Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 08.08.2023, Az.: 12 A 1275/18

Vollablehnung arabischer Yezide aus Bashika

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
08.08.2023
Aktenzeichen
12 A 1275/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 29468
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0808.12A1275.18.00

Tenor:

Die Regelung in Nr. 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.01.2018 zum Einreise- und Aufenthaltsverbot wird aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der Kläger ist am 22.07.1969 in G. in der Provinz Ninive (Irak) geboren. Er ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Im Oktober 2017 reiste er über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 02.11.2017 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 15.11.2017 führte er aus, der sog. Islamische Staat (IS) habe die Yeziden angegriffen. Viele seien getötet worden, so auch drei seiner Cousins. Sein Haus und das seines Bruders seien bei einer Bombardierung von G. zerstört worden. Sie hätten ihr Dorf und damit auch ihr Land verlassen müssen. Auf der Flucht vor dem IS sei er von einem Berg gestürzt und habe sich ein Bein gebrochen. Die anschließende Operation sei nicht erfolgreich gewesen. Nach den Unruhen sei er von G. in die Stadt H. umgezogen. Da die Mieten dort so hoch gewesen seien, sei er nach 14 Monaten zu seinem Bruder in das Dorf I. in der Nähe von Dohuk gezogen. Von dort aus sei er nach 4 Monaten über Bagdad nach Europa ausgereist. Für den Fall einer Rückkehr in den Irak habe er keine Angst, aber er habe dort nichts mehr und seine erwachsenen Kinder und zwei Geschwister lebten in Deutschland. Er sei gehbehindert und habe Herzprobleme.

Mit Bescheid vom 29.01.2018 - zugestellt am 01.02.2018 - lehnte das Bundesamt es ab, den Kläger als asylberechtigt anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (Nrn. 1 bis 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Nach Ablauf einer Ausreisefrist 30 Tagen drohte es dem Kläger die Abschiebung in den Irak oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nrn. 5 und 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Heimatregion des Klägers sei vom IS befreit, so dass bei einer Rückkehr von keiner Gruppenverfolgung der Yeziden mehr auszugehen sei. Individuell sei der Kläger nicht verfolgt worden, insbesondere sei er nicht persönlich durch den IS bedroht worden. Die vorgetragenen Ereignisse würden keine flüchtlingsschutzrelevante Intensität erreichen. Teile seiner Familie, u.a. auch seine Ehefrau, würden weiterhin in der Heimatprovinz leben. Auch nach den Angaben des Klägers habe es seit dem Einmarsch des IS im Jahr 2014 keine weiteren Vorfälle gegeben und hätten sie lediglich unter schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen leben müssen. Dem Kläger drohe auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Asylgesetz (AsylG). Ihm drohe weder die Todesstrafe noch die Tötung durch nichtstaatliche Akteure oder Folter, unmenschliche oder erniedrigende Handlung oder Bestrafung. In keiner irakischen Provinz erreiche die willkürliche Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts das für eine Schutzgewährung für Zivilpersonen erforderliche hohe Niveau und der Kläger habe auch keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vorgetragen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers nicht. Er könne mit der Unterstützung seiner im Irak und im Ausland lebenden Verwandten rechnen. So hätte seine Familie in Schweden, Deutschland und Irak ihm bei der Finanzierung seiner Ausreise geholfen und zuvor habe er mietfrei bei seinem Bruder in der Nähe von Dohuk gelebt. Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG lägen nicht vor. Die von ihm behaupteten Herzprobleme seien bereits im Irak aufgetreten und behandelt worden. Der Wunsch nach einer besseren Behandlung rechtfertige nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots. Zudem habe der Kläger keine ärztlichen Unterlagen vorgelegt. Bei der Befristung des Einreise- u. Aufenthaltsverbots könnten die in Deutschland lebenden erwachsenen Verwandten des Klägers nicht berücksichtigt werden, weil zur Kernfamilie nur der Ehegatte und minderjährige Kinder zählen würden.

Am 13.02.2018 hat der Kläger Klage erhoben. Er macht geltend, Yeziden aus der Provinz Ninive unterlägen einer Gruppenverfolgung. Die Verfolgung der Yeziden durch den IS, der im Sommer 2014 unter anderem Mossul, die Herkunftsregion des Klägers, besetzt habe, sei zwischenzeitlich von mehreren internationalen Organisation und Staaten, auch vom Irak, als Völkermord anerkannt worden. Fast keiner der Täter habe sich aber vor Gericht verantworten müssen. Die Verbrechen, die der IS an den Yezidinnen und Yeziden begangen habe, würden fortwirken. Im Oktober 2020 sei das Schicksal von etwa 2.800 Entführungsopfern noch ungewiss gewesen und im Jahr 2021 hätten noch rund 200.000 Yeziden als Binnenvertriebene im Irak gelebt, die meisten von ihnen ihn Flüchtlingscamps. Viele Yeziden würden infolge der Erlebnisse und der anhaltend schlechten Situation unter starkem psychosozialen Stress leiden. Auch der Kläger sei aufgrund der drohenden Verfolgung durch den IS aktuell noch psychisch belastet. Insbesondere der Anblick getöteter Menschen auf der Straße dränge sich wie ein Film immer wieder in sein Bewusstsein und quäle ihn in Albträumen. Infolge der Situation während der Herrschaft des IS empfinde er starkes Misstrauen gegenüber anderen Menschen und habe kein Vertrauen in sein Herkunftsland. Als der IS das Dorf des Klägers gestürmt habe, habe er nicht fliehen können und sich auf den Dächern versteckt. Beim Versuch, unbemerkt zu entkommen, sei der vom Dach gefallen, habe sich das Bein gebrochen und sei in Gefangenschaft des IS geraten. Da der Bruch nicht sofort behandelt worden sei, leide er bis heute an einer schmerzhaften Gehbehinderung. Während der Gefangenschaft sei er gezwungen worden, zum Islam zu konvertieren. Er sei massiv gefoltert worden und habe tagelang kein Wasser trinken dürfen. Er sei gezwungen worden, zu beobachten, wie der IS unschuldige Menschen ermordet habe. Die Gefangenschaft habe massive psychische und physische Spuren hinterlassen. Während der Gefangenschaft habe er mitbekommen, wie muslimische Araber und Kurden aus den Nachbardörfern mit dem IS kollaborierten. Diese Unterstützer würden das Dorf des Klägers und die Region auch nach der Befreiung vom IS unter Kontrolle halten und Yeziden und Christen mit Todesdrohungen von der Rückkehr abhalten. Insbesondere nach dem gescheiterten Referendum Ende 2017 habe eine zunehmende Arabisierung der Region stattgefunden. Yeziden seien sowohl in der Herkunftsregion Ninive als auch in Kurdistan-Irak Diskriminierungen seitens der muslimischen Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. Es sei zu berücksichtigen, dass die Verfolgung in einer feindlichen Haltung der Bevölkerung nachwirke. Angesichts des besonders schwerwiegenden Verfolgungsschicksals des Klägers, der hierauf beruhenden, fortdauernden psychischen Belastungen, des fehlenden Vertrauens des Klägers in sein Herkunftsland und der anhaltenden Diskriminierungen der yezidischen Bevölkerung dort könne vom Kläger keine Rückkehr erwartet werden. Die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, wonach in der Region Ninive keine Gruppenverfolgung von Yeziden stattfinde, hätten Dörfer um Shingal betroffen. Der Kläger stamme jedoch aus der Region G., die nach wie vor als gefährlich eingestuft werde. Die Yeziden aus G. würden von den benachbarten muslimischen Familien, die mit dem IS zusammengearbeitet hätten, religiös verfolgt. Jedenfalls seien wegen der schlechten humanitären Verhältnisse die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt. Der Kläger verfüge im Irak über kein familiäres oder soziales Netz, da alle seine Verwandten in Deutschland leben würden. Zudem sei er krank und werde ärztlich behandelt und sei daher vulnerabel.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Teilaufhebung des Bescheides vom 29.01.2018 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Irak vorliegen,

höchst hilfsweise, Ziffer 6 des Bescheides vom 29.01.2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Der Kläger hat sich in der mündlichen Verhandlung am 27.03.2023 und die Beklagte hat sich bereits mit der Klagerwiderung mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Sohn des Klägers, J., als Zeugen vernommen.

Hinsichtlich der Zeugenaussage und wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 27.03.2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung entscheiden.

Die Klage ist zulässig, hat in der Sache aber nur in geringem Umfang Erfolg.

Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (nachfolgend unter I.) noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (II.) oder auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG (III.). Auch die Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden (IV.). Allein das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot erweist sich als rechtswidrig und rechtsverletzend (V.), weshalb die Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes vom 29.01.2018 aufzuheben ist, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO.

I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Als derartige Verfolgung kann nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Die Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. ausführlich u. m.w.N. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16 ff.). Die jeweilige Beurteilung unterliegt dabei einer freien Würdigung durch den Tatrichter (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch wenn hinsichtlich der zu treffenden Prognose, ob die Gefahr einer Verfolgung droht bzw. die Gefahr einer Verfolgungswiederholung nicht auszuschließen ist, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle richterliche Überzeugung erlangt haben muss. Hierfür bedarf es einer hinreichenden Tatsachengrundlage. Dabei ist die regelmäßig bestehende besondere Beweisnot des materiell beweisbelasteten Schutzsuchenden dadurch zu berücksichtigen, dass dessen eigenen Erklärungen gegebenenfalls größere Bedeutung beizumessen ist, als dies meist sonst bei Beteiligtenangaben der Fall ist, weil in der Regel unmittelbare Beweise im Herkunftsland nicht erhoben werden können. Das Gericht muss sich in diesem Fall jedoch schlüssig davon überzeugen, dass es den Angaben des Klägers glaubt. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.1985 - 9 C 27.85 -, juris Rn. 15 ff.).

Nach diesen Maßgaben besteht für den Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr in den Irak keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen.

1. Soweit der Kläger erstmals im Klageverfahren eine individuelle Vorverfolgung geltend gemacht hat, hält die Einzelrichterin sein Vorbringen nicht für glaubhaft. Zum einen hat er von den einschneidenden Erlebnissen, vom IS gefangengenommen, festgehalten, gefoltert, zum Zuschauen bei der Ermordung von Mitgefangenen und zur Konversion gezwungen zu werden, bei seiner Befragung vor dem Bundesamt noch nicht berichtet. Vielmehr hat er die Frage, ob er selbst Augenzeuge oder Opfer von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Übergriffen von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung war, verneint, und lediglich geschildert, nach dem Angriff des IS hätten sie ihr Dorf verlassen. Hätte der Kläger bei der Befragung vor dem Bundesamt aus Angst nicht über tatsächlich erlebte Geschehnisse berichten können, wie er in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt erklärt hat, wäre es naheliegend und auch geboten gewesen, dies bei der erstmaligen Schilderung gegenüber dem Gericht zu benennen. Zudem blieb seine Darstellung der Vorgänge sehr vage und detailarm. Die Kopie des Schreibens, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, hat geringe Beweiskraft. Ein derartiges Schreiben kann von jedermann ohne Weiteres selbst am PC erstellt werden und es nicht nachvollziehbar, weshalb der Kläger es erst etliche Jahre, nachdem er es erhalten haben will, vorgelegt hat. Des Weiteren hat der Kläger hinsichtlich eines wesentlichen Handlungselements äußerst widersprüchliche Angaben gemacht, ohne dies nachvollziehbar erklären zu können. So hat er vor dem Bundesamt vorgetragen, als sie vor dem IS geflohen seien, sei er unterwegs vom Berg gefallen und habe sein Bein gebrochen. In K. sei es operiert worden, aber nicht so erfolgreich. Demgegenüber hat er in der ergänzenden Klagebegründung dargelegt, als der IS das Dorf gestürmt habe, habe er sich auf den Dächern versteckt, sei beim Versuch, unbemerkt zu fliehen, vom Dach gefallen, habe sich das Bein gebrochen und sei in Gefangenschaft des IS geraten. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger hingegen angegeben, er habe sich mit drei anderen Dorfbewohnern im Keller eines Nachbarhauses versteckt, dort habe der IS sie aufgegriffen und geschlagen und sein Bein gebrochen. Diese drei Schilderungen sind sowohl hinsichtlich des Ortes des Geschehens als auch hinsichtlich des Ablaufs, der zu dem Beinbruch geführt haben soll, jeweils gänzlich unterschiedlich. Diese Abweichungen lassen sich allein mit Übersetzungsfehlern nicht erklären. Selbst wenn die Übersetzung durch einen Verwandten gegenüber dem Prozessbevollmächtigten des Klägers unzureichend gewesen sein sollte, plausibilisiert dies nicht die gegensätzliche Darstellung vor dem Bundesamt - wo dem Kläger die Niederschrift rückübersetzt wurde und er die inhaltliche Richtigkeit mit seiner Unterschrift bestätigt hat - und in der mündlichen Verhandlung.

2. Eine Gruppenverfolgung des Klägers wegen seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden ist nicht beachtlich wahrscheinlich. Im Fall eines Yeziden, der wie der Kläger aus G. stammte, hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht Folgendes ausgeführt (Beschl. v. 23.03.2021 - 9 LB 131/19 -, V.n.b., Abdruck S. 11 ff.; vgl. auch VG Hannover, Urt. v. 13.07.2022 - 12 A 4102/18 -; n.V., Abdruck S. 6 ff.):

"Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13 ff.; Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 - juris Rn. 18).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 - juris Rn. 24).

Dabei ist es nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vorgenommen werden. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden. Diese Maßstäbe zur Feststellung einer Gruppenverfolgung gelten auch dann, wenn den Betroffenen schwere Gefahren, insbesondere Gefahren für Leib und Leben drohen. Das Ausmaß der drohenden Gefahr ist in die Bewertung einzubeziehen, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist. Diese Bewertung setzt als Grundlage jedoch Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppenverfolgung voraus, die alle Möglichkeiten der Tatsachenermittlung ausschöpfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 19).

Einen Verzicht auf eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung ausreichen kann, dass derartige Übergriffe "an der Tagesordnung" sind (etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.5.1996 - 9 B 136.96 - juris Rn. 2). Hierbei handelt es sich indes nicht um einen anderen rechtlichen Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte, sondern um eine erleichterte Tatsachenfeststellung im Einzelfall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.12.2002 - 1 B 42.02 - juris Rn. 5 und Beschluss vom 11.11.1999 - 9 B 563.99 - juris Rn. 3 f.).

Die vorgenannten Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 14; Urteil vom 18.7.2006, a. a. O., Rn. 21).

Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a. a. O., Rn. 20).

An den in Bezug auf das Asylgrundrecht für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2011/95/EU hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 als auch der Richtlinie 2011/95/EU in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU und die flüchtlingserheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU definiert. Auch dem - allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen - Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (- C-465/07 [Elgafaji] - juris Rn. 43) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchstabe c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird (BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 16 zu der insoweit nahezu wortgleichen Richtlinie 2004/83/EG; offen gelassen im Beschluss vom 24.2.2015 - 1 B 31.14 - juris Rn. 5).

Der Senat ist unter Berücksichtigung dieses Maßstabes aufgrund der im für die Bewertung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Herkunftsregion des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Er stellt hierbei auf den zur Provinz Ninive gehörenden Distrikt Al-Hamdaniya ab, zu dem der Ort G. (L.) gehört (https://de.wikipedia.org/wiki/Baschiqa). Hierauf ist der Kläger mit Verfügung des Berichterstatters vom 25. Januar 2021 hingewiesen worden. Er hat dieser Zuordnung nicht widersprochen. Auch die Beklagte hat im Berufungsverfahren nicht mehr - wie noch in dem hier angefochtenen Bescheid - auf die Region Dohuk abgestellt.

In dem Distrikt Al-Hamdaniya sind derzeit Verfolgungshandlungen durch den irakischen Zentralstaat (dazu unter a.), den IS (dazu unter b.) oder sonstige Akteure (dazu unter c.) nicht zu erwarten.

a. Eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch den irakischen Zentralstaat wegen deren Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt (so bereits Urteil des Senats vom 30.7.2019 - 9 LB 133/19 - juris Rn. 61 - 67).

Der Begriff "Religion" i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

Wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung i. S. d. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU zu erfüllen, hängt von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten ab. Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere erreicht sein, wenn einem Antragsteller durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 28). Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der (positiven) Religionsfreiheit hat das Bundesverwaltungsgericht den Umstand angesehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.8.2015 - 1 B 40.15 - juris Rn. 11; Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 29). Dies setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste. Die konkrete Glaubenspraxis muss aber für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 30).

Anhaltspunkte für eine unzumutbare und die Annahme einer Verfolgung i. S. d. § 3a AsylG rechtfertigende Beeinträchtigung der Religionsausübung der Yeziden durch den irakischen Zentralstaat bestehen nach diesen Maßstäben nicht.

Die yezidische Religion ist eine monotheistische Religion, nach der Gott allmächtig ist und die Welt erschaffen hat. Ihm untergeordnet sind die sieben Engel und die yezidischen Heiligen. Seit dem 11. Jahrhundert gibt es innerhalb der Yeziden verschiedene Kasten, die nach dem Tod des yezidischen Reformators Sheik Adi eingeführt wurden und in die jeder Yezide hineingeboren wird. Es gibt die Laien ("Murid") und die Geistlichen, die sich wiederum in die Gruppe der "Sheikh" und der "Pir" unterteilen. Jeder Sheik- und Pir-Familie sind von Geburt an Muriden zugeordnet. Die Geistlichen haben die Funktion, die Laien zu betreuen und in der religiösen Lehre zu unterweisen. Man muss als Yezide geboren werden, eine Konversion zur yezidischen Religion ist nicht möglich. Zudem dürfen Yeziden nur innerhalb der Religionsgemeinschaft heiraten, andernfalls werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das Lalish-Tal mit mehreren Grabstätten und Heiligtümern ist der heiligste Ort für Yeziden. Dort befindet sich das wichtigste religiöse Zentrum der yezidischen Glaubensgemeinschaft. Jedes Jahr finden dort religiöse Feste und Zeremonien statt. Ziel eines jeden Yeziden sollte es sein, nach Lalish zu pilgern. Für fundamentalistische und strenggläubige Muslime sind sie eine abtrünnige Sekte und werden als Ungläubige oder Teufelsanbeter angesehen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 17 - 19). Die Verfassung des irakischen Zentralstaates erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Iraks fest und betont zugleich den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. die Abkehr vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quoten-system bei der Verteilung der Sitze, fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Yeziden, Sabäer, Schabak und Fayli Kurden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S.12).

Es ist zudem keine staatliche Behinderung der tatsächlichen Religionsausübung für Yeziden - die ausschließlich im Privatbereich erfolgt, da die religiösen Rituale der Yeziden nicht vor Personen, die nicht der Glaubensgemeinschaft angehören, praktiziert werden dürfen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 19) - ersichtlich. Zwar ist die irakische Gesellschaft nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräueltaten gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.1.2019, S.12). Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet seit dem Sturz Saddam Husseins jedoch nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S.12; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019, S. 74;). Vielmehr mischt sich der irakische Zentralstaat generell nicht in religiöse Angelegenheiten ein, sondern sorgt für den Schutz religiöser Stätten und Einrichtungen sowie die Sicherheit auf Pilgerwegen (vgl. USDOS, 2019 Report on International Religious Freedom: Iraq, 10.6.2020, S. 5 des Ausdrucks). Einige Gemeindevorsteher der Yeziden bemängeln, dass bei der durch IS-Kämpfer erfolgten Vergewaltigung von Yezidinnen gezeugte Kinder als Muslime registriert worden seien (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2.3.2020 i. d. F. vom 14.10.2020, S. 12; USDOS, 2019 Report on International Religious Freedom: Iraq, 10.6.2020, S. 5 des Ausdrucks). Auf der anderen Seite haben Anführer der yezidischen Religionsgemeinschaft angekündigt, dass verschleppte Yezidinnen zwar von ihren Gemeinschaften wieder aufgenommen und ohne Scham reintegriert werden sollen, dass dies aber nicht für ihre in IS-Gefangenschaft geborenen Kinder gelte, sodass für diese die Gefahr besteht, ausgesetzt zu werden (ausführlich hierzu: Amnesty International, Legacy of Terror, The Phlight of Yezidi Child Survivors of ISIS, Juli 2020, S. 40 ff.; siehe daneben etwa auch United Nations Human Rights Council, Visit to Iraq - Report of the Special Rapporteur on the human rights of internally displaced persons, 13.5.2020, S. 11; Spiegel Online, Irak, Jesiden verweigern Kindern von IS-Überlebenden die Auf-nahme, 28.4.2019).

b. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Al-Hamdaniya i. S. d. § 3 AsylG durch die Terrormiliz IS ist derzeit ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.

aa) Dies gilt selbst dann, wenn man mit dem Verwaltungsgericht annimmt, dass der Kläger angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung, insbesondere im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 69 ff.), bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak - auch als Yezide aus dem Distrikt Al-Hamdaniya - von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen ist. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, wäre im Fall des Klägers widerlegt.

Es sprechen nach der Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wäre. Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die (zumindest) im Distrikt Sindjar durch Mitglieder des IS erfolgten, wurden erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Seitdem haben sich die Machtverhältnisse im Irak aber grundlegend geändert. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak nahezu vollständig verloren (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter https://isis.liveuamap.com/). Er hält dort kein Territorium mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 m. w. N.). Es bestehen derzeit auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, den Distrikt Al-Hamdaniya zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden, wie zum damaligen Zeitpunkt (zumindest) im Sindjar, flächendeckend zu verfolgen (so bereits das Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 71 - 79; siehe hierzu auch die nachfolgend beschriebenen aktuellen Verhältnisse).

bb) Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Al-Hamdaniya, da es dort an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. Die gebotene Relationsbetrachtung zwischen der Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerungsgruppe und der Anzahl sowie des Gewichts der Verfolgungsmaßnahmen i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG ergibt bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen. Selbst wenn man davon ausginge, die wegen einer (unterstellten) Gruppenverfolgung der Yeziden durch den IS vor der Ausreise des Klägers angenommene Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU griffe unabhängig vom Bestehen der territorialen Herrschaft des IS in der Provinz Ninive ein, führte dies zu keinem anderen Ergebnis, da die tatsächliche Vermutung einer begründeten Verfolgungsfurcht aufgrund der nachfolgend dargelegten Umstände durch stichhaltige Gründe widerlegt wäre.

(a) Auf die genaue Ermittlung der im Distrikt Al-Hamdaniya aktuell lebenden Yeziden kommt es für die gebotene Relationsbetrachtung - anders als im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O, Rn. 81 ff.) - nicht an, da der Senat für den Betrachtungszeitraum bereits nur wenige in die Bewertung einzustellenden Referenzfälle zu erkennen vermag, die dieser Bevölkerungszahl gegenüberzustellen wären.

In die gebotene Relationsbetrachtung sind die in Anknüpfung an ihre religiöse bzw. ethnische Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe gegen Yeziden gerichteten Verfolgungshandlungen im Distrikt Al-Hamdaniya einzustellen. Für die Relationsbetrachtung wird dabei auf den Zeitraum ab 2018 abgestellt, da sich die Ausgangslage für die Yeziden im Nordirak mit dem militärischen Sieg der Allianz gegen den IS im Irak Ende 2017 grundlegend geändert und sich die Organisation seitdem von einer territorialen Herrschaftsmacht zu einer aus dem Untergrund operierenden, sich auf Guerilla-Taktik konzentrierenden Gruppe entwickelt hat.

Für diesen Zeitraum ergeben sich aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln keine die vorgenannten Anforderungen erfüllenden Vorfälle.

So gehen zunächst alle Quellen übereinstimmend davon aus, dass seit der Beendigung der territorialen Kontrolle des IS im Irak insgesamt eine kontinuierliche Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage im gesamten Staat und auch in der Provinz Ninive eingetreten ist (vgl. dazu ausführlich Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 95 - 102).

Bei einer genaueren Betrachtung des Distrikts Al-Hamdaniya zeigt sich, dass sich die dortige Sicherheitslage im landesweiten Vergleich nochmals als deutlich besser darstellt. Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), das angibt, konservative Schätzungen zu verwenden, erfasst einzelne sicherheitsrelevante Vorfälle im Irak mit Angabe des Ortes, an dem sich der Vorfall ereignet hat. Nach dem im Internet in Form einer Excel-Tabelle abrufbaren Datensatz (https://www.acleddata.com/data/; abgerufen am 1.3.2021) fanden im Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis zum 28. Februar 2021 von den 13.602 dort aufgelisteten sicherheitsrelevanten Vorfällen 817 in der Provinz Ninive, aber gerade einmal 31 im Distrikt Al-Hamdaniya statt (vgl. zur örtlichen Verteilung der Vorfälle in der Provinz Ninive auch die graphische Darstellung beim European Asylum Support Office [EASO], Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 132).

In keinem der dort erfassten Vorfälle ist von einer zielgerichteten Tötung bzw. Verletzung eines Yeziden durch Mitglieder oder Sympathisanten des IS die Rede. Im Übrigen zeigen die Berichte, dass sich die Aktivitäten bewaffneter oppositioneller Gruppierungen, wie des IS, in der Region primär gegen staatliche oder staatsnahe Einrichtungen richten. So wurden in der Region vier Angehörige der irakischen Armee am 18. Februar 2018 bei Gefechten mit IS-Kämpfern getötet. Am 5. September 2018 war ein Militärtransporter Ziel eines Sprengstoffanschlags des IS, bei dem alle Insassen getötet wurden. Am 12. Mai 2019 attackierte der IS ein Fahrzeug der Volksmobilmachungskräfte, wobei fünf von deren Kämpfern verletzt wurden. Am 31. Juli 2019 griffen IS-Angehörige einen Polizeiposten an und hinterließen einen getöteten und einen verletzten Polizisten. Wiederum ein Fahrzeug der Volksmobilmachungskräfte war Ziel eines Anschlags am 12. Juni 2020, bei dem zwei Soldaten verletzt wurden. Im Oktober 2020 griffen IS-Angehörige einen Sicherheitsposten der Stammesmobilmachungskräfte (Tribal Mobilization Forces) an und töteten zwei Soldaten. Am 11. Dezember 2020 wurden drei Militärangehörige bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Militärpatrouille verletzt.

In dem gesamten Betrachtungszeitraum von über drei Jahren wird lediglich bei fünf Vorfällen von einer zielgerichteten Handlung gegen Zivilisten ausgegangen. Am 2. April 2018 explodierten Mörsergranaten des IS in der Nähe von Bartala und verletzten vier Zivilisten. Am 5. Juli 2018 töteten IS-Kämpfer ein Kind und verletzten einen Mann aus einem Hinterhalt an einer Kreuzung im Distrikt. Am 10. August 2018 explodierten zwei nicht identifizierte Sprengsätze bei Nimrud. Es wurden zwölf Zivilisten getötet und zwei weitere verletzt. Ein nicht identifizierter Mann erschoss am 18. Januar 2020 einen Zivilisten in Al Munira. Zuletzt war ein ziviles Fahrzeug Ende Dezember 2020 in Qaryat Bazwaya Ziel eines Sprengsatzes. Die Insassen wurden verletzt. In keinem der Vorfälle wird berichtet, dass er aufgrund der Religionszugehörigkeit der Betroffenen erfolgte.

Auch sonst ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass Yeziden im Distrikt Al-Hamdaniya in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit Übergriffen i. S. d. § 3a AsylG durch den IS ausgesetzt sind. Der Senat verkennt nicht, dass mehrere Quellen von einem Wiedererstarken des IS im Irak berichten (siehe zum Folgenden insgesamt EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 126 f. m. w. N.). Dieses sei etwa durch die steigende Spannung zwischen den USA und Iran sowie durch die Covid-19-Pandemie begünstigt. So seien US-Militärberater abgezogen worden, was die Koordinierung der Geheimdienst- und Luftunterstützung mit den irakischen Streitkräften erschwere (Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The Recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, CTC Sentinal, Mai 2020, S. 12 <22, 25>; siehe auch BFA, Anfragebeantwortung [Grenzgebiet Irak Syrien: Gesteigerte IS-Aktivitäten, Auswirkungen türkischer Militäreinsätze in Syrien], S. 3 f.). Vor allem in der Provinz Ninive nutze der wirtschaftlich noch immer starke IS die dünn besiedelten und schwer zugänglichen Landschaften als Versteck und zur Vorbereitung von Angriffen, versuche aber auch, stärkere Stützpunkte im ländlichen Umfeld größerer Städte zu errichten (Al-Hashimi, ISIS in Iraq: From Abandoned Villages to the Cities, Center for Global Policy - cgpolicy.org -, 5.5.2020, S. 1 des Ausdrucks). Seinen Schwerpunkt habe der IS allerdings im Süden und Südwesten der Provinz (vgl. International Crisis Group [ICG], Averting an ISIS Resurgence in Iraq and Syria, 11.10.2019, S. 3). Folglich wird der Distrikt Al-Hamdaniya in der benannten Studie von Knights und Almeida aus Mai 2020 auch nicht als eine der Regionen innerhalb Ninives ausgemacht, in denen der IS aktiv ist (Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The Recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, CTC Sentinal, Mai 2020, S. 12 <23>). Dies deckt sich mit der vorstehend vorgenommenen Analyse der sicherheitsrelevanten Vorfälle.

Bei dem Wiedererstarken des IS ist aber auch in Betracht zu ziehen, dass sich dieser seit seinem Überfall auf den Sindjar 2014 einer internationalen Militärallianz gegenübersieht, die weiterhin fortbesteht. Erst am 29. Oktober 2020 stimmte der Deutsche Bundestag der Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte unter dem Titel "Stabilisierung sichern, Wiedererstarken des IS verhindern, Versöhnung fördern in Irak und Syrien" bis zum 31. Januar 2022 zu (BT-Drucksache 19/22207; BT-Plenarprotokoll 19/186, S. 23473). Zuletzt begannen irakische Streitkräfte im Mai 2020 mit Unterstützung der internationalen Koalitionstruppen eine Militärkampagne gegen den IS, die zu dessen Zurückdrängung führte und während derer mehrere IS-Anführer getötet wurden (UN-Sicherheitsrat, Eleventh report of the Secretary-General on the threat posed by ISIL, 4.8.2020, S. 3). Das US-Verteidigungsministerium (USDOD) stellt in seinem Bericht über die Operation "Inherent Resolve", die ein Teil der internationalen Militärallianz ist, für das dritte Quartal 2020 fest, dass der IS einen Aufstand auf niedriger Ebene aufrechterhalte und dass die Sicherheitskräfte zunehmend in der Lage seien, Druck auf den IS auszuüben (USDOD, Operation Inherent Resolve - Lead Inspector General Report to the United States Congress, Juli-September 2020, S. 15). Knights und Almeida (Remaining and Expanding: The Recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, CTC Sentinal, Mai 2020, S. 12 <25>) bezeichnen den IS Anfang 2020 als Schatten seines alten Selbst ("shadow of its old self"); er sei etwa ein Drittel so stark wie in 2013 oder 2017. Hiervon ausgehend kann der Senat nicht erkennen, dass der IS zeitnah in der Lage wäre, im Distrikt Al-Hamdaniya einen Einfluss zu erlangen, der mit dem im Sindjar zwischen 2014 und 2017 vergleichbar wäre. Der Kläger selbst nennt keine konkreten Vorfälle, die eine entgegenstehende Annahme rechtfertigen könnten.

Angesichts der Existenz einer Vielzahl von Berichten über die aktuelle Sicherheitssituation im Irak sowie miteinander harmonierenden statistischen Erfassungen zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern im Distrikt Al-Hamdaniya ist auch nicht ersichtlich, dass es eine nennenswerte Dunkelziffer nicht erfasster Vorfälle gäbe.

Anhaltspunkte für sonstige aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsausübung der Yeziden im Distrikt Al-Hamdaniya durch den IS sind ebenfalls nicht ersichtlich.

Auf den IS sind seit seiner Verdrängung aus der Herkunftsregion des Klägers dort auch keine Vertreibungen in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit mehr zurückzuführen (vgl. zu dem Distrikt Sindjar zum damals entscheidungsrelevanten Zeitpunkt: Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 106).

(b) Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, das Fehlen von Übergriffen auf Yeziden sei dem Umstand geschuldet, dass in dem Distrikt nach dem Eroberungsfeldzug des IS keine Yeziden mehr lebten.

Zwar wurde der Distrikt Al-Hamdaniya zu großen Teilen von Kämpfern des IS eingenommen. Dabei wurde auch der Ort G., aus dem der Kläger stammt und der vor dem Einmarsch des IS von ca. 18.000 Yeziden bewohnt wurde, im Juni 2014 vollständig zerstört (vgl. EZKS, Gutachten vom 7.9.2015, S. 2). Dennoch verzeichnet der Distrikt mittlerweile nach den Distrikten Mossul und Tel Afar die dritthöchste Zahl an Rückkehrern (vgl. EASO, Sicherheitslage, Oktober 2020, S. 150). IOM (Displacement Tracking Matrix, DTM Round 119, Returnee Dataset, Januar 2021) geht davon aus, dass bis Ende Dezember 2020 insgesamt 28.066 Familien bzw. 168.396 Personen nach Al-Hamdaniya zurückgekehrt sind. Dass sich darunter keine oder kaum Yeziden befänden, ist nicht ersichtlich. Zudem werden die Rückkehrbedingungen als deutlich weniger schlimm gegenüber den weiter westlich gelegenen Bezirken eingeschätzt (Congressional Research Service, Iraq: Issues in the 116th Congress, 17. Juli 2020, S. 31).

(c) Angesichts der fehlenden Referenzfälle erbringt eine quantitative Betrachtung - unabhängig von der genauen Anzahl der derzeit in dem Distrikt lebenden Yeziden - keine beachtliche aktuelle Verfolgungswahrscheinlichkeit für alle Yeziden aus dem Distrikt Al-Hamdaniya in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit. Eine wertende Betrachtung des statistischen Materials vermag unter diesen Umständen kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen.

c. Ebenso wenig ist eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Al-Hamdaniya durch andere Akteure beachtlich wahrscheinlich.

Die Gräueltaten des IS während dessen territorialer Herrschaftsgewalt im Nordirak vermögen mangels innerer Verknüpftheit (vgl. zu dieser Anforderung BVerwG, Urteil vom 18.7.2006, a.a.O., Rn. 26) eine tatsächliche Verfolgungsvermutung durch andere Akteure nicht zu begründen. Vor dem Einmarsch des IS war die tatsächliche Ausübung der Religion gewährleistet (vgl. Urteil des Senats vom 19.3.2007 - 9 LB 373/06 - juris Rn. 64 - 66). Der Senat hat in seinem Urteil vom 7. August 2019 (a. a. O., Rn. 77 - 82) ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass die Religionsausübung für die Yeziden nach der Verdrängung des IS aus der Provinz Ninive noch in relevanter Weise behindert werde. Anhaltspunkte für aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsfreiheit der Yeziden im Distrikt Al-Hamdaniya liegen im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der Entscheidung nicht vor.

3. Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Yeziden aus dem Distrikt Al-Hamdaniya. Ist eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich dies aber aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 24; Urteil vom 30.10.1984 - 9 C 24.84 - juris Rn. 12).

In der Vergangenheit waren yezidische Intellektuelle mit öffentlich sichtbarem Erfolg bzw. Einfluss oder yezidische Würdenträger, wenn sie regelmäßig yezidische Einrichtungen besuchen, Yeziden im Alkoholgeschäft oder im Gaststätten- und Hotelgewerbe sowie in der Vergnügungsindustrie, in Schönheits- oder Frisiersalons oder Yeziden, die - etwa als Polizisten oder Taxifahrer - in häufigen Kontakt zur moslemischen Bevölkerung traten oder aufgrund typischer Kleidungsstücke oder anderer Merkmale als Yeziden auffielen, besonders gefährdet (vgl. EZKS, Gutachten vom 26.10.2005, S. 8 - 9). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. März 2020 i. d. F. vom 14. Oktober 2020 (S. 17) sind vor allem Journalisten, Blogger, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte, alle Mitglieder des Sicherheitsapparats (Polizisten, Soldaten), Mitarbeiter der Ministerien oder von Provinzregierungen, Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Yeziden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, medizinisches Personal sowie LGBTI-Personen besonders gefährdet. Ob bei diesen Personengruppen letztlich die Gefahr einer Verfolgung besteht, lässt sich nach Auffassung des erkennenden Senats nicht allgemein und grundsätzlich beantworten, sondern ist eine Frage der konkreten Umstände des Einzelfalls. Zu prüfen ist bei Übergriffen jeweils auch, ob wirklich ein Bezug zum yezidischen Glauben besteht, also nicht unabhängig davon auch bei anderen Personen eine entsprechende Gefährdung vorhanden ist. Im vorliegenden Fall erübrigt sich eine solche Einzelfallprüfung, weil der Kläger nicht zu einer der genannten Personengruppen gehört."

Diese Ausführungen treffen auch auf den Kläger zu, der ebenfalls keiner exponierten Personengruppe angehört. Er hat zudem die Annahme des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts bestätigt, dass unter den Rückkehrern in den Distrikt auch Yeziden gewesen sind. So hat er in seiner Befragung vor dem Bundesamt angegeben, viele der Dorfbewohner seien nach G. zurückgekehrt und seine Onkel und Cousins würden dort leben.

In der Zwischenzeit haben sich die Umstände nicht maßgeblich verändert. Aus den ACLED-Daten für den Zeitraum vom 01.03.2021 bis zum 17.03.2022 gehen für den Distrikt Al-Hamdaniya lediglich 41 sicherheitsrelevante Vorfälle hervor. Bei keinem wird von einer Verletzung oder Tötung von Personen yezidischen Glaubens berichtet. In dem Zeitraum von etwas über 2 Jahren gab es 12 Vorfälle mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen, allerdings keinen, bei dem Zivilpersonen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit angegriffen wurden.

Auch für den Fall, dass G. nicht im Distrikt Al-Hamdaniya liegen sollte, sondern im Distrikt Mossul (vgl. die Karte von REACH, IRAQ- Kurdistan Region of Iraq, vom Juni 2020, abrufbar unter https://reliefweb.int/attachments/28285e2b-39ca-3274-b348-ead02c4c7689/REACH_IRQ_Map_REF_KRI_CampLocation_17AUG2020_A1.pdf, die Angabe in der arabischsprachigen Wikipedia laut dem Übersetzer in der mündlichen Verhandlung und die Zuordnung bei ACLED), ändert sich die Bewertung nicht. Zwar haben nach der Zusammenstellung von ACLED für den Zeitraum vom 01.03.2021 bis zum 17.03.2022 im Distrikt Mossul mit einer Gesamtzahl von 282 sehr viel mehr sicherheitsrelevante Vorfälle stattgefunden als im Distrikt Al-Hamdaniya. Darunter befinden sich 67 Vorfälle mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen, allerdings ist auch hier zu keinem Vorfall vermerkt, dass die Zivilpersonen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit angegriffen wurden. An 25 Vorfällen mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen war der IS beteiligt. Davon gingen 15 Vorfälle mit insgesamt 11 verletzten Zivilpersonen und einer getöteten Zivilperson auf die Detonation explosiver Reste des Krieges zurück, so dass in einem Zeitraum von etwas über 2 Jahren lediglich 10 Vorfälle verbleiben, bei denen der IS im Distrikt Mossul Zivilpersonen angegriffen und insgesamt 14 Zivilpersonen verletzt und 8 Zivilpersonen getötet hat. Es kommt hinzu, dass sich die Operationsgebiete des IS in den Wüstengegenden südwestlich und südlich von Mossul befinden (vgl. European Union Agency for Asylum (EUAA), Country of Origin Information Report, Iraq, Security Situation, Januar 2022, S. 168 f.), Bashika hingegen nordöstlich von Mossul liegt.

II. Der Kläger ist nicht gemäß § 4 Abs. 1 AsylG subsidiär schutzberechtigt. Maßgeblicher Bezugspunkt dafür ist die Herkunftsregion des Ausländers (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 11.03.2021 - 9 LB 129/19 - juris Rn. 112; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 100 ff. m.w.N.), für den Kläger also der Distrikt Al-Hamdaniya oder der Distrikt Mossul.

Bei einer Rückkehr in einen dieser Distrikte droht dem Kläger keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Die schlechte humanitäre Lage im Irak rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, da diese keinem Akteur im Sinne des § 3c AsylG zuzuordnen ist (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 68-71).

Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines - unterstellten - bewaffneten Konflikts ist nicht gegeben. Für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen. Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist. Fehlen individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Erforderlich ist insoweit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt. Für die individuelle Betroffenheit von der Gefahr bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, zu umfassen hat, sowie einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage. Allerdings sieht das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls ein Risiko von 1:800 (0,125 %), in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nichts zu ändern vermag (Nds. OVG, Beschl. v. 11.03.2021- 9 LB 129/19 -, juris Rn. 116 f. m.w.N.). Der Europäische Gerichtshof betont, dass eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalles erforderlich ist. Zu berücksichtigende Gesichtspunkte können insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte, die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt, sein (Urt. v. 10.06.2021 - C-901/19 - juris Rn. 40 ff.). Nach diesen Maßgaben ist die erforderliche Gefahrendichte in den Distrikten Al-Hamdaniya und Mossul derzeit nicht gegeben.

1. Hinsichtlich des Distrikts Al-Hamdaniya bezieht die Einzelrichterin sich erneut auf die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zu einem Yeziden, der wie der Kläger aus G. stammte (Beschl. v. 23.03.2021 - 9 LB 131/19 -, V.n.b., Abdruck S. 31 ff.:

"a) Für den Kläger sind bei einer Rückkehr in den Distrikt Al-Hamdaniya in der Provinz Ninive besondere gefahrerhöhende Umstände nicht ersichtlich.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Yeziden derzeit bei einer Rückkehr nach Al-Hamdaniya nach der Verdrängung des IS einer gegenüber anderen Bewohnern der Region erhöhten Gefahr ausgesetzt wären. Nach den oben bereits im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vorliegen einer Gruppenverfolgung getätigten Ausführungen stehen weder der Distrikt Al-Hamdaniya noch die Yeziden derzeit im Mittelpunkt der Aktivitäten des IS. Auch in Bezug auf die weiteren Handlungsakteure in der Region, insbesondere der schiitischen Milizen, ist dies nicht ersichtlich. Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Yeziden in nennenswertem und im Verhältnis zu anderen Bewohnern des Distrikts überproportionalem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. dazu im Einzelnen ACCORD, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, 2.10.2020).

Dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in Al-Hamdaniya im Vergleich zu sonstigen Bewohnern verstärkt Übergriffen ausgesetzt sind, kann den vorliegenden Erkenntnismitteln ebenfalls nicht entnommen werden.

b) In dem Distrikt Al-Hamdaniya besteht auch keine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

aa) Hinsichtlich der grundsätzlich vorzunehmenden Gegenüberstellung der Bewohnerzahl mit der Anzahl der Referenzfälle verkennt der Senat nicht, dass die Angaben zur Bevölkerungszahl auf Schätzungen beruhen und die statistischen Erfassungen der bekannt gewordenen Opferzahlen kein abschließendes Bild der Lage zeichnen. Es ergeben sich indes keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Zahlen nicht ansatzweise aussagekräftig sind und daher von einer Einbeziehung der statistischen Erfassungen gänzlich abzusehen wäre (siehe ausführlich hierzu das Urteil des Senats vom 24.9.2019, a. a. O., Rn. 88 - 92 m. w. N.).

bb) Im vorliegenden Einzelfall mag diese Grundannahme hinsichtlich der Bevölkerungszahl von Al-Hamdaniya etwa aufgrund der geringen Größe des Gebiets, des zum Teil unsicheren Grenzverlaufs oder der auch dort zu verzeichnenden enormen Fluchtbewegungen in der Vergangenheit angezweifelt werden können. Vergleichbar mit der Frage nach der Gruppenverfolgung gegenüber Yeziden kommt es auch hier aber auf eine konkrete Ermittlung der Zahl an potentiell betroffenen Personen ausnahmsweise nicht an. Vorstehend (unter I. 2. b. bb. [a.]) konnte der Senat bereits nur wenige in die dort notwendige Bewertung einzustellende Referenzfälle erkennen, die der Zahl der in Al-Hamdaniya lebenden Yeziden gegenüberzustellen wären. Dabei hat er nicht nur die konkret gegen Yeziden gerichteten, sondern alle sicherheitsrelevanten Vorfälle ermittelt, deren Zahl im Gegensatz zur Bevölkerungszahl auf hinreichend verlässlichen Grundlagen basieren. Die obigen Ausführungen werden in Bezug genommen. Auf dieser Basis kann auch für die Gesamtbevölkerung davon ausgegangen werden, dass das Risiko, infolge etwa eines Anschlags als Zivilperson getötet oder verletzt zu werden, im Distrikt Al-Hamdaniya äußerst gering ist. Nach den obigen Daten waren seit Anfang des Jahres 2018 31 sicherheitsrelevante Vorfälle zu verzeichnen. Insgesamt kam es bei drei Ereignissen zu 14 zivilen Todesopfern, die allerdings auf gezielten Tötungen beruhten. Sechs Zivilisten sowie die nicht näher benannten Insassen eines Fahrzeugs wurden bei vier verschiedenen Ereignissen in Summe verletzt. Selbst bei Annahme einer besonders hohen Dunkelziffer müsste die Bevölkerungszahl von Al-Hamdaniya noch immer unrealistisch gering angesetzt werden, um zu einem Gefahrengrad zu gelangen, der eine andere Beurteilung rechtfertigte.

Die in einem Vorlagebeschluss an den Gerichtshof der Europäischen Union zum Ausdruck gebrachte Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, wonach die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im vorliegenden Zusammenhang nicht allein von einer Mindestzahl an bereits zu beklagenden zivilen Opfern abhängig gemacht werden dürfe (VGH BW, Beschluss vom 29.11.2019 - A 11 S 2374/19, A 11 S 2375/19 - juris), führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar mag diese Auffassung im Ergebnis zutreffend sein (vgl. den Schlussantrag des Generalanwalts im vom Verwaltungsgerichtshhof Baden-Württemberg angestrengten Vorabentscheidungsverfahren vom 11.2.2021 - C-901/19 - juris). Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage verkennt jedoch, dass die vom Bundesverwaltungsgericht etablierte und hier geteilte Rechtsprechung eine allein an Opferzahlen orientierte Lageeinschätzung nicht vornimmt. Vielmehr kommt es auch bisher bereits auf eine wertende, abschließende Gesamtbetrachtung der Gesamtsituation an (BVerwG, Urteil vom 20.5.2020, a. a. O., Rn. 21). Vorliegend sind indes keine Gesichtspunkte vorgetragen oder erkennbar, die in diesem Rahmen zu einem anderen Ergebnis führten."

Auch insoweit haben sich in der Zwischenzeit keine maßgeblichen Veränderungen ergeben. Im Zeitraum vom 01.03.2021 bis zum 17.03.2022 hat ACLED im Distrikt Al-Hamdaniya nur 12 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen mit insgesamt 11 toten und 7 verletzten Zivilpersonen registriert.

2. Auch im Distrikt Mossul wird ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, nicht erreicht (vgl. VG Hannover, Urt. v. 27.06.2023 - 12 A 4100/18 -, n.v., Abdruck S. 8 f.; Urt. v. 11.01.2023 - 3 A 5487/18 -, n.v., Abdruck S. 11 f.). Das Verwaltungsgericht Berlin kommt in seinem Urteil vom 14.5.2019 (- 25 K 417.17 A -, juris, Rn. 58 ff.) nach ausführlicher Auswertung der dort im Einzelnen genannten Erhebungen zur Bevölkerungszahl und der Anzahl ziviler Todesfälle zu dem Ergebnis, dass das Risiko, als Zivilperson in Mossul infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines etwaigen dortigen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts getötet oder verletzt zu werden, für das Jahr 2018 bei der für den Kläger günstigsten Berechnungsweise - unter Berücksichtigung der niedrigsten dokumentierten Einwohnerzahl der Stadt Mossul (1 Mio.) und teilweise unter Zugrundelegung der Opferzahlen für die gesamte Provinz - noch unterhalb des vom Bundesverwaltungsgericht für weit von der Erheblichkeitsschwelle entfernt erachteten Risikos von 1:800 bzw. 0,125 % gelegen hat, und auch eine wertende Gesamtbetrachtung, insbesondere unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage in Mossul, keine andere Bewertung rechtfertigt. Dass sich seitdem die Sicherheitslage in Mossul maßgeblich verschlechtert hätte, ist nicht ersichtlich. Bei den in Mossul verzeichneten Vorfällen für den Zeitraum Januar 2020 bis März 2021 sind laut Aufzeichnungen von ACLED 5 Personen getötet und 16 Personen verletzt worden (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Sicherheitsrelevante Vorfälle in Mossul seit 2020; Gefahr für Sunniten durch schiitische Milizen vom 16.4.2021). Im restlichen Jahr 2021 gab es ausweislich der Aufstellung von ACLED weitere 38 Vorfälle mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen, bei denen 21 Zivilpersonen getötet und 42 Zivilpersonen verletzt wurden. Im Jahr 2022 sank die Anzahl der Vorfälle mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen auf 21 und die Anzahl der zivilen Opfer auf 16 Tote und 15 Verletzte. In den ersten zweieinhalb Monaten des Jahres 2023 (01.01.2023 bis 17.03.2023) kam es schließlich nur noch zu 4 Vorfällen mit zielgerichteten Handlungen gegen Zivilpersonen mit 3 getöteten und 2 verletzten Zivilpersonen. Demnach kann auch bei einer qualitativen Betrachtungsweise weiterhin nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgegangen werden.

III. Für den Kläger besteht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Dies umfasst das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 23 und 25). Ein solcher Ausnahmefall ist gegeben, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 -, juris Rn. 11). Nicht entscheidend ist dabei, ob das Existenzminimum nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Maßstab ist vielmehr, ob der Ausländer nach seiner Rückkehr in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Zu prüfen ist, ob die Beeinträchtigung in einem derart engen zeitlichen Zusammenhang zu der Rückkehr eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser - in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder Verhaltensweisen des Ausländers - gerechtfertigt ist (BVerwG, Urt. v. 21.4.2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 19 ff.). Dabei ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 26; Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 53).

Enden dürfte die Abschiebung im Fall des Klägers in der Region Kurdistan-Irak. In dieses Gebiet sind in der Vergangenheit über den internationalen Flughafen in Erbil Rückführungen in kleinerem Umfang regelmäßig erfolgt (vgl. zuletzt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 2.3.2020, S. 27). Derzeit gibt es Direktflüge von Deutschland nach Erbil mit FlyErbil, Lufthansa, Eurowings, Condor und Iraqi Airways, die wahrscheinlich auch für Rückführungen genutzt werden könnten. Darüber hinaus bestehen noch indirekt Verbindungen nach Erbil u.a. mit Austrian Airways, Turkish Airways und Qatar Airways (vgl. insoweit Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 28.10.2022, S. 24 f.). Eine Einreise in Erbil wäre dem Kläger möglich, auch wenn er wegen seiner arabischen Volkszugehörigkeit für einen weiteren Aufenthalt möglicherweise nicht in die Vergünstigungen kommt, die Yeziden ohne arabischen Hintergrund genießen (vgl. UNHCR, Ability of Iraqis to Legally Access and Settle Durably in Proposed Areas of Internal Relocation, November. 2022, S. 5; EASO, Country Guidance Iraq, Januar 2021, S. 166 ff.). Einer nachfolgenden Niederlassung bei seiner Frau in der Provinz Dohuk könnte zwar entgegenstehen, dass er für den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis einen Sponsor aus Dohuk vorweisen müsste (vgl. UNHCR, Ability of Iraqis to Legally Access and Settle Durably in Proposed Areas of Internal Relocation, November 2022, S. 6, 13). Er könnte jedoch in seinen Heimatort G. in der Provinz Ninive weiterreisen und sich dort niederlassen. Zwar bedürfte er möglicherweise für die Einreise auch dort eines lokalen Bürgen (vgl. UNHCR, Ability of Iraqis to Legally Access and Settle Durably in Proposed Areas of Internal Relocation, November 2022, S. 4). Diese Funktion könnte aber von seinem Bruder wahrgenommen werden, der nach Auskunft des Klägers wieder in G. wohnt und arbeitet. Soweit der Kläger eingewandt hat, er könne nicht nach G. zurückkehren, weil er vom IS zur Konversion gezwungen worden sei und deshalb von der örtlichen yezidischen Gemeinschaft nicht mehr akzeptiert würde, hält die Einzelrichterin diesen Vortrag nicht für glaubhaft (vgl. oben unter I.1). Sie geht davon aus, dass der Kläger zumindest vorübergehend bei seinem Bruder unterkommen und - eventuell mithilfe seines Bruders und der Familie seiner Ehefrau und möglicherweise sogar (wie sein Bruder) mit finanzieller Unterstützung einer Hilfsorganisation - sein eigenes Haus wenigstens teilweise wiederaufbauen könnte. Seine Behauptung, er könne aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten, hat der Kläger nicht nachgewiesen. Zwar wird in dem vorgelegten Arztbrief des Klinikums M. vom 04.03.2022 als Vorerkrankung ein chronischer Alkoholabusus und als Diagnose eine akute Alkoholintoxikation aufgeführt. Nach Angaben des Klägers und seines Sohnes in der mündlichen Verhandlung ist der Kläger aber aktuell abstinent. Daneben wird in dem Arztbrief vom 04.03.2022 ein Zustand nach mehrfragmentärer Patellafraktur links von 7 Jahren aufgeführt. Ob und welche Funktionseinschränkungen damit einhergehen, ist jedoch nicht dokumentiert. Der ebenfalls vorgelegt Leihvertag zur Ausprobe einer Hörgeräteversorgung aus dem Jahr 2022, die Röntgenaufnahmen aus dem Jahr 2018 und das nicht datierte oder unterschriebene Aufklärungsformular des Klinikums N. zur Behandlung von Verletzungen am Knigelenk/an der Kniescheibe ergeben keinen weiteren Aufschluss über den Gesundheitszustand des Klägers. Obgleich dem Kläger in der mündlichen Verhandlung noch eine weiträumige Frist eingeräumt wurde, hat er dem Gericht keine weiteren ärztlichen Unterlagen zukommen lassen. Zudem hat der Kläger noch mehrere Geschwister und seine beiden erwachsenen Kinder im westlichen Ausland, die größtenteils arbeiten und den Kläger finanziell unterstützen könnten.

2. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht erfüllt. Gemäß § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Diese sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 u. 3 AufenthG durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nachzuweisen. Der Kläger hat lediglich behauptet, er sei schwer krank und benötige eine fachärztliche Behandlung. Es fehlt jedoch jeglicher Beleg. Der erwähnte Arztbrief des Klinikums Siloah vom 04.03.2022 ist zum einen nicht aktuell und weist zum anderen auch keinen dringenden Behandlungsbedarf nach. So wird auf Seite 3 (Seite 2 wurde nicht mit vorgelegt) beschrieben, dass der Kläger keine akuten Beschwerden zeige und in stabilem Allgemeinzustand entlassen werde. Bis auf regelmäßige sonografische Kontrollen der Leber und der Lebertransaminasen und eine Medikation mit Pantoprazol, die nach 2 Wochen abgesetzt werden sollte, wurde kein Behandlungsbedarf festgehalten.

3. Abschließend liegt auch keine allgemeine extreme Gefahrenlage vor, die eine Schutzgewährung in verfassungskonformer Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfordern würde. Sie setzt voraus, dass der Ausländer "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Dieser Maßstab ist strenger ist als der Maßstab, der bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzulegen ist. Mit der Verneinung eines Abschiebungsverbots aus humanitären Gründen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK scheidet daher auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung aus (vgl. auch dazu Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn.187 ff.).

IV. Die Abschiebungsandrohung und die gesetzte Ausreisefrist entsprechen den gesetzlichen Bestimmungen.

V. Das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nr. 6 des angefochtenen Bescheides vom 14.09.2017 ist allerdings aufzuheben, weil das Bundesamt in seiner Entscheidung nicht alle maßgeblichen Belange abgewogen hat.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Über die Länge der Frist wird nach Ermessen entschieden, wobei die Frist grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten darf (§ 11 Abs. 3 AufenthG). Da § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, nach dem für Streitigkeiten nach dem Asylgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist, gemäß § 83c AsylG auch für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Bundesamts nach § 75 Nr. 12 AufenthG - also der Anordnung von Einreise- und Aufenthaltsverboten nach § 11 Abs. 1 AufenthG - gilt, ist die Ermessensentscheidung des Bundesamtes gerichtlich auch hinsichtlich sämtlicher Belange des Ausländers zu überprüfen, die der Ausländer erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht vorträgt (vgl. BVerwG, Urt. vom 07.09.2021 - 1 C 47/20 -, juris Rn. 12). Die behördliche Ermessensentscheidung erfordert im Fall eines abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots eine sachgerechte Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse, den Ausländer eine gewisse Zeit vom Bundesgebiet fernzuhalten, und dem privaten Interesse des Ausländers an einer baldigen Wiedereinreise und einem erneuten Aufenthalt in Deutschland. In diese Abwägung sind die persönlichen Belange des Ausländers umfassend einzustellen, die Einfluss darauf haben können, wie schwer den Ausländer das Einreise- und Aufenthaltsverbot im konkreten Einzelfall trifft. Das gilt mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK in besonderer Weise für schutzwürdige familiäre Belange. Bei der Ermessensentscheidung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ebenso zu berücksichtigen sind ferner die zur Identität des Ausländers gehörenden sozialen und wirtschaftlichen Bindungen an das Bundesgebiet. Das Bundesamt und nachfolgend die Tatsachengerichte haben die von dem Ausländer geltend gemachten Belange einzelfallbezogen festzustellen und zu gewichten und im Rahmen einer Gesamtbewertung abzuwägen (vgl. BVerwG, Urt. vom 07.09.2021 - 1 C 47/20 -, juris Rn. 17; OVG Berlin, Urt. vom 06.07.2020 - OVG 3 B 3/20, juris Rn. 25 ff.). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Der Schutz des Familiengrundrechts reicht indessen über den Zweck hinaus, einen besonderen personellen Raum kindlicher Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern. Er zielt generell auf den Schutz spezifisch familiärer Bindungen, wie sie auch zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und auch - wenngleich regelmäßig weniger ausgeprägt - über mehrere Generationen hinweg zwischen den Mitgliedern einer Großfamilie bestehen können. Besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft können insbesondere im Verhältnis zwischen Enkeln und Großeltern, aber auch zwischen nahen Verwandten in der Seitenlinie zum Tragen kommen. Bestehen zwischen nahen Verwandten tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindungen, sind diese vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst. Einer abnehmenden verwandtschaftlichen Nähe der Familienmitglieder zueinander ist bei der Bestimmung der Schutzintensität und der Konkretisierung der Schutzinhalte des Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen (BVerfG, Beschl. v. 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13 -, juris Rn. 22 f.).

Nach diesen Maßgaben hätte das Bundesamt die gelebten familiären Beziehungen des Klägers zu seinen erwachsenen Geschwistern sowie zu seinen erwachsenen Kindern mit Enkelkindern, die sämtlich legal im Bundesgebiet leben, berücksichtigen müssen.

VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.