die zentrale Motivation oder alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme sein; indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 13; Urt. v. 22.5.2019 - 1 C 10.18 -, juris Rn. 16 und Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 13).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (ständige Rspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22; Urt. v. 1.3.2012 - 10 C 7.11 -, juris Rn. 12; Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32; Beschl. v. 15.8.2017 - 1 B 120.17 -, juris Rn. 8; Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 14 und Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab bedingt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen, zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevanten Tatsachen unter anderem die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und die persönlichen Umstände zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15 m. w. N.; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 23, 31). Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15; Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 14 und Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 14).

Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die tatsächliche Gefahr ("real risk") einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (BVerwG, Beschl. v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 -, juris Rn. 37 und Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 15).

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG und Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 16).

Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigenden Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Hierbei ist für das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung maßgeblich (BVerwG, Urt. v. 17.6.2020 - 1 C 35.19 -, juris Rn. 9). Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu den seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 20). Das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gilt auch bei unsicherer Tatsachengrundlage (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 21 und Beschl. v. 28.4.2017 - 1 B 73.17 -, juris Rn. 10). In diesen Fällen bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland; hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 21 und Urt. v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 19). Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt nicht schon dann in Betracht, wenn eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht, sondern in der Gesamtsicht der vorliegenden Erkenntnisse lediglich ausreichende Anhaltpunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie die andere Richtung vorliegen, also eine Situation besteht, die einem non-liquet vergleichbar ist. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist vielmehr tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers. Kann das Gericht nicht das nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit gewinnen, dass einem Ausländer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, juris Rn. 18; vgl. ferner 9. Senat des erkennenden Gerichts, Beschl. v. 11.3.2021 - 9 LB 129/19 -, juris Rn. 38 m. w. N.).

II. Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Eritrea keine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

1. Der Kläger hat Eritrea nicht vorverfolgt im Sinne des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU verlassen.

Das Eingreifen der Beweiserleichterung dafür, dass eine Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, setzt voraus, dass derjenige, der sich hierauf beruft, bereits eine entsprechende Verfolgung - und nicht lediglich einen sonstigen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG - erlitten hat oder sie ihm unmittelbar bevorstand. Dies erfordert eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG (Art. 9 Abs. 1 und 2 RL 2011/95 EU), die gemäß § 3 Abs. 3 AsylG (Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95 EU) an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Art. 10 RL 2011/95/EU) näher bezeichneten Verfolgungsgrund anknüpfen muss (vgl. OVG D-Stadt, Urt. v. 21.9.2018 - 4 Bf 232/18.A -, juris Rn. 37).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Angaben des Klägers, er habe in Eritrea einen Einberufungsbefehl zum Nationaldienst erhalten und sei ausgereist, nachdem die Behörden ihn zuvor zum Zwecke der Einberufung in den Nationaldienst aufgesucht und angesichts seiner Abwesenheit seinen Vater verhaftet hätten, glaubhaft sind. Denn selbst wenn man in den vom Kläger geschilderten Vorkommnissen Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG sähe, lässt sich unter Gesamtbetrachtung und Würdigung der vorliegenden Erkenntnisquellen und des Vorbringens des Klägers nicht feststellen, dass diese Verfolgungshandlungen an einen flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, insbesondere an eine (ggf. auch nur unterstellte) politische Überzeugung, anknüpfen. Zur Überzeugung des Senats knüpfen weder die Nationaldienstpflicht also solche, noch die Bedingungen innerhalb des Dienstes oder eine etwaige Bestrafung wegen illegaler Ausreise oder Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst aus den nachfolgend dargestellten Gründen an eine dem Kläger zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG oder ein anderes flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an.

2. Eine dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea drohende Einberufung zum Nationaldienst knüpft nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal, insbesondere nicht an eine dem Kläger zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an.

a. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es - wie bereits ausgeführt - unerheblich, ob er tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne "wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist - wie ebenfalls bereits aufgezeigt - anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.

b. Ausgehend von diesen Maßstäben geht der Senat bei einer qualifizierenden Gesamtbetrachtung und Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel mit der Rechtsprechung des Eufach0000000005s und der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 36; OVG Bremen, Beschl. v. 24.1.2023 -1 LA 200/21 -, juris Rn. 15 u. v. 29.7.2022 - 1 LA 284/21 -, juris Rn. 10; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.9.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 25; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 8; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.1.2022 - VGH A 13 S 2403/21 -, juris S. 9; OVG D-Stadt, Urt. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 37; Hessischer VGH, Urt. v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 7 f.; Sächsisches OVG, Urt. v. 14.4.2021 - 6 A 100/19.A -, juris Rn. 26, 39 f; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 30; Bayerischer VGH, Urt. v. 5.2.2020 - 23 B 18.31593 -, juris Rn. 28; OVG d. Saarlandes, Urt. v. 21.3.2019 - 2 A 10/18 -, juris Rn. 20; s. auch Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 4 LA 167/20 -, juris Rn. 4) davon aus, dass die einem Dienstpflichtigen in Eritrea drohende Einziehung zur Ableistung des Nationaldienstes nicht an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft.

aa. Gegen eine Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal ist in erster Linie anzuführen, dass sich die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nach Rechtslage und Anwendungspraxis im Wesentlichen auf alle erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen ohne Unterscheidung nach flüchtlingsschutzerheblichen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe) erstreckt.

(1) Nach Art. 6 der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (vgl. inoffizielle englische Übersetzung aus dem Gesetzesblatt Eritrea Nr. 11 v. 23.10.1995, abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/3dd8d3af4.html; im Folgenden: Proklamation Nr. 82/1995) ist der Nationaldienst in Eritrea für Männer und Frauen vom 18. bis zum 50. Lebensjahr verpflichtend. Er unterteilt sich gemäß Art. 2 Abs. 3, Art. 4 und Art. 13 Abs. 2 der Proklamation Nr. 82/1995 in einen aktiven Nationaldienst ("active national service") und einen militärischen Reservistendienst ("reserve military service"). Den aktiven Nationaldienst von offiziell 18 Monaten müssen gemäß Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 alle eritreischen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 40 Jahren absolvieren. In der Praxis werden Eritreer jedoch bereits ab dem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea - National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34; s. auch Senatsbeschl. v. 8.9.2022 - 4 LA 196/21 -, juris Rn. 3 ff.). Nach Art. 21 der der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 14; DIS, Eritrea - National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f.; vgl. zur Nationaldienstverpflichtung insgesamt: EASO, Eritrea, Latest developments on political situation and national service between 1 January 2020 and 31 January 2021, 19.4.2021, S. 4 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 22 ff.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; Amnesty International (AI), Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 18).

Die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst stellt das Schulsystem dar. Die eritreische Regierung bezeichnet diese Rekrutierungsform als "reguläre" Rekrutierung. Die Rekrutierung in den Nationaldienst findet unmittelbar im Anschluss an das 12. Schuljahr statt. Schülerinnen und Schüler, die das 11. Schuljahr abgeschlossen haben, absolvieren die 12. Klasse in dem Militärlager "Sawa". Das Resultat der dort abgelegten Abschlussprüfung (Eritrean Secondary Education Certificate Examination, ESECE) bestimmt die weiteren Bildungsmöglichkeiten und die Einteilung in den Nationaldienst. Die Schüler mit den besten Noten beginnen das Studium an einer der neun Hochschulen. Nach Studienabschluss werden den Absolventen Funktionen im zivilen Teil des Nationaldiensts zugeteilt. Schüler mit einem mittelmäßigen Abschluss besuchen das "Sawa Center for Technical and Vocational Education". Den Absolventen werden anschließend Aufgaben im zivilen oder militärischen Teil des Nationaldiensts zugewiesen. Die Schüler mit den schlechtesten Noten gehen entweder an Berufsbildungsschulen oder direkt in den Nationaldienst. Wer direkt in den Nationaldienst kommt, wird dem zivilen oder militärischen Teil oder der Mitarbeit in einem der Bau- oder Landwirtschafts-Unternehmen der Regierungspartei PFDJ zugeteilt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 27 ff.).

Die Rekrutierung der Schüler, die die Schule bereits vor Erreichen der 12. Klasse verlassen haben, erfolgt durch die lokale Verwaltung. Durch Informationen der Schulen behalten die Lokalverwaltungen einen Überblick über die Schulabgänger und ihr Alter. Das Militär weist die lokalen Verwaltungen regelmäßig an, Schulabgänger einzubestellen, damit sie dem Nationaldienst zugeführt werden können oder zumindest eine Liste mit geeigneten Heranwachsenden zu übergeben. Die Einberufungen werden von der lokalen Verwaltung u.a. an schwarzen Brettern, mit Briefen, Hausbesuchen oder Radioansagen bekannt gemacht. Von der Lokalverwaltung einberufene Personen werden meist dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeteilt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 29 f.).

Die Einberufung zum Nationaldienst findet zudem statt, wenn Schulabbrecher bei dem Versuch, das Land zu verlassen, aufgegriffen werden (vgl. EASO, Eritrea, National-dienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.).

Eine weitere Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst stellen Razzien durch die Sicherheitskräfte (sog. "giffas") dar. Die in "giffas" rekrutierten Deserteure und Dienstverweigerer verbleiben üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis und werden dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt. Vereinzelt fahnden militärische Einheiten auch gezielt nach Dienstverweigerern, insbesondere wenn diese einem Aufgebot keine Folge geleistet haben (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 5).

(2) Ausgehend von der dargestellten Rechtslage und Anwendungspraxis ist davon auszugehen, dass der eritreische Staat grundsätzlich jeden eritreischen Bürger im Alter von 18 bis 50 Jahren gleichermaßen und ohne Ansehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen als dienstverpflichtet ansieht. Insoweit sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Staat Eritrea eine Auswahl oder Auslese anhand flüchtlingsschutzrechtlicher Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vornimmt. Dies lässt sich vor allem an der dargestellten Rekrutierung jugendlicher eritreischer Staatsangehöriger zum Nationaldienst durch das Schulsystem erkennen, die nach den vorstehenden Ausführungen systematisch alle Kreise der eritreischen Bevölkerung gleichermaßen erfasst (vgl. OVGNordrhein-Westfalen, Urt. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 42). Aus keinem der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ergibt sich etwas anderes, als dass der eritreische Staat im Wesentlichen alle Staatsbürger ab der Volljährigkeit oder faktisch zum Teil auch kurz vorher in den Nationaldienst einzieht bzw. dies vorgesehen ist.

Es ist nach dem Vorstehenden auch nicht ersichtlich, dass der Staat Eritrea hinsichtlich der - in der Praxis regelmäßig die 18-Monats-Grenze überschreitenden - Dauer des Nationaldiensts oder in Bezug auf die dargestellten gesetzlichen oder faktischen Ausnahmen von den Altersgrenzen (Rekrutierung Minderjähriger) und von der Einziehung (ehemalige Unabhängigkeitskämpfer; verheiratete bzw. schwangere Frauen und Mütter) eine Anknüpfung an flüchtlingsschutzerhebliche Persönlichkeitsmerkmale vornimmt (so auch OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.9.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 28 ff., Sächsisches OVG, Urt. v. 14.4.2021 - 6 A 100/19.A -, juris Rn. 39; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 38 bis 69; Bayerischer VGH, Urt. v. 5.2.2020 - 23 B 18.31593 -, juris Rn. 33).

Angesichts der insoweit praktisch sämtliche erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen ohne Ansehung ihrer individuellen Persönlichkeitsmerkmale treffenden Dienstverpflichtung fehlt es insbesondere an Anhaltspunkten dafür, dass die Heranziehung zum Nationaldienst als solche an eine dem Kläger unterstellte regimegegnerische politische Überzeugung anknüpft. Aus diesen Gründen scheidet auch die Annahme des Verfolgungsgrunds der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aus. Denn angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gruppe der Dienstverpflichteten im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäße (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 36).

bb. Etwas anderes folgt auch nicht aus der (auch) politischen Dimension des Nationaldiensts. Zwar dient der Nationaldienst auch der Verbreitung der Staatsideologie und wird als "Schule der Nation" angesehen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f.). So heißt es etwa in Art. 5 der Proklamation Nr. 82/1995, der Nationaldienst diene unter anderem dazu, das Gefühl der nationalen Einheit im eritreischen Volk zu stärken und subnationale Gefühle zu eliminieren. Die ideologische Bedeutung spiegelt sich auch darin wieder, dass im 12. Schuljahr - das nur im militärischen Ausbildungslager in Sawa vorgesehen ist - neben der militärischen Ausbildung die Vermittlung der nationalen Werte und damit die Ideologie der Regierungspartei im Mittelpunkt steht (vgl. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32, 37; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f., 27; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 6 f.). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Einziehung in den Nationaldienst nicht an ein Merkmal i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG anknüpft, sondern grundsätzlich alle eritreischen Staatsbürger trifft (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.7.2021 - A 13 S 1563/20 -, juris Rn. 37 u. v. 8.7.2021 - A 13 S 403/20 -, juris Rn. 30; Bayerischer VGH, Urt. v. 5.2.2020 - 23 B 18.31593 -, juris Rn. 35).

cc. Bezüglich der Heranziehung zum militärischen Teil des Nationaldiensts kommt hinzu, dass diese - wie es in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG indirekt zum Ausdruck kommt - jedenfalls grundsätzlich nicht dem flüchtlingsschutzrechtlichen Schutzversprechen unterfällt, da jedem souveränen Staat grundsätzlich das Recht zusteht, seine Staatsangehörigen zum Wehr- bzw. Militärdienst heranzuziehen (vgl. Hessischer VGH, Urt. v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 11; Bayerischer VGH, Urt. v. 5.2.2020 - 23 B 18.31593 -, juris Rn. 37).

3. Auch die Bedingungen, unter denen der Nationaldienst in Eritrea abzuleisten ist, knüpfen - selbst wenn man ihnen einen Verfolgungscharakter im Sinne des § 3a AsylG beimessen würde - jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an flüchtlingsschutzrechtliche Merkmale i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG wie Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an. Zwar ist davon auszugehen, dass in "giffas" aufgegriffene Deserteure und Dienstverweigerer sowie bei dem Versuch der illegalen Ausreise verhaftete Personen in der Regel dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeführt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.), in dem die Bedingungen deutlich härter sind als im zivilen Teil des Nationaldiensts (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht nur Wehrdienstverweigerer und Deserteure bzw. illegal ausgereiste Personen Aufgaben im militärischen Teil des Nationaldiensts erhalten, sondern insgesamt etwas weniger als die Hälfte aller Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldiensts dient, darunter insbesondere auch Schulabsolventen mit mittelmäßigen oder schlechten Schulabschlüssen und Schulabbrecher (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25 f., S. 28 ff.). Ob ein Staatsbürger dem militärischen oder zivilen Teil des Nationaldienst zugeführt wird, richtet sich daher erkennbar nicht nach flüchtlingsrelevanten Merkmalen wie zum Beispiel einer (zugeschriebenen) politische Gesinnung. Nach der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittellage treffen als unmenschlich und erniedrigend bzw. als Folter einzuordnende Behandlungen und Bestrafungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch ausnahmslos alle Dienstverpflichten im militärischen Teil des Nationaldiensts, weil diese systematisch und routinemäßig als Prinzip zur Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung von Disziplin, Kontrolle und "Mut und Heldentum" verstanden und angewandt werden (vgl. Senatsurt. v. 18.7.2023 - 4 LB 8/23 -, juris Rn. 96 ff.). Angesichts dessen vermag der Senat nicht festzustellen, dass unmenschliche Behandlungen im militärischen Teil des Nationaldiensts zielgerichtet eingesetzt werden, um Deserteure und Wehrdienstverweigerer bzw. illegal ausgereiste Personen wegen ihrer - auch nur zugeschriebenen - politischen Überzeugung oder als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu treffen.

4. Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, ihm drohe im Falle der Rückkehr nach Eritrea eine menschenrechtswidrige Bestrafung wegen Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst. Ob dem Kläger im Fall einer Rückkehr eine solche Bestrafung und gegebenenfalls Inhaftierung mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht und diese u.a. aufgrund der zu erwartenden Bedingungen in der Haft als Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG zu qualifizieren ist, kann vorliegend dahinstehen. Denn die einem Dienstpflichtigen in Eritrea wegen Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst drohende Bestrafung knüpft jedenfalls nicht an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal, insbesondere nicht an eine (vom eritreischen Staat unterstellte) politische Überzeugung an.

a. Ein Ausländer wird - wie bereits ausgeführt - wegen einer politischen Überzeugung verfolgt, wenn dies geschieht, weil der Ausländer eine bestimmte Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, und zwar in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft.

Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher - nichtpolitischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sogenannter "Politmalus"). Demgegenüber liegt grundsätzlich keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 21 f. m. w. N.).

Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, begründen für sich genommen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine politische Verfolgung, selbst wenn diese von totalitären Staaten verhängt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 22). Solche Maßnahmen schlagen nur dann in eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung um, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen asylerheblicher Merkmale, insbesondere wegen einer wirklichen oder vermuteten, von der herrschenden Staatsdoktrin abweichenden politischen Überzeugung treffen sollen, wofür Indizien ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein können (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 22, v. 25.6.1991 - 9 C 131.90 -, juris Rn. 19 u. v. 6.12.1988 - 9 C 22.88 - 9 C 22.88 -, juris Rn. 10).

Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem die Strafverfolgung oder die Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfasst, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG zählen hierzu insbesondere Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen. Auch im Rahmen von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bedarf es einer Verknüpfung zwischen dem geltend gemachten Verfolgungsgrund - hier: Verfolgung aufgrund der politischen Überzeugung - und der Verfolgungshandlung in Form der Strafverfolgung oder Bestrafung (vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. Rn. 44; OVG D-Stadt, Urt. v. 11.1.2018 - 1 Bf 81/17.A -, juris Rn. 153). Diese Verknüpfung kann nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen. Allerdings spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht. Es ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Behörden und nicht des Schutzsuchenden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 61).

Im Hinblick auf den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung kommt es weiterhin darauf an, ob der Staat seine Bürger in den genannten Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechtzuerhalten trachtet und dabei die Überzeugung seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System eines fremden Staates seiner Bevölkerung allgemein auferlegt, vermögen für sich allein einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu begründen. Das bloße Aufrechterhalten oder Wiederherstellen "staatsbürgerlicher Disziplin", also des Gehorsams der "Gewaltunterworfenen" gegenüber Gesetzen, die nicht ihrerseits flüchtlingsschutzrelevanten Inhalt haben, ist daher für sich allein - auch wenn hierbei mit großer Härte vorgegangen wird - keine politische Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.5.1986 - 9 C 35.86 u. 9 C 36.86 -, juris Rn. 15; u. v. 17.5.1983 - 9 C 36.83 -, juris Rn. 34). Unter diesen Gesichtspunkten ist daher auch der Zweck konkret angedrohter oder befürchteter Sanktionen festzustellen. Von gleicher Bedeutung können auch die konkreten Umstände staatlichen Vorgehens und die praktische Handhabung der Sanktionsnorm sein. Insoweit sind sowohl etwaige Manipulationen des Strafvorwurfs wie auch die formellen Kriterien zu würdigen, nach denen ein staatlicher Eingriff stattfindet. Es macht einen Unterschied, ob die Entscheidung durch unabhängige, nur einem bereits vorliegenden Gesetz unterworfene allgemeine Gerichte erfolgt oder staatlichen Organen wie Polizei, Militär oder Sondergerichten überantwortet wird bzw. sogar ohne rechtliche Grundlage und ohne Durchführung eines geordneten Verfahrens erfolgt. Eine insoweit bestehende Bindungslosigkeit der staatlichen Strafgewalt spricht in erheblichem Maße für eine politische Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.5.1983 - 9 C 36.83 -, juris Rn. 35 f.).

b. Ausgehend von diesen Maßstäben gelangt der Senat bei einer qualifizierenden Würdigung und Gesamtbetrachtung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 23) mit der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 24.1.2023 -1 LA 200/21 -, juris Rn. 14 u. v. 29.7.2022 - 1 LA 284/21 -, juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.9.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 25; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 11; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.1.2022 - A 13 S 2403/21 -, juris S. 12; OVG D-Stadt, Urt. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 52, 56; Hessischer VGH, Urt. v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 11; Sächsisches OVG, Urt. v. 14.4.2021 - 6 A 100/19.A -, juris Rn. 26, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.12.2020 - 19 A 2706/18.A -, juris Rn. 7; Bayerischer VGH, Urt. v. 5.2.2020 - 23 B 18.31593 -, juris Rn. 39; OVG d. Saarlandes, Urt. v. 21.3.2019 - 2 A 10/18 -, juris Rn. 24; vgl. auch Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 4 LA 167/20 -, juris Rn. 4) zu dem Ergebnis, dass die Strafverfolgung wegen Entziehung oder Desertion vom eritreischen Nationaldienst nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an eine dem Dienstpflichtigen (zugeschriebene) politische Überzeugung anknüpft.

aa. Der Kläger kann sich diesbezüglich nicht auf die aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgende "starke Vermutung" der Verknüpfung der Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung mit einer (zugeschriebenen) politische Überzeugung berufen.

Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob bereits der sachliche Anwendungsbereich der genannten Vorschrift hier nicht eröffnet ist. Dafür könnte allerdings sprechen, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise im Jahr 2015 den Wehrdienst in Eritrea nicht "in einem Konflikt" im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG hätte leisten müssen, weil damals die Regierung Eritreas noch nicht in die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray involviert war (vgl. OVG D-Stadt, Beschluss vom 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 66 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.1.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 45). Dieser Konflikt ist nämlich erst Jahre später im November 2020 ausgebrochen (vgl. UN Human Rights Council (HRC), Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 9.5.2023, S. 6).

Aber auch dann, wenn auf eine Dienstverweigerung des Klägers bei einer Rückkehr nach Eritrea in heutiger Zeit abgestellt würde, scheidet eine Berufung auf die aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgende "starke Vermutung" einer Verknüpfung der Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung mit einem flüchtlingsrelevanten Merkmal aus. Denn es steht nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer hypothetischen Heranziehung zum Nationaldienst "zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich" (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 34) veranlasst wäre, im Konflikt um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray Kriegsverbrechen zu begehen. Diese Prüfung obliegt den staatlichen Behörden und Gerichten im Einzelfall. Die Tatsachenwürdigung muss sich auf ein Bündel von Indizien stützen, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände - insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers - zu belegen, dass die Gesamtsituation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt (vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 34 f.). Dies ist hier nicht der Fall. Die Situation in der Tigray-Region ist bereits von vornherein nicht mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 - C-238/19 - zugrunde lag. Denn die dort angenommene sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG teilzunehmen, betrifft den Kontext eines - hier nicht vorliegenden - allgemeinen (dort des syrischen) Bürgerkriegs im Herkunftsland des Betroffenen, der durch die wiederholte und systematische Begehung solcher Verbrechen oder Handlungen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 37 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.1.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 46; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.12.2020 - 19 A 2706/18.A -, juris Rn. 11). Der Tigray-Konflikt besteht indes nicht auf eritreischem, sondern auf äthiopischem Boden. Zudem ist auch eine konkrete Verwendung des Klägers im Tigray-Konflikt nicht hinreichend wahrscheinlich. Die militärische Auseinandersetzung in der Tigray-Region ist mit einer Waffenstillstandsvereinbarung vom November 2022 zum Ruhen gekommen und es wurden erste Schritte hin zur Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer und Kämpferinnen eingeleitet (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, März 2023, S. 4). Mitte Januar 2023 haben sich die eritreischen Truppen aus den wichtigsten Städten der Tigray-Region zurückgezogen (vgl. HRW, Eritrea: Crackdown on Draft Evaders´ Families, 9.2.2023, S. 5). Auch wenn die genaue Stärke der beteiligten eritreischen Truppen unklar ist, ist jedenfalls nichts dafür erkennbar, dass auch nur ansatzweise der überwiegende Teil des eritreischen Militärpersonals in der Tigray-Region zum Einsatz kommt oder stationiert ist (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 14). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass - auch wenn es unterschiedliche Angaben zur Anzahl der Angehörigen im militärischen und im zivilen Teil des Nationaldiensts gibt - offenbar jedenfalls weniger als die Hälfte der Dienstverpflichteten überhaupt im eritreischen Militär dient (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25 f.).

bb. Nach vorstehend genannten Maßstäben ist auch nicht festzustellen, dass in Eritrea die strafrechtliche Sanktionierung der Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet eingesetzt wird, um betroffene Personen wegen ihrer - auch nur zugeschriebenen - politischen Überzeugung zu treffen. Bei einer qualifizierenden Würdigung und Gesamtbetrachtung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel überwiegen zur Überzeugung des Senats die Tatsachen, die dagegen sprechen, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, der den Nationaldienst umgeht oder aus ihm desertiert, generell eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, die dafür sprechenden Umstände (dazu unter (1)). Anhaltspunkte für eine abweichende Betrachtung folgen auch nicht aus den individuellen Umständen des Klägers (dazu unter (2)).

(1) Die Umstände, die gegen die Annahme sprechen, der eritreische Staat schreibe Personen, die sich dem Nationaldienst entzogen haben bzw. desertiert sind, eine oppositionelle Gesinnung zu, überwiegen die dafür sprechenden Umstände deutlich.

(a) Die angedrohten Strafrahmen lassen nicht den Schluss zu, dass die Bestimmung der Strafe durch Zuschreibung einer oppositionellen Haltung zumindest mitgeprägt ist.

Nach Art. 37 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 werden Verstöße gegen die Nationaldienst-Proklamation Nr. 82/1995 - dazu zählen sowohl Dienstverweigerung als auch Desertion (vgl. SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 17, 21) - mit Haftstrafen von zwei Jahren und/oder einer Geldstrafe geahndet, sofern sich aus dem nach der Unabhängigkeit von Äthiopien als Übergangsstrafgesetzbuch übernommenen äthiopischen Strafgesetzbuch von 1957 (im Folgenden: Strafgesetzbuch von 1991, englische Übersetzung abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/49216a0a2.html) nicht härtere Strafen ergeben. Das Strafgesetzbuch von 1991 sieht weitergehende Strafen (nur) für Dienstverstöße im Zusammenhang mit dem Militärdienst ("Military Offences") vor. Art. 296 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs von 1991 statuiert eine zu Kriegszeiten bis zu zehnjährige Haftstrafe für die vorsätzliche Nichtbefolgung eines militärischen Einberufungsbefehls ("whosoever, with intent to evade recruitment or military service which he is legally bound to perform, fails to obey an enlistment or mobilization order duly served by personal summons, by placard or by public announcement"). Nach Art. 297 Abs. 2 ist die nichtvorsätzliche Nichtbefolgung eines militärischen Einberufungsbefehls ("whosoever, without seeking to evade recruitement or liability to military service, fails to obey a calling-up notice, in particular for an examination for recruitment, for an inspection, for training, or in respect of any other military obligation") zu Kriegszeiten mit Haftstrafe bis zu fünf Jahren bewährt. Art. 300 (1) legt die Haftstrafe für Desertion vom Militär ("whosoever, with intent to evade military service, quits his unit, post or military duties without proper authority, or fails to return to them after being absent with leave") auf bis zu fünf Jahre fest. Die Erkenntnismittel deuten darauf hin, dass die eritreischen Behörden neben dem unerlaubten Entfernen aus dem militärischen auch das Entfernen aus dem zivilen Teil des Nationaldiensts als Desertion ansehen (vgl. SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 21). Zwar sieht Art. 300 (2) des Strafgesetzbuchs von 1991 eine deutliche Verschärfung für den Fall der Desertion während Kriegszeiten vor. In diesem Fall liegt die Haftdauer zwischen fünf Jahren und lebenslänglich und in besonders ernsten Fällen ("grave cases") gilt sogar die Todesstrafe (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 43). Im Jahr 2015 wurde jedoch ein neues Strafgesetzbuch (abrufbar in englischer Sprache unter: https://www.ecoi.net/de/laender/eritrea/gesetzesuebersicht/) bekanntgegeben, das in Art. 119 (a) für die Störung des Militärdiensts ("Interference with Military Service") durch vorsätzliche "Entziehung" ("A person who intentionally evades compulsory military service knowing that he is not entitled to do so") in Friedenszeiten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren, in Kriegszeiten zwischen sieben und zehn Jahren (vgl. Art. 120) vorsieht. Die Todesstrafe in Fällen der Desertion ist hiernach abgeschafft und die Höchststrafe beträgt bei Wehrdienstentziehung - sei es durch Desertion oder Dienstverweigerung (vgl. SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22) - lediglich drei Jahre. Dies entspricht dem Strafrahmen für Diebstahl von Sachen im Wert zwischen 2.001 und 10.000 Nakfas (vgl. Art. 328 (1) (iii) ("Theft of Property")). Auch wenn das neue Strafgesetzbuch noch keine Anwendung finden soll (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 13, 19; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 43), sprechen die darin vorgesehenen - auch vergleichsweise - nicht exzessiv ausgestalteten Strafrahmen für die "Entziehung" vom Militärdienst, die (abgesenkten) Höchststrafen für Pflichtverstöße im Zusammenhang mit der Einberufung in den Nationaldienst und die Abschaffung der Todesstrafe in Fällen der Desertion dagegen, dass der eritreische Staat Verstöße gegen die Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes als einen Akt politischen Widerstands auffasst.

(b) Auch der tatsächlichen Strafpraxis sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass bei der Bestimmung der Strafe für die Entziehung vom Nationaldienst oder Desertion ein "Politmalus" strafschärfend eingestellt wird.

Es ist davon auszugehen, dass Strafen in der Praxis nicht den zuvor aufgeführten gesetzlichen Regelungen entsprechend, sondern außergerichtlich und willkürlich verhängt werden - häufig von Militärvorgesetzten - sowie ohne die Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen (vgl. HRC, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6.5.2022, S. 8; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, S. 42, 55; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 21, 24 u. 31; AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 40; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 21). Die eritreische Regierung gibt selbst an, dass Strafen nach "nichtöffentlichen internen Richtlinien" in einem "administrativen Verfahren" festgesetzt würden um die Gerichte zu entlasten (SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 26). Die Haftstrafen sind in der Regel kürzer als es das Gesetz vorsieht. Die faktische Zuständigkeit für die Festlegung des Strafmaßes ist unklar (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 31). Soweit Rückkehrenden neben der illegalen Ausreise das Umgehen der nationalen Dienstpflicht oder sogar Fahnenflucht vorgeworfen wird, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Betroffenen sich bei einer Rückkehr nach Eritrea wegen dieser Delikte zu verantworten haben. Die Bestrafung kann jedoch von einer bloßen Belehrung bis zu einer Haftstrafe reichen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 22 f.). Es wird auch berichtet, dass aufgegriffene Deserteure und Wehrdienstverweigerer ohne Anklage oder sonstiges Verfahren in "Incommunicado-Haft" genommen würden, wobei die Haftdauer zwischen einigen Tagen und mehreren Jahren variieren soll (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 42). Einfluss auf das Strafmaß sollen vorangegangene Straftaten, das Alter sowie die Frage, ob jemand Wiederholungstäter oder Schlepper ist, haben, es sei aber unklar, welcher Einfluss diesen Faktoren konkret zukommt (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 31).

Zwar können die beschriebene Bindungslosigkeit der staatlichen Strafgewalt und die z.T. unverhältnismäßig harten Strafen nach den vorstehend genannten Grundsätzen grundsätzlich auf eine hinter der Bestrafung stehende politische Motivation des eritreischen Staates hindeuten.

Allerdings trifft die Verhängung willkürlicher und außergerichtlicher, z.T. unverhältnismäßig harter Strafen in Eritrea nicht gerade nur Personen, die sich dem Nationaldienst entzogen haben oder aus ihm desertiert sind. Rechtsstaatlichkeit ist in Eritrea generell nicht gewährleistet, es gibt weder eine Gewaltenteilung noch eine unabhängige Justiz (USDOS, 2020 Country Report on Human Rights Practices: Eritrea, 30.03.2021, S. 3). So sind Verhaftungen ohne Haftbefehl und ohne Angabe von Gründen auch sonst üblich. Militärgerichte, vor denen keine Rechtsanwälte zugelassen sind, können jedes Verfahren an sich ziehen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 8, 13 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 7 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 28). Rechtswissenschaft kann seit der Schließung der Asmara Universität im Jahr 2006 nicht mehr studiert werden; viele Richter haben seither das Land verlassen (vgl. Bertelsmann Stiftung (BS), Country Report Eritrea, 29.4.2020, S.12). Die Verhängung von Gefängnisstrafen in einem willkürlichen, außergerichtlichen Verfahren kommt regelmäßig vor (vgl. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 28). Derart völlig willkürliches Vorgehen spricht indes eher gegen als für eine an die politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 31.18 -, juris Rn. 32).

Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Strafen für Verstöße gegen die Nationaldienstpflicht seit den Jahren 2014 bis 2016, erst recht aber seit der Einleitung des Friedensprozesses mit Äthiopien im Frühjahr 2018 und der zeitweiligen Grenzöffnung zwischen September 2018 und April 2019 offenbar milder ausfallen (vgl. SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 21, 31; OVG Bremen, Beschl. v. 24.1.2023 - 1 LA 200/21 -, juris Rn. 17; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.9.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 34). Das übliche Strafmaß soll Berichten zufolge bei einigen Monaten Haft liegen (vgl. SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 21).

Ein gewichtiges Indiz gegen die Annahme, die Bestrafung von Entziehung oder Desertion vom Nationaldiensts diene politischen Zwecken, ist zudem, dass die Strafzumessung kein einheitliches, verallgemeinerungsfähiges Bild zeigt (so auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 13; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.1.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 35; OVG D-Stadt, Beschl. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 57; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.7.2021 - A 13 S 1563/20 -, juris Rn. 58; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 82). Das Spektrum möglicher Sanktionen ist breit. So sieht nicht nur die Proklamation Nr. 82/1995 neben der Möglichkeit langer Haftstrafen auch die Verhängung von Geldstrafen vor, auch die tatsächlich verhängten Sanktionen weisen eine große Bandbreite auf. Neben den Haftstrafen, die - wie bereits ausgeführt - für sich genommen eine Spanne von wenigen Tagen bis zu mehreren Jahren umfassen können, kann die Bestrafung auch nur in einer Belehrung liegen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 23). Darüber hinaus wird über Fälle berichtet, in denen Betroffene einer Sanktionierung entgangen sind (vgl. USDOS, 2020 Country Report on Human Rights Practices: Eritrea, 30.03.2021, S. 6). Eine von SEM durchgeführte Befragung von Diplomaten und Vertretern internationaler Organisationen in Asmara zur Bestrafung von Desertion ergab ein heterogenes Bild, das darauf schließen ließ, dass es im Fall einer Desertion keine systematische Vorgehensweise seitens der eritreischen Behörden gibt (SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 18 f.). Ein Grund für kurze Haftdauern soll etwa darin liegen, dass betroffene Personen kurzfristig dem Nationaldienst zugeführt werden sollen, weil die große Anzahl von Deserteuren dort erhebliche Lücken hinterlasse (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 5 f.). Derartige Motive für die Strafzumessung deuten aber ebenso wenig wie die einschlägigen eritreischen Strafvorschriften, die ohne Anknüpfung an individuelle Persönlichkeitsmerkmale jeden eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen treffen, darauf hin, dass der Staat Eritrea Dienstverweigerern und Deserteuren, die sich im Land selbst oder durch Ausreise dem Nationaldienst entziehen, generell eine regimegegnerische Haltung zuschreibt. Würde der eritreische Staat demgegenüber allen Personen, die die Ableistung des Nationaldienstes umgehen, generell eine Regimegegnerschaft unterstellen, wäre hingegen zu erwarten, dass er diesem Umstand in der Bestrafungspraxis auch Rechnung trägt und alle Betroffenen im Wesentlichen gleichermaßen hart bestraft (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.1.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 35.; OVG D-Stadt, Beschl. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 57).

(c) Die vorliegenden Erkenntnismittel deuten aus Sicht des Senats auch nicht entscheidend darauf hin, dass die während der Haft zu erwartenden Bedingungen mit einem solchen "Politmalus" verbunden sind. Auch insofern unterscheidet sich die Strafverfolgungspraxis wegen Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst nicht von derjenigen bei anderen Delikten.

Der Senat hat mit Urteil vom 18. Juli 2023 (- 4 LB 8/23 -, juris Rn. 90 ff.) entschieden, dass die potentiell alle eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen treffenden Haftbedingungen in eritreischen Gefängnissen nach der vorliegenden Erkenntnismittellage sowohl den Tatbestand der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG als auch den Tatbestand der Folter erfüllen und diesbezüglich Folgendes ausgeführt:

"Die Haftbedingungen werden generell als prekär, unmenschlich und lebensbedrohlich beschrieben. Es wird übereinstimmend auf extreme Überbelegung, mangelnden Zugang zu Nahrung, Wasser und sanitären Einrichtungen, fehlende oder unzureichende medizinische Versorgung und Hygiene ("unspeakable hygienic conditions") hingewiesen. Die Zellen sind oft derart überfüllt, dass sich die Häftlinge nur abwechselnd oder gar nicht hinlegen können. In manchen Gefängnissen gibt es anstelle einer Toilette nur ein Loch im Boden oder einen Kübel. Hofgang wird nicht erlaubt. Der Zugang zu Tageslicht und Luft ist oft absichtlich auf das Minimum reduziert. Die Essensrationen sind klein und wenig nahrhaft, das Trinkwasser ist oft verschmutzt und der Zugang eingeschränkt. Da sich viele Haftanstalten in Wüstengegenden befinden, sind die Häftlinge zusätzlich extremer Hitze und Kälte ausgesetzt. Neben den offiziellen Hafteinrichtungen gibt es auch zahlreiche inoffizielle Gefängnisse. Einige Gefangene werden ohne Kontakt zur Außenwelt in Schiffscontainern, in denen es aufgrund des Klimas in Eritrea extrem heiß werden kann, unterirdischen Zellen, halb-unterirdischen Wassertanks und Wasserspeichern oder Schlachthöfen ohne Toiletten oder Betten festhalten. Aufgrund dieser Umstände kommt es in der Haft häufig zu Krankheiten und Epidemien, immer wieder auch zu Todesfällen einschließlich Hungertod (vgl. HRC, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6.5.2022, S. 9; HRC, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea (Advance Version), 6.5.2022, S. 238); US Department of State (USDOS), 2022 Country Report on Human Rights Practices: Eritrea, 20.3.2023, S. 3 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, S. 45 ff.; AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 47 ff.; AI, Auskunft an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 5; Bertelsmann Stiftung (BS), Country Report Eritrea, 29.4.2020, S. 13; Lifos, Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet (Lifos), Temarapport: Eritrea - fängelser och förvarsanläggningar, 12.9.2016, S. 6, 30 ff.). Schutzmaßnahmen sind für Inhaftierte nicht erreichbar. Viele Inhaftierungen werden bereits nicht offiziell dokumentiert, die Zustände in den Gefängnissen unterliegen außerdem keiner externen Überwachung und es existieren auch keine Beschwerdeverfahren (HRC, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea (Advance Version), 6.5.2022, S. 223 f., 226 f.). EASO betont, dass die Bedingungen auch in den Gefängnissen der Militäreinheiten prekär seien, sich auch hier Gefängnisse unterirdisch oder in Schiffscontainern befänden, häufig überfüllt und Hygiene, Medizin und Ernährung problematisch seien (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 41). Auch in den militärischen Strafanstalten sei Folter weit verbreitet (BS, Country Report Eritrea, 29.4.2020, S. 13).

(...)

Nach der vorliegenden Erkenntnismittellage ist davon auszugehen, dass Folter in eritreischen Gefängnissen "zur Tagesordnung" gehört (so auch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.7.2021 - A 13 S 1563/20 -, juris Rn. 57).

Es wird übereinstimmend berichtet, dass Folter in den eritreischen Gefängnissen sowie in den Haftanstalten des Militärs weit verbreitet sei (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, S. 47; Bertelsmann Stiftung (BS), Country Report Eritrea, 29.4.2020, S. 13; US Department of State (USDOS), 2022 Country Report on Human Rights Practices: Eritrea, 20.3.2023, S. 3 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 19.5.2021, S. 11). Folter werde regelmäßig ("routinely") und systematisch ("systematically") angewandt (HRC, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 4.6.2015, S. 6, 11; HRC, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 235). Folter und andere Formen von Misshandlungen in zivilen und militärischen Gefängnissen werden als "alltäglich" und prägend für die Haftbedingungen beschrieben (AI, Anfragebeantwortung an das VG Schwerin, 15.8.2016, S. 4), es heißt, Folter werde umfangreich und methodisch angewandt (vgl. HRC, Detailed findings of the commission of inquiry on human rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 26). Ehemalige Inhaftierte berichten von speziellen Folterräumen in den Gefängnissen (Republik.ch, Willkür, Folter, Zwangsarbeit: Wie schlimm ist es wirklich?, 10.4.2020, S. 7). Nach der Lage der Erkenntnismittel wird Folter zu unterschiedlichsten Zwecken eingesetzt und zwar nicht nur bei - aus Sicht des eritreischen Staats besonders bestrafungswürdiger - Regierungskritik und gegenüber religiösen Minderheiten, sondern auch zur Beschaffung von Informationen und Geständnissen und insbesondere auch als Mittel der Bestrafung der Häftlinge (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, S. 45 ff.; AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 50; HRC, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 4.6.2015, S. 12). So werden Häftlinge etwa wegen vermeintlicher Fluchtversuche, Infragestellung von Anweisungen, Bitten, Fragenstellen, Insubordination oder der Flucht anderer Gefangener gefoltert (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, S. 47; Republik.ch, Willkür, Folter, Zwangsarbeit: Wie schlimm ist es wirklich?, 10.4.2020, S. 6; HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 291). Vorgesetzte von Wachleuten und Vernehmungsbeamten scheinen Folter und Misshandlung zu tolerieren, zu fördern und sogar zu lehren (Lifos, Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet (Lifos), Temarapport: Eritrea - fängelser och förvarsanläggningar, 12.9.2016, S. 45). Zu den Foltermethoden gehören unter anderem Fesselungen über Tage oder sogar Wochen hinweg an Händen und/oder Füßen mit Seilen und Handschellen, das Verharren in einem Lastwagenreifen oder in extremer Hitze, Waterboarding sowie erzwungenes Barfußgehen oder Rollen über scharfe Gegenstände oder heißen Wüstenboden, hinzu kommen meist Schläge (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, S. 47; AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 50; AI, Anfragebeantwortung an das VG Schwerin, 15.8.2016, S. 5). Häftlinge werden zur Bestrafung oft mit dem Gesicht auf dem Boden liegend oder an einen Baum gefesselt und müssen dort für 24 bis 48 Stunden und manchmal noch länger verharren (USDOS, 2020 Country Report on Human Rights Practices: Eritrea, 30.3.2021, S. 3). Viele Todesfälle seien in diesen Haftbedingungen begründet (AI, Anfragebeantwortung an das VG Schwerin, 15.8.2016, S. 5). Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (United Nations Human Rights Council) entnimmt fast 300 Zeugenberichten aus dem Zeitraum zwischen 1991 und 2015, dass Folter besonders häufig in den Haftanstalten Barentu, Sawa, Adi Abeito, Tessenei, Assab, Wi'a, the 2nd Police Station/Karshele, Me'eter, Mai Serwa und Ala eingesetzt wird. Die Zeugenaussagen weisen darauf hin, dass gerade auch zwangsweise zurückgeführte Personen während ihrer Inhaftierung nach Ankunft in Eritrea der Folter unterzogen werden (HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 300). Angesichts der übereinstimmenden Berichte über die weite Verbreitung von Folter in zivil- und militärisch geführten Haftanstalten, der weitgehenden Toleranz und Förderung von Folter und anderen Misshandlungen durch Vorgesetzte der Wachleute und Vernehmungsbeamten sowie des Umstands, dass unterschiedliche Quellen Folter als regelmäßig bzw. alltäglich angewandtes Mittel der Informationsgewinnung und Bestrafung in eritreischen Gefängnissen beschreiben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Inhaftierte in eritreischen Haftanstalten nur in Einzelfällen einer als Folter zu wertenden Behandlung unterzogen werden."

Gemessen an diesen Ausführungen, an denen der Senat weiterhin festhält, deutet der Umstand, dass die Vollstreckung der Bestrafung von Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst mitunter unmenschlich und erniedrigend ausfällt und mit Folter verbunden ist, nicht entscheidend darauf hin, dass diese mit einem "Politmalus" verbunden ist. Denn unmenschliche Haftbedingungen und Folter sind danach in eritreischen Gefängnissen an der Tagesordnung. Auch wenn gerade der Einsatz von Folter ein Indiz für den politischen Charakter einer Maßnahme darstellen kann, kann angesichts der vorstehend aufgeführten übereinstimmenden Berichte über die generell, auch nicht-politische Häftlinge betreffenden prekären Haftbedingungen und die weit verbreitete Anwendung von Folter in Haftanstalten, u.a. zur Beschaffung von Informationen und Geständnissen und insbesondere auch als Mittel der Bestrafung der Häftlinge, nicht davon ausgegangen werden, dass als Folter oder unmenschlich und lebensbedrohlich zu wertende Behandlungen gerade Inhaftierte trifft, die sich dem Nationaldienst entzogen haben oder aus ihm desertiert sind und diese insoweit schlechter als andere Gefangene behandelt werden würden. Die dargestellten Bedingungen sind vielmehr Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des Regimes, dessen Durchsetzung gegenüber der Bevölkerung insgesamt - wie bereits ausgeführt - für sich genommen noch keine politische Verfolgung darstellt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.1.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 36; OVG D-Stadt, Beschl. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 57; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.7.2021 - A 13 S 1563/20 -, juris Rn. 57; Sächsisches OVG, Urt. v. 14.4.2021 - 6 A 100/19.A -, juris Rn. 34; Hessischer VGH, Urt. v. 23.2.2021 - 10 A 1939/20.A -, juris S. 19; OVG d. Saarlands, Urt. v. 21.3.2019 - 2 A 10/18 -, juris Rn. 27).

(d) Gegen die generelle Unterstellung einer Regimegegnerschaft durch den eritreischen Staat spricht schließlich auch, dass die anfängliche Funktion des Nationaldiensts als "Schule der Nation" in den Hintergrund getreten ist (vgl. OVG D-Stadt, Beschl. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 62; Hessischer VGH, Urt v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 15; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 106; vgl. auch HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 58). Der Nationaldienst dient heute neben Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Steigerung der Gewinne der staatlich unterstützten Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung. Angehörige des militärischen Teils des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, wie dem Bau von Wohnungen, Dämmen, Straßen, Kliniken oder Schulen, und in der Landwirtschaft. Angehörige des zivilen Teils des Nationaldienstes arbeiten zudem in Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f; HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 22 f.). In einem Interview im Jahr 2008 erklärte der eritreische Präsident Isaias Afewerki, dass es aufgrund des jahrelangen Kriegszustandes erforderlich gewesen sei, die Mehrheit der Jugendlichen zu mobilisieren; diese Ressource werde nunmehr genutzt, um eine solide Grundlage für die Wirtschaft des Landes zu schaffen (vgl. Ausschnitt des Interviews wiedergegeben in: HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 52). Vor diesem Hintergrund wird angenommen, dass der ursprünglich mit "legitimen Zielsetzungen" verbundene Nationaldienst wegen seines unbedingten und unbefristeten Charakters mittlerweile zu bloßer Zwangsarbeit "degeneriert" sei (vgl. Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, 15.10.2014, S. 16; AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 6, 12; HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 22, 52 f., 83), welche letztlich die eritreische Wirtschaft stützt. Dies rechtfertigt die Annahme, dass die durchaus empfindliche Bestrafung der Nationaldienstentziehung oder der Desertion allein darauf abzielt, die bestehende Herrschaftsstruktur zu sichern und insbesondere das auf der Langzeitverpflichtung der eritreischen Staatsbürger beruhende staatliche System am Leben zu erhalten. Insofern hat der eritreische Staat bei der Bestrafung der Nationaldienstentziehung oder Desertion auch nicht die Sanktionierung einer tatsächlichen oder unterstellten missliebigen politischen Überzeugung seiner Bürger im Blick, sondern die Durchsetzung der Dienstverpflichtungen im Interesse der Systemsicherung (vgl. Hessischer VGH, Urt v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 16; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 87).

(e) Die Annahme, dass der eritreische Staat die Flucht vor dem Nationaldienst ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht als (staatsgerichteten) Akt eines politischen Widerstands betrachtet, liegt auch deshalb nahe, weil Eritrea von einem Massenexodus betroffen ist und geschätzt mehr als die Hälfte der eritreischen Staatsangehörigen inzwischen im Ausland leben (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand: November 2021, S. 28). Bei einem solchen Massenexodus ist auch für die eritreische Regierung unübersehbar, dass die übergroße Zahl der Emigranten Eritrea in erster Linie aufgrund der prekären Lebensbedingungen im Nationaldienst und aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit verlässt, nicht hingegen vorrangig wegen einer regimefeindlichen Haltung (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 15; VGH Baden-Württemberg. Urt. v. 13.7.2021 - A 13 S 1563/20 -, juris Rn. 59; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 87). Dass dies dem eritreischen Staat nicht nur bekannt sein muss, sondern auch bekannt ist, zeigt sich auch daran, dass die Praxis, Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern systematisch mit Strafmaßnahmen zu belegen, eingestellt wurde (vgl. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 43), dass die Besoldung im Nationaldienst in einigen Bereichen überarbeitet worden ist (vgl. USDOS, Eritrea 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 23) und nicht zuletzt auch an der vorstehend beschriebenen erheblichen Absenkung des Strafmaßes für Verstöße gegen die Nationaldienstverpflichtung im neuen Strafgesetzbuch aus 2015.

(f) Gegen die Annahme, die eritreische Regierung schreibe jeder Person, die sich dem Nationaldienst entzogen hat oder aus ihm desertiert ist, generell eine politische Gegnerschaft zu, spricht zudem deutlich, dass der Staat Eritrea unter dem Eindruck dieses Exodus bei Auslandseritreern aus ökonomischen Gründen - jedenfalls für einen gewissen Zeitraum - auf den staatlichen Strafanspruch verzichtet, indem er ihnen Straffreiheit durch Gewährung des sog. Diaspora-Status gewährt.

Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreer angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren unbehelligt nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet zudem von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.) und seine Schutzwirkungen erstrecken sich insbesondere auch auf die Strafverfolgung wegen Umgehung des Nationaldiensts und/oder illegaler Ausreise (vgl. AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020, Gz.: 508-516.80/, Frage 1; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 9.12.2020 i. d. F. v. 25.1.2021, S. 21).

Der Diaspora-Status kann entweder bei dem Department für Einwanderung und Staatsangehörigkeit in Asmara oder bei den jeweiligen Botschaften vor Ort erlangt werden und ist in erster Linie für Eritreer gedacht, die im Ausland leben und Eritrea für eine kurze Zeit besuchen wollen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 62; AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 2). Zahlreiche eritreische Staatsangehörige nutzen den Diaspora-Status für Reisen nach Eritrea zu Urlaubs- und Besuchszwecken. Es existiert daher eine relativ große Personengruppe, die zwischen Eritrea und anderen Ländern hin- und herpendelt und dabei Geld und Konsumgüter ins Land bringt (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 22). Nach offiziellen Angaben reisen jährlich im Durchschnitt 95.000 Auslandseritreer - im Regelfall problemlos - vorübergehend nach Eritrea, eingeschlossen Personen, die sich bereits seit Jahrzehnten im Ausland aufhalten und fremde Staatsangehörigkeiten erworben haben (vgl. Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63). Hinter der Gewährung des Diaspora-Status steht der Wunsch, sich das Knowhow und die Investitionskraft der Auslandseritreer für den Fall ihrer Rückkehr zu sichern, aber auch durch regelmäßige Devisentransfers an ihre in Eritrea verbliebenen Familien die Wirtschaft des Landes zu stützen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 21). Allerdings können den Diaspora-Status auch Personen erhalten, die sich freiwillig längerfristig wieder in Eritrea niederlassen möchten. Diese werden zunächst wie Besucher aus der Diaspora behandelt, ihnen wird eine Art "Probezeit" gewährt, bevor man sie in den Nationaldienst aufbietet. Nach Auslaufen des Diaspora-Status werden sie wieder wie normale nationaldienstpflichtige Einwohner Eritreas behandelt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 62, 65; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33).

Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer (einen Betrag i.H.v. 2% seines Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen)) und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Darüber hinaus haben Eritreer, die - wie der Kläger - den Nationaldienst nicht geleistet oder nicht abgeschlossen haben, das Formular 4/4.2 zu unterschreiben, das umgangssprachlich als "Reueformular" bezeichnet wird (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 50 f.). Das "Reueformular" enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren (vgl. die englische Übersetzung der "Immigration and Citizenship Services Request Form" in: HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 477: "[...] I regret having committed an offence by not completing the national service and am ready to accept appropriate punishment in due course"). Nach Angaben der eritreischen Behörden ist die Unterzeichnung des Formulars zwar ein Schuldeingeständnis, auf eine Bestrafung wird aber faktisch verzichtet (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1. 2022, S. 5 f., 21 f.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63). Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).

Der Diaspora-Status wird in der sog. "Residence Clearance Form" dokumentiert, deren Gültigkeitsdauer zwischen sieben und zehn Jahren liegt (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9). Davon zu unterscheiden ist die Dauer der Wirkungen des Diaspora-Status. Je nach Quelle liegt diese zwischen sechs Monaten und einem Jahr (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 62 f.), einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea - National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36).

Zwar besteht auf die Erteilung des Diaspora-Status kein Rechtsanspruch; die behördlichen Richtlinien über die Erteilung des Diaspora-Status sind auch nicht veröffentlicht. Dennoch wird der Diasporastatus in der eritreischen Rechts- und Verwaltungspraxis im vorstehend genannten Sinne gelebt. Nach der Erkenntnismittellage wird die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status "bereinigt" haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020, Gz.: 508-516.80/, Frage 1).

Bereits die bloße Eröffnung der mit dem Diaspora-Status verbundenen straffreien Rückkehrmöglichkeit durch den Staat Eritrea spricht mit erheblichem Gewicht gegen die Annahme, die eritreische Regierung schreibe Rückkehrern aus dem Ausland, die sich ihrer Dienstpflicht durch illegale Ausreise entzogen haben, generell eine politische Gegnerschaft zu (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 8.7.2022 - 19 A 2568/21.A -, juris Rn. 5 u. v. 21.9.2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 104). Ob dem Kläger die Zahlung der sog. Diaspora-Steuer und eine Unterschrift unter die als Schuldeingeständnis zu wertende "Reueerklärung" zur Erlangung des Diaspora-Status hier im Einzelfall konkret zumutbar wäre, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend.

(g) Demgegenüber ist für die Frage des Vorliegens einer Verknüpfung im Sinn des § 3a Abs. 3 AsylG zwischen der Sanktionierung der Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst und einer dem Dienstpflichtigen zugeschriebenen oppositionellen politischen Überzeugung inzwischen - wie bereits ausgeführt - nur noch von geringerem Gewicht, dass der Staat Eritrea den Nationaldienst in der Zeit nach der Staatsgründung und nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien als politisches Projekt neben der Verteidigung zum Zweck des Wiederaufbaus des Landes und als "Schule der Nation" zur Vermittlung einer nationalen Ideologie an die Jugend konstituiert hat und ihm dementsprechend bis heute eine besondere ideologische und politische Bedeutung beimisst. Diesbezüglich wird auf die vorstehenden Ausführungen unter II. 4. b. bb. (1) (d) verwiesen.

Soweit der politische Charakter der Bestrafung von Nationaldienstdelikten in Eritrea im Kern schon allein daraus gefolgert wird, dass die eritreischen Behörden die Sanktionen üblicherweise ohne rechtsstaatliches Verfahren verhängen, keine objektiven Kriterien für die Festlegung der Dauer der Freiheitsentziehung ersichtlich sind und es während der Inhaftierung verbreitet zu Folter und Misshandlung kommt, genügen diese Umstände nach dem oben Ausgeführten nicht, um daraus einen politischen Charakter der genannten Sanktionen abzuleiten. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen unter II. 4. b. bb. (1) (a), (b) Bezug genommen.

Hinsichtlich vereinzelter Aussagen, dass der eritreische Staat Personen, die illegal ausgereist und sich dem Nationaldienst entzogen haben, als "Verräter" ansieht oder der Spionage verdächtigt (vgl. etwa AI, Gutachten im Verwaltungsgerichtsverfahren einer eritreischen Staatsangehörigen, 18.12.2020, S. 6; HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 114, 300; vgl. auch UK Upper Tribunal, Urt. v. 7.10.2016 - UKUT 443 (IAC) - Country guidance Nr. 12), ist zu beachten, dass etwa das zitierte Gutachten von Amnesty International keineswegs bestätigt, dass generell die Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung erfolgt. Hier ist lediglich die Rede davon, dass Nationaldienstverweigerer als Landesverräter oder Spion angesehen werden "könnten" und die Nationaldienstverweigerung als politische Opposition aufgefasst werden "kann".

Soweit für die Annahme, dass Personen, die sich dem Nationaldienst entziehen, als Gegner des Regimes angesehen würden, ins Feld geführt wird, dass im Jahr 2004 ein Schießbefehl bei illegalem Grenzübertritt eingeführt wurde (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 9.12.2020 i. d. F. v. 25.1.2021, S. 16; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 58), wird dieses Indiz erheblich dadurch abgeschwächt, dass dieser Schießbefehl in den letzten Jahren uneinheitlich und eher selten umgesetzt wurde (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1. 2022, S. 20; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 58).

Dass für die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung von Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründen auch ein Zusammenhang im Sinne einer nicht unmaßgeblichen Mitverursachung der Verfolgungshandlung durch einen von mehreren Verfolgungsgründen ausreichen mag, greift im hier vorliegenden Zusammenhang nicht zugunsten einer Verknüpfung im Sinn des § 3a Abs. 3 AsylG zwischen der Sanktionierung der Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst und einer dem Dienstpflichtigen zugeschriebenen oppositionellen politischen Überzeugung durch. Denn der Senat gelangt nach den vorstehenden Ausführungen gerade nicht zu der Annahme, dass der Staat Eritrea allen Dienstverweigerern und Deserteuren ohne weitere Anhaltspunkte eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt und somit - auch nicht in mitverursachender Weise - von einer politischen Gerichtetheit einer außergerichtlichen und willkürlichen Inhaftierung auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 26).

(h) Nach alledem zielen die Maßnahmen zur Sanktionierung einer Nationaldienstentziehung bzw. einer Desertion in Eritrea erkennbar nicht auf eine individuell unterstellte politische Überzeugung der Betroffenen. Sie sind vielmehr als Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des eritreischen Regimes zu deuten, dessen Durchsetzung gegenüber der Bevölkerung für sich genommen noch keine politische Verfolgung darstellt. Dient aber die Sanktionierung des Entzugs vom Nationaldienst vor allem der Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eigenen Staatsbürger, so ist sie vornehmlich ein Mittel, durch das der eritreische Staat allgemein versucht, seinen Herrschaftsanspruch zu sichern und gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen und keine Ahndung einer individuellen politischen Überzeugung des Einzelnen (vgl. Hessischer VGH, Urt v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 18).

(2) Anhaltspunkte dafür, dass im Fall des Klägers aufgrund individueller Umstände eine abweichende Betrachtung angezeigt wäre, liegen nicht vor. Er ist insbesondere nach eigenen Angaben weder in Eritrea noch in der Bundesrepublik oppositionell oder sonst politisch in Erscheinung getreten.

c. Es kann auch nicht von einer Verknüpfung der Sanktionierung der Nationaldienstentziehung bzw. Desertion mit dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden. Auch Deserteure und Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, bilden unter eritreischen Staatsangehörigen keine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinn der vorstehend genannten Regelungen. Für die Gruppe der Nationaldienstverpflichteten geht das Bundesverwaltungsgericht angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung davon aus, dass diese nicht von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 36). Für die Gruppe der Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben oder aus ihm desertiert sind, kann - auch vor dem Hintergrund der massenhaften Begehung dieser Delikte - nichts anderes gelten. Die Strafgesetze, die die Desertion und die Entziehung vom Nationaldienst sanktionieren, treffen ebenfalls unterschiedslos alle eritreischen Staatsangehörigen. Dass diejenigen, die die diesbezüglichen Strafgesetze verletzen, von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und daher in Eritrea eine deutlich abgegrenzte Identität hätten, ist nicht erkennbar (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 32 zu der Gruppe der Familien eritreischer Deserteure; Sächsisches OVG, Urt. v. 14.4.2021 - 6 A 100/19.A -, juris Rn. 40).

5. Auch die Strafverfolgung wegen illegaler Ausreise knüpft nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für sich genommen an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal, insbesondere nicht an eine (vom eritreischen Staat unterstellte) politische Überzeugung an (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 24.1.2023 -1 LA 200/21 -, juris Rn. 14 u. v. 29.7.2022 - 1 LA 284/21 -, juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.9.2022 - OVG 4 B 14/21 -, juris Rn. 25; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2022 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 16; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.1.2022 - A 13 S 2403/21 -, juris S. 12; OVG D-Stadt, Urt. v. 2.9.2021 - 4 Bf 546/19.A -, juris Rn. 52, 56; Hessischer VGH, Urt. v. 3.8.2021 - 10 A 273/20.A -, juris S. 18; Sächsisches OVG, Urt. v. 14.4.2021 - 6 A 100/19.A -, juris Rn. 41; Bayerischer VGH, Urt. v. 5.2.2020 - 23 B 18.31593 -, juris Rn. 51; OVG d. Saarlandes, Urt. v. 21.3.2019 - 2 A 10/18 -, juris Rn. 24; vgl. auch Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 4 LA 167/20 -, juris Rn. 4).

a. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich die Frage, ob eine Bestrafung wegen unerlaubten Verlassens des Heimatstaates kriminellen oder politischen Charakter hat, nicht allgemein beantworten, sondern entscheidet sich nach dem Strafzweck, dem Maß der Strafe sowie den Umständen der "Tatbegehung" (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.10.1971 - 1 C 30.68 -, juris Rn. 9), das heißt danach, ob die Bestrafung in Anknüpfung an die - jedenfalls vermutete - politisch-oppositionelle Überzeugung des Täters erfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.3.1994 - 9 C 510.93 -, juris Rn. 14). Politische Verfolgung liegt dann vor, wenn die Strafdrohung der Abwehr und Ahndung des auf abweichender politischer Überzeugung beruhenden Wunsches dient, in einem anderen Lande leben zu können (BVerwG, Urt. v. 15.3.1994 - 9 C 510.93 -, juris Rn. 14). Asylberechtigt ist derjenige, der (auch) in einer von der herrschenden Staatsdoktrin abweichenden politischen Überzeugung getroffen werden soll, die sein Heimatstaat allein schon wegen des unerlaubten Aufenthalts im Ausland annimmt (BVerwG, Urt. v. 6.12.1988 - 9 C 22.88 -, juris Rn. 11). Hingegen kommt Strafvorschriften, die der Durchsetzung ordnungsrechtlicher Aus- und Einreisebestimmungen dienen, kein politischer Charakter zu. Diese Unterscheidung kann grundsätzlich nicht getroffen werden, ohne die Eigenart des Staates in Betracht zu ziehen, von dem die Bestrafung ausgeht. Gestattet er seinen Staatsangehörigen die Ausreise und den Aufenthalt im Ausland, die grundsätzlich verhindert werden sollen, nur ausnahmsweise und unter politischen Gesichtspunkten, so erfüllt die Bestrafung der unerlaubten Ausreise in aller Regel dieselbe Funktion wie eine nach innen befestigte und bewachte Grenze: Sie soll eine "Abstimmung mit den Füßen" verhindern (BVerwG, Urt. v. 26.10.1971 - 1 C 30.68 -, juris Rn. 10). Allein aus dem Inhalt der jeweiligen Strafvorschriften lässt sich daher noch nicht beantworten, ob drohender Bestrafung wegen unerlaubter Ausreise bzw. unerlaubten Verbleibens im Ausland asylerhebliche Bedeutung zukommt. Es müssen vielmehr die Gesamtverhältnisse im Herkunftsland berücksichtigt werden (BVerwG, Urt. v. 31.3.1981 - 9 C 1.80 -, juris Rn. 12 f.).

b. In Anwendung dieser Grundsätze lässt sich hinsichtlich der Bestrafung wegen illegaler Ausreise in Eritrea ein politischer Charakter nicht feststellen Bei einer qualifizierenden Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel ist nicht ersichtlich, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, der Eritrea illegal verlassen hat, einen auf abweichender politischer Überzeugung beruhenden Wunsch, in einem anderen Land zu leben, unterstellt und diesen mit Mitteln des Strafrechts ahndet.

aa. Der Strafrahmen für die Sanktionierung von Verstößen gegen die Ausreisebestimmungen ist nicht exzessiv ausgestaltet. Gemäß Art. 29 Abs. 2 der Proklamation Nr. 24/1992 (abrufbar in englischer Sprache unter http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=54c0d9d44) wird die - auch nur versuchte - illegale Ausreise aus Eritrea, welche insbesondere dann vorliegt, wenn der Ausreisewillige kein gültiges Ausreisevisum besitzt, mit einem Strafmaß von bis zu fünf Jahren Haft und/oder Geldstrafe bestraft.

bb. Auch die Strafpraxis lässt nicht den Schluss zu, dass der eritreische Staat allen illegal ausgereisten Personen einen auf abweichender politischer Überzeugung beruhenden Wunsch, in einem anderen Land zu leben, zuschreibt. Fälle, in denen ein eritreischer Staatsangehöriger nach Wiedereinreise allein aufgrund seiner illegalen Ausreise bestraft worden wäre, sind weder dem Auswärtigen Amt (vgl. AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische VG vom 14.4.2020, Gz.: 508-516.80/, Frage 1) noch dem norwegischen Herkunftsländerinformationszentrum Land-Info (LandInfo, Respons, Eritrea: Utreise, 2.4.2019, S. 8) bekannt. Daraus wird der Schluss gezogen, dass es nicht die illegale Ausreise an sich, sondern deren Begleitumstände (u.a. exilpolitische Tätigkeiten) sind, die ein Bestrafung nach sich ziehen (LandInfo, Respons, Eritrea: Utreise, 2.4.2019, S. 8; UK Upper Tribunal, Urt. v. 7.10.2016 - UKUT 443 (IAC) - S. 213 (Rn. 61)).

cc. Gegen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung wegen einer unterstellten regimekritischen politischen Überzeugung spricht zudem, dass illegal ausgereiste eritreische Staatsangehörige - wie bereits ausgeführt - die Möglichkeit haben, durch Zahlung der Diaspora-Steuer und Unterzeichnung der "Reueerklärung" ohne weitere Sanktionierung Reisepässe zu erhalten, sowie unbehelligt zurück nach Eritrea zu reisen und sich dort vorübergehend aufzuhalten.

dd. Dass die Strafdrohung für illegale Ausreise nicht der Abwehr und Ahndung des auf abweichender politischer Überzeugung beruhenden Wunsches, in einem anderen Lande leben zu können, dient, zeigt sich auch daran, dass die Erteilung von Ausreisevisa nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, sondern vor allem vom Alter der betroffenen Person bzw. vom Nachweis der Erfüllung der Nationaldienstpflicht (oder einer Befreiung hiervon) abhängig ist (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Eritrea: illegal exit and national service, Juli 2018, S. 45).

ee. Die Annahme, dass der eritreische Staat nicht die illegale Ausreise aus Eritrea an sich als (staatsgerichteten) Akt eines politischen Widerstands betrachtet, wird schließlich dadurch gestützt, dass es sich bei der illegalen Ausreise aus Eritrea um ein Massenphänomen handelt und auch dem eritreischen Staat bekannt sein muss bzw. ist, dass ein Großteil der illegal Ausreisenden in erster Linie aufgrund der prekären Lebensbedingungen und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit das Land verlässt und nicht wegen einer regimekritischen Haltung. Diesbezüglich wird auf die vorstehenden Ausführungen unter 4. b. bb. (1) (e) verwiesen.

6. Dem Kläger droht auch nicht eine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, weil er einen Asylantrag im Ausland gestellt hat.

Die Erkenntnisquellen geben nichts Durchgreifendes dafür her, dass der eritreische Staat diesem Umstand neben bzw. nach der illegalen Ausreise und/oder der Nichtableistung des Nationaldienstes durchgreifende Bedeutung zumisst. Erfahrungen deutscher Behörden mit anerkannten Asylbewerbern aus Eritrea zeigen, dass diese trotz ihrer behaupteten politischen Verfolgung unbehelligt zu Besuchszwecken nach Eritrea einreisen konnten. Die bloße Stellung eines Asylantrags ziehe keine Bestrafung nach sich (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 21). Gescheiterte Asylbewerber sollen bei Rückkehr nicht der Gefahr einer Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens ausgesetzt sein (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Eritrea: illegal exit and national service, September 2021, S. 14). Soweit in einer Stellungnahme von Amnesty International (AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 3) ausgeführt wird, Berichte zurückgeführter Asylbewerber legten nahe, dass die Beantragung von Asyl im Ausland von der eritreischen Regierung als Kritik angesehen werde, betreffen die in Bezug genommenen Erkenntnisse ersichtlich nicht Fälle, in denen allein eine Asylantragstellung Anknüpfungspunkt für Maßnahmen des eritreischen Staates gewesen sein konnte. Dementsprechend wird in einer früheren Stellungnahme von Amnesty International auch - zutreffend - darauf hingewiesen, dass es praktisch nicht vorkomme, dass ein Eritreer ein Asylgesuch gestellt habe, ohne zuvor unrechtmäßig aus Eritrea ausgereist zu sein oder sich dem Nationaldienst entzogen zu haben, so dass sich keine Aussage darüber treffen lasse, ob allein das Stellen eines Asylgesuchs - unter der Prämisse der rechtmäßigen Ausreise und der Freistellung vom nationalen Dienst - zu Reaktionen durch die eritreischen Behörden führen würde (vgl. AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 4; siehe auch UK Home Office, Country Policy and Information Note, Eritrea: illegal exit and national service, September 2021, S. 53, wo unter Wiedergabe einer Auskunft von LandInfo vom 27.4.2016 ausgeführt wird, dass keine empirische Grundlage für eine Aussage dazu bestehe, dass ein Asylantrag für sich genommen zu Reaktionen von eritreischen Behörden führt). Dass einer Asylantragstellung keine entscheidende Bedeutung zukommt, zeigt zudem der oben beschriebene Umgang des eritreischen Staates mit freiwilligen Rückkehrern, zu denen auch anerkannte Asylbewerber zählen.

7. Die Gefahr einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung folgt schließlich auch nicht aus der Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er lehne die Unterzeichnung der "Reueerklärung" ab, weil er bereits zwei Geschwister verloren habe und mit Sicherheit selbst sterben würde, wenn er die "Reueerklärung" unterzeichne.

a. Zwar führt die plausibel bekundete Erklärung eines eritreischen Staatsangehörigen, er lehne die Abgabe der "Reueerklärung" ab, nach der Rechtsprechung des Senats in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2023 (- 4 LB 8/23 -) im Ergebnis dazu, dass sich die asylrechtliche Gefahrenprognose wegen subjektiver Unzumutbarkeit der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise und Rückkehr nach Eritrea auf das Szenario der zwangsweisen Rückkehr nach Eritrea verengt (vgl. Senatsurt. v. 18.7.2023 - 4 LB 8/23 -, juris Rn. 49 ff.).

Zudem ist mit der vorstehend zitierten Senatsrechtsprechung davon auszugehen, dass zwangsweise nach Eritrea zurückgeführte Personen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert werden und anschließend, soweit sie - wie der Kläger - noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen müssen (vgl. Senatsurt. v. 18.7.2023 - 4 LB 8/23 -, juris Rn. 51 ff.).

Es kann jedoch nicht festgestellt werden, dass die beschriebenen Behandlungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal, insbesondere an eine zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen. Die vorliegenden Erkenntnismittel geben nichts Durchgreifendes dafür her, dass der eritreische Staat gerade zwangsweise zurückgeführten Personen eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt und die ihnen drohende Inhaftierung nach der Ankunft in Eritrea bzw. die anschließende Verwendung im militärischen Teil des Nationaldiensts davon jedenfalls mitgeprägt ist.

aa. Allein der Umstand, dass zwangsweise nach Eritrea zurückgeführte Personen nach Ankunft in Eritrea in Haft genommen werden, lässt aus Sicht des Senats nicht den Schluss zu, dass der eritreische Staat jeder zwangsweise zurückgeführten Person generell eine politische Gegnerschaft zuschreibt. Bezüglich der im Anschluss an eine zwangsweise Rückführung nach Eritrea zu erwartenden Inhaftierung ist der Senat in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2023 (- 4 LB 8/23 -, juris Rn. 49 ff.) von folgender Erkenntnismittellage ausgegangen:

"EASO berichtet unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundenen Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die - wie der Kläger - noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Nach Auffassung von SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer "giffa" der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. dazu unter II. 2. a. bb. (1)). Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen weist darauf hin, es sei ein typisches Muster ("common pattern"), dass zwangsweise zurückgeführte Personen nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert und Verhören unterzogen werden (HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 300). Bis auf ein paar Ausnahmen seien alle zwangsweise zurückgeführten Personen inhaftiert worden (HRC, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 4.6.2015, S. 7). Laut Amnesty International bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass jeder, der im (annähernd) dienstfähigen Alter nach Eritrea zurückgeführt wird, willkürlicher Festnahme ohne Anklage unterliege und Folter und anderen Misshandlungen begegne. Ziel sei der Informationsgewinn darüber, wie und in wessen Begleitung die Personen das Land verlassen haben. Anschließend würden diese Personen - erstmalig oder erneut - dem Nationaldienst zugeführt (AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 9). Bei einer Massenrückführung im Jahr 2016 seien alle 400 aus dem Sudan zurückgeführten Personen inhaftiert worden (AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 3). Aufschluss darüber, wie mit zurückgeführten Personen verfahren wird, lieferten die Erkenntnisse über die Behandlung von Personen, die bei dem Versuch, sich dem Wehr- und Nationaldienst zu entziehen, von ihm zu desertieren oder das Land zu verlassen, aufgegriffen wurden (AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 3). Das US Department of State führt aus, dass aus dem Ausland abgeschobene Eritreer ebenso wie bei einem Fluchtversuch aufgegriffene Personen der Gefahr der Verhaftung, Inhaftierung oder Einberufung in den Nationaldienst bei Rückkehr ("upon return") ausgesetzt seien (USDOS, Trafficking in Persons Report, June 2016, S. 166)."

Gemessen daran liegt es angesichts der übereinstimmenden Berichte über die während der Haft erfolgenden Überprüfungen zwangsweise zurückgeführter Personen hinsichtlich ihres Nationaldienststatus, die in der Haft stattfindenden Verhöre mit dem Ziel des Informationsgewinns darüber, wie und in wessen Begleitung die Person das Land verlassen hat und die regelhaft aus der Haft heraus erfolgende direkte Überführung in den Nationaldienst sowie angesichts der in verschiedenen Berichten gezogenen Parallele zu der Verfahrensweise bei Razzien und Aufgriffen im Inland, aus Sicht des Senats deutlich näher, dass die Inhaftierung zwangsweise nach Eritrea zurückgeführter Personen der Ermittlung des (Nationaldienst-)Status der Betroffenen, dem Informationsgewinn über mögliche weitere Wehrdienstentziehungen und der kurzfristigen Zuführung zum Nationaldienst dient, als dass der eritreische Staat allgemein eine oppositionelle Haltung aufgrund der zwangsweisen Rückführung unterstellt und diese mittels Inhaftierung ahndet.

bb. Die vorliegenden Erkenntnismittel deuten aus Sicht des Senats auch nicht entscheidend darauf hin, dass die während der Haft oder nach Überführung in den Nationaldiensts zu erwartenden Bedingungen durch Zuschreibung einer oppositionellen Haltung zumindest mitgeprägt sind.

Unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen und Folter treffen in eritreischen Gefängnissen nach der bereits zitierten Rechtsprechung des Senats potentiell alle eritreischen Staatsangehörigen, insofern unterscheiden sich die Bedingungen für zwangsweise zurückgeführte Personen nicht entscheidend von den Bedingungen für andere Inhaftierte. Diesbezüglich wird auf die vorstehenden Ausführungen unter 4. b. bb. (1) (b) verwiesen. Gleiches gilt im Wesentlichen für die zu erwartenden Bedingungen im Nationaldienst. Zwar ist - wie bereits ausgeführt - davon auszugehen, dass zwangsweise zurückgeführte Personen in der Regel dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeführt werden, in dem die Bedingungen deutlich härter sind als im zivilen Teil des Nationaldiensts (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40). Allerdings ist auch hier zu berücksichtigen, dass insgesamt etwas weniger als die Hälfte aller Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldiensts dient, neben zwangsweise zurückgeführten Personen insbesondere auch Schulabsolventen mit mittelmäßigen oder schlechten Schulabschlüssen und Schulabbrecher sowie im Inland im Rahmen von "giffas" oder bei dem Versuch der illegalen Ausreise aufgegriffene Deserteure und Wehrdienstverweigerer (vgl. die obigen Ausführungen unter 3.) und dass als unmenschlich und erniedrigend bzw. als Folter einzuordnende Behandlungen und Bestrafungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausnahmslos alle Dienstverpflichten im militärischen Teil des Nationaldiensts treffen (vgl. Senatsurt. v. 18.7.2023 - 4 LB 8/23 -, juris Rn. 96 ff.).

Angesichts dessen fehlt es von vornherein an Anhaltspunkten dafür, dass unmenschliche Behandlungen während der Haft oder des Nationaldiensts zielgerichtet eingesetzt werden, um zwangsweise zurückgeführte Personen wegen ihrer - auch nur zugeschriebenen - politischen Überzeugung zu treffen.

b. Dass der eritreische Staat allein aus dem Nichtvorliegen einer unterzeichneten "Reueerklärung" Rückschlüsse auf einen politischen Widerstand zieht, erscheint schon deshalb nicht beachtlich wahrscheinlich, weil zwangsrückgeführten Personen - anders als freiwilligen Rückkehrer - von vornherein nicht die Möglichkeit gewährt wird, ihren Status gegenüber den Behörden u.a. durch Unterzeichnung der "Reueerklärung" zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44). Im Übrigen liegen keine Erkenntnisse vor, die darauf hindeuten, dass der eritreische Staat auf die Weigerung der Unterzeichnung des "Reueformulars" mit Sanktionen reagiert (vgl. dazu AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 10).

8. Eine andere Beurteilung der Gefährdungslage ergibt sich auch nicht aus einer Gesamtbetrachtung der gefährdungsrelevanten Einzelaspekte. Die Entziehung vom Nationaldienst erfolgt regelmäßig durch illegale Ausreise; die Asylantragstellung im Ausland ist grundsätzlich die einzige Möglichkeit, dort den Aufenthalt zu sichern. Insoweit ist es fernliegend, dass der eritreische Staat aufgrund der Kombination die politische Gesinnung eines Rückkehrers anders bewertet (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 25.5.2021 - 4 LB 289/18 OVG -, juris S. 17). Auch besondere Umstände in der Person des Klägers, die die Annahme nahelegen, dass der eritreische Staat ihm eine oppositionelle Haltung zuschreiben könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO oder § 78 Abs. 8 AsylG liegen nicht vor.