Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 06.05.2021, Az.: 3 A 2556/17

Afghanistan; Beachtliche Wahrscheinlichkeit; ernsthafter Schaden; Subsidiärer Schutz; Tatsächliche Gefahr

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
06.05.2021
Aktenzeichen
3 A 2556/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 23085
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2021:0506.3A2556.17.00

[Tatbestand]

Der nach eigenen Angaben am 1. Januar 1994 geborene Kläger - afghanischer Staatsangehöriger - gehört nach eigenen Angaben zum Volk der Hazara. Nach seiner Einreise auf dem Landweg stellte er am 22. Oktober 2015 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 9. Mai 2016 führte er im Wesentlichen aus, dass er im Iran geboren sei. Im Jahr 2011 sei er nach Kabul zurückgekehrt. Dort sei sein Onkel nach wenigen Tagen getötet worden. Er - der Kläger - habe daraufhin Afghanistan wieder verlassen und erneut im Iran gelebt. Den Iran habe er wiederum im Jahr 2015 verlassen, da er dort keinen Aufenthaltstitel besessen habe und ansonsten in den Krieg nach Syrien gemusst hätte.

Sein Vater und sein Onkel seien Mitbegründer der Hizb-e Wahdat Islami Partei gewesen. Ein Freund seines Vaters habe ihm erzählt, dass sein Onkel über geheime Informationen über die Partei verfüge. Dieser Freund habe ihm auch gesagt, dass er - der Kläger - umgebracht werden solle. Er habe nicht versucht in einen anderen Teil des Landes zu gehen, da er niemanden in Afghanistan habe und sich im Land nicht auskenne.

Mit Bescheid vom 30. Mai 2017, zugestellt am 2. Juni 2017, lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Ferner wurde der Kläger zur Ausreise aufgefordert und für den Fall der Nichtbefolgung wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Wegen der Begründung wird auf den Bescheid Bezug genommen. Weiter wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Dagegen hat der Kläger am 14. Juni 2017 Klage erhoben.

Der Kläger hat ursprünglich beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Mai 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise,

ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung seine Klage insoweit zurückgenommen, als dass er mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt hat.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

hilfsweise,

festzustellen, dass hinsichtlich des Klägers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt dem Vorbringen des Klägers unter Bezugnahme auf die Ausführungen in ihrem Bescheid entgegen.

Am 6. Mai 2021 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Diesbezüglich wird auf das Protokoll vom Verhandlungstag verwiesen. Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten zu diesem Verfahren sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und des Landkreises Rotenburg (Wümme) Bezug genommen.

Gründe

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.

Das Gericht konnte trotz Nichterscheinens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über den Rechtsstreit entscheiden, weil die Beklagte auf diese Folge ihres Ausbleibens mit der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.

Die Klage hat im noch streitgegenständlichen Umfang Erfolg.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2017 ist - soweit er hier noch streitig ist - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.

Zwar liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG nicht vor, denn dem Kläger droht in Afghanistan weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG bezieht sich jedoch nur auf solche Todesstrafen, die aufgrund der Strafrechtsordnung eines anderen Staates bzw. einer staatsähnlichen Herrschaftsordnung in einem gerichtlichen Verfahren als Sanktion verhängt werden. Demgegenüber ist die Regelung nicht auf Tötungen durch nichtstaatliche Organisationen oder ungesetzliche Hinrichtungen anwendbar (vgl. Kluth, in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition, Stand: 01.07.2020, AsylG, § 4, Rn. 8 f.). Soweit der Kläger daher angegeben hat, ihm drohe die Tötung durch Mitglieder der ehemaligen Partei seines Vaters und Onkels kann er hieraus keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG ableiten.

Der Kläger kann sich auch nicht auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG berufen.

Nach dieser Vorschrift hat Anspruch auf subsidiären Schutz, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Form von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen, sowie - in einigen Fällen - vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers ab (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 [Tarakhel v. Switzerland] - HUDOC Rn. 93 m.w.N., Rn. 94). Eine unmenschliche Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK hat der Gerichtshof angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (vgl. EGMR, Urteil vom 9. Juli 2015 - 32325/13 [Mafalani v. Croatia] - HUDOC Rn. 69 m.w.N.). Von einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie beim Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist, ferner, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder sein Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (vgl. EMGR, Urteil vom 3. September 2015 - 10161/13 [M. und M. v. Croatia] - HUDOC Rn. 132). Angesichts der fundamentalen Bedeutung von Art. 3 EMRK hat sich der Gerichtshof zudem eine gewisse Flexibilität für solche Fälle vorbehalten, in denen die Ursache der Gefahr auf Umständen beruht, die nicht in der direkten oder indirekten Verantwortung der staatlichen Behörde liegen oder die für sich genommen nicht die Standards von Art. 3 EMRK verletzen (vgl. EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008 - 26565/05 [N. v. United Kingdom] - HUDOC Rn. 32 m. w. N.; Nds. OVG, Urteil vom 24. September 2019 - 9 LB 136/19 - juris).

Der Prüfung der Bedrohung i.S.v. § 4 AsylG ist unabhängig von der Frage, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits vorgeschädigt verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, Rn. 22). Soweit eine Vorschädigung eines Schutzsuchenden im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikations-richtlinie festzustellen ist, kommt ihm die Beweiserleichterung gemäß dieser Vorschrift zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009, a.a.O., Rn. 18). Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Antragsteller "erneut von einem solchen Schaden bedroht wird", einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - juris, Rn. 31).

Die Beweiserleichterung greift zugunsten des Klägers nicht ein, denn er hat Afghanistan nicht "vorgeschädigt" im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie verlassen. Er hat bei seiner Anhörung beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung angegeben, Afghanistan verlassen zu haben, da er eine Verfolgung durch Mitglieder der Partei Hizb-e Wahdat Islami befürchte. Sein Onkel sei von Mitgliedern der Partei erschossen, sein Vater schwer misshandelt worden. Verfolgungshandlungen oder Drohungen gegen ihn selbst hat der Kläger nicht vorgetragen. Ein Freund seines Onkels habe ihm lediglich gesagt, er könne nicht in Afghanistan bleiben.

Der Einzelrichter ist nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung oder gar Tötung wegen des politischen Engagements seiner Verwandten droht. Selbst wenn man den Vortrag des Klägers, dass sein Vater und Onkel aus politischer Motivation gewaltsam verfolgt wurden als wahr erachtet, ergibt sich hieraus keine Verfolgungsgefahr bezüglich des Klägers. Der Kläger hat sein ganzes Leben im Iran gelebt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass seine Person in irgendeiner Weise für die Hizb-e Wahdat Islami von Interesse sein könnte. Auch der Kläger hat in seiner Anhörung und vor Gericht vorgetragen, keinerlei Kenntnisse über die Partei, ihre Mitglieder oder das politische Wirken seiner Verwandten zu haben. Der Kläger ist bei dem Angriff auf seinen Onkel auch nicht verletzt oder weiter verfolgt worden und hat nach eigenen Angaben auch noch an der Beerdigung seines Onkels teilgenommen.

Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.

Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die vorgenannte Gefahr muss dabei gemäß § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren.

Es bestehen stichhaltige Gründe, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht.

In ganz Afghanistan liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor.

Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist weder in der Richtlinie noch im Asylgesetz definiert. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs entsprechend seinem Sinn und dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nach zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang er verwendet wird und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der er gehört (EuGH, Urteile vom 22.12.2008 - C-549/07 - Rn. 17, und vom 22.11.2012 - C-119/12 - Rn. 20).

Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bezieht sich entsprechend seinem Sinn und dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nach auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen innerhalb eines Staates aufeinandertreffen. (EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - juris Rn 27, 28, im Folgenden auch Urteil Diakité). Art. 15 Buchstabe c der Richtlinie 2011/95 ist daher dahin auszulegen, dass für die Anwendung dieser Bestimmung vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen ist, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Letztere Kriterien sind nicht für die Frage des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts heranzuziehen, sondern sind hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der tatsächlichen Gefahr von Bedeutung (vgl. EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - juris Rn 35).

Im gesamten Staatsgebiet Afghanistans kämpfen die regulären Truppen des Zentralstaats (Armee, Luftwaffe, Nationalpolizei, etc.) gegen diverse bewaffnete aufständische Gruppierungen. Die mit Abstand relevanteste dieser Gruppierungen sind die Taliban.

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit aufgrund dieses Konflikts.

Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, stellen normalerweise für sich genommen keine Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre (35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95). Der Europäische Gerichtshof hat zur insofern regelungsgleichen Vorgängerrichtlinie 2004/83 entschieden, dass diesbezüglich das Adjektiv "individuell" dahin zu verstehen ist, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf subsidiären Schutz anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - juris Rn 35, im Folgenden auch: Urteil Elgafaji.

Dem steht auch nicht der 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 (35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95) entgegen. Auch wenn dieser Erwägungsgrund impliziert, dass die objektive Feststellung einer Gefahr, die mit der allgemeinen Lage eines Landes im Zusammenhang steht, allein grundsätzlich nicht genügt, um den Tatbestand des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie hinsichtlich einer bestimmten Person als erfüllt anzusehen, bleibt doch durch die Verwendung des Wortes "normalerweise" der Fall einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre (EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - juris Rn 36). Der Begriff "tatsächliche Gefahr" bezieht sich auf den Beweismaßstab, der an die faktische Bewertung der Gefahr angelegt wird, und entspricht einem Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der nicht auf eine bloße Möglichkeit reduziert werden kann.

In der deutschen Rechtsprechung zur Asylanerkennung nach Art. 16a GG und dem Flüchtlingsrecht hat sich der Begriff der beachtlichen Wahrscheinlichkeit etabliert. Danach liegt im Asylrecht eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei soll eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen sein. Es komme darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden könne. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis könne auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt bestehe. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung sei deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden "zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts" die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend sei damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bilde das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend sei, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheine. Dies könne auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben sei. In einem solchen Fall reiche zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch würde sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, würde auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter würde bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung bestehe, mache es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiere (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 - juris Rn. 37).

Diese Rechtsprechung wird vom Bundesverwaltungsgericht mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Verfolgungsgefahr der drohende ernsthafte Schaden tritt, auch auf den subsidiären Schutz übertragen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn.18 ff.; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13/10 - juris Rn. 20, jeweils mit Verweis auf EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italien -, NVwZ 2008, 1330; siehe auch BeckOK AuslR/Kluth, 28. Ed. 01.01.2021, AsylG § 4 Rn. 5).

Ob es angesichts des Ziels der Richtlinie 2011/95, eine europaweit möglichst einheitliche Entscheidungspraxis im Flüchtlingsrecht herbeizuführen (vgl. 12. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95), ratsam ist, den vom Europäischen Gerichtshof und EGMR etablierten Begriff der tatsächlichen Gefahr durch den der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu substituieren, kann letztlich dahinstehen. Denn das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Begriffe synonym sind und der Begriff der beachtlichen Wahrscheinlichkeit keinen anderen Maßstab als den der tatsächlichen Gefahr begründet.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedarf es für die individuelle Betroffenheit von der Gefahr Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, zu umfassen hat, sowie einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 - jeweils juris). Das Bundesverwaltungsgericht sah bisher ein Risiko von 1:800 (0,125 %) binnen eines Jahres in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.) nichts zu ändern vermochte (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 23).

Dieser Ansicht haben sich alle Obergerichte angeschlossen (etwa Hessischer VGH, Urteil vom 27.09.2019 - 7 A 1637/14.A - juris Rn. 66; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -; so auch das Nds. OVG, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 - juris Rn. 117, 118; Beschluss vom 20.05.2019 - 9 LA 167/18 - juris Rn. 17; das ebenfalls von einer Schwelle ausgeht, ab der eine wertende Gesamtbetrachtung entbehrlich sein kann). Im Ergebnis werden daher in nahezu allen Fällen überhaupt keine - oder nur sehr wenige - allgemeine Feststellungen zum Gefahrenniveau getroffen, sondern einzig auf die quantitative Analyse in der oben beschriebenen Methodik abgestellt. Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht mit seiner Rechtsprechung daher grundsätzlich eine qualitative Analyse in Form einer wertenden Gesamtbetrachtung fordert, hat es durch die Billigung der Praxis, die Gesamtbetrachtung bei Überschreiten eines - nicht genau definierten - Schwellenwertes zu unterlassen, letztlich aus der Sicht der Oberverwaltungsgerichte eine starre Schwellenwert-Rechtsprechung geschaffen, bei der die quantitative Analyse alle anderen Betrachtungsweisen verdrängt (so etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -juris Rn 110, "Es liegt hier ein Fall vor, bei dem [das geringe Risiko getötet oder verletzt zu werden], schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann.").

Dem steht auch nicht entgegen, dass einzelne Obergerichte dazu übergegangen sind, eine umfassende qualitative Analyse der Sicherheitslage im Hinblick auf ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK durchzuführen (So zum Beispiel der Hessische VGH, Urteil vom 27.09.2019 - 7 A 1637/14.A - juris Rn. 67 ff.).

Der Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg hat die Spruchpraxis des Bundesverwaltungsgerichts und deren Rezeption durch die Obergerichte zur Veranlassung genommen, um mit Vorlagenbeschluss vom 29. November 2019 den Europäischen Gerichtshof um Klärung zu bitten, ob Art. 15 Buchst. c und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 der Auslegung und Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegen stehen, wonach eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (in dem Sinne, dass eine Zivilperson allein durch ihre Anwesenheit im betroffenen Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein) in denjenigen Fällen, in denen diese Person nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, nur vorliegen kann, wenn eine Mindestzahl an bereits zu beklagenden zivilen Opfern (Tote und Verletzte) festgestellt worden ist (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.11.2019 - A 11 S 2374/19; A 11 S 2375/19, 1. - Leitsatz, juris).

Für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof die Spruchpraxis des Bundesverwaltungsgerichts für nicht mit europäischem Recht vereinbar erachtet, hat der VGH Baden-Württemberg im Rahmen einer weiteren Vorlagefrage um Klärung gebeten, welche unionsrechtlichen Anforderungen an die Beurteilung einer tatsächlichen Gefahr im Sinne des Art. 15 Buchst. C und Art. 2 Buchstabe f der Richtlinie 2011/95 zu stellen sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.11.2019, A 11 S 2374/19; A 11 S 2375/19, 2. Leitsatz).

Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof hat in seinem Schlussantrag vom 11. Februar 2021 umfangreich zu den Vorlagefragen Stellung genommen.

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass die Anwendung von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 zumindest in einem ersten Schritt keine Prüfung der persönlichen Situation des Antragstellers erfordere. In Anbetracht der Notwendigkeit einer systematischen Auslegung im Vergleich zu den beiden anderen in Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 genannten Situationen habe der Gerichtshof nämlich in Rn. 39 des Urteils Elgafaji hinzugefügt, dass "der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist."

Nach ständiger Rechtsprechung seien bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Daher bedürfe es einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. f unter Berücksichtigung der für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits maßgeblichen bisherigen Rechtsprechung. Diese Prüfung müsse dem Erachten des Generalanwalts nach zu der Schlussfolgerung führen, dass die Gewährung von subsidiärem Schutz nicht die Feststellung voraussetze, dass eine Mindestschwelle an Opfern erreicht würde. Diese Schlussfolgerung werde durch eine Analyse der zu Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) und durch die Empfehlungen des EASO gestützt (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 31).

Der Begriff "tatsächliche Gefahr" beziehe sich auf den Beweismaßstab, der an die faktische Bewertung der Gefahr anzulegen sei, und entspreche einem Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der nicht auf eine bloße Möglichkeit reduziert werden könne. Eine Zählung der zivilen Opfer in einem bestimmten Gebiet erscheine in dieser Hinsicht nicht als ein spekulativer, sondern im Gegenteil als ein an der Realität orientierter Faktor, der mithin geeignet sei, die erforderliche Gefahr zu kennzeichnen. Aus der Bezugnahme auf die Bedrohung "des Lebens oder der Unversehrtheit" einer Zivilperson lasse sich aber ableiten, dass die Zahl der zivilen Todesopfer nicht der einzige relevante Parameter sei, weil dieser Begriff auch andere Beeinträchtigungen der physischen oder sogar der psychischen Integrität umfassen könne. Eine rein wörtliche Auslegung von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. f sei aber nicht geeignet, eine ausreichende und eindeutige Antwort auf die Vorlagefragen zu geben (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 32, 33).

Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 zähle die Gesichtspunkte auf, die die zuständigen Behörden bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz berücksichtigen müssten. Darunter würden "alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die ... relevant sind" fallen. Der Auffassung des Generalanwalts spreche eine Zusammenschau der Art. 4, 8 und 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 daher für die Lösung, wonach eine Gesamtbetrachtung der in Rede stehenden Konfliktsituation erforderlich ist, bei der eine Vielzahl von auf derselben Ebene angesiedelten Faktoren zu berücksichtigen seien. Diese Lösung habe der Gerichtshof im Urteil Diakité, bestätigt, ohne ausdrücklich auf die ersten beiden Bestimmungen Bezug zu nehmen (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 36, 37).

Der Gerichtshof habe bisher die Auffassung vertreten, dass der Nachweis des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts keine spezifische Beurteilung der Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen erfordere, die unabhängig von derjenigen sei, die dazu diene, den Grad an Gewalt hinsichtlich einer tatsächlichen Gefahr zu messen. Zur Veranschaulichung und Klarstellung seines Ansatzes habe der Gerichtshof mehrere konkrete Umstände aufgezählt, die für die Messung des in einem bestimmten Gebiet herrschenden Grads an Gewalt nützlich seien und bei denen er die Notwendigkeit einer autonomen Prüfung zum Nachweis des Bestehens eines Konflikts verneine, nämlich die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts. Aus dem Urteil Diakité sei die indirekte und implizite Lehre zu ziehen, dass die Beurteilung des Intensitätsgrads willkürlicher Gewalt nicht auf das alleinige und vorgelagerte quantitative Kriterium der Zahl der Opfer im Verhältnis zur Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet beschränkt werden könne (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 38).

Ziel der Richtlinie 2011/95 sei zudem, die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes um die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen (Erwägungsgrund 13 der Richtlinie 2011/95). Die Gewährung von subsidiärem Schutz davon abhängig zu machen, dass zuvor eine einseitig und nach dem Ermessen der zuständigen nationalen Behörden oder Gerichten festgelegte Mindestzahl von Opfern erreicht wurde, könnte diesem Ziel jedoch zuwiderlaufen (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 40, 41).

Das Vorgehen des Bundesverwaltungsgerichts mache zudem ein zweifaches statistisches Problem deutlich. Regelmäßig ließen sich weder über die konkrete Zahl der Personen, die sich in einem betreffenden Gebiet aufhielten, noch über die genauen Opferzahlen zuverlässig belastbare und aktuelle Daten erheben. Es läge gerade in der Natur bewaffneter Konflikte, dass es schwierig sei - auch über die Zahl der Opfer und die vor Ort anwesende Bevölkerung hinaus - objektive, zuverlässige und gebührend aktualisierte Informationen über die örtlichen Gegebenheiten zu erhalten. Die Gewährung internationalen Schutzes könne nicht von einem einzigen quantitativen Kriterium abhängig gemacht werden, dessen Zuverlässigkeit seinerseits fragwürdig sei. Ohne Nennung eines konkreten Schwellenwertes sei ein rein quantitatives Kriterium zudem immer weit davon entfernt, einem objektiven Kriterium gleichzukommen (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 44, 45).

Dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 sei zu entnehmen, dass bei ihrer Auslegung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen anerkannten Rechte zu achten seien. Zwar bestehe zwischen dem Europäischen Gerichtshof und der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Uneinigkeit über den Schutzbereich des Art. 4 der Europäischen Grundrechte Charta, welcher gleichlautend mit Art. 3 EMRK sei. Die Ähnlichkeit Regelungen und ihrer jeweiligen Auslegung könne die Rechtsprechung des EGMR zur Beurteilung des Grads allgemeiner Gewalt Anhaltspunkte für eine Antwort auf die im vorliegenden Fall zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen geben. Die von EGMR gewählte Methode beruhe auf einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren, die von Fall zu Fall unterschiedlich sein könnten und sich nicht auf einen quantitativen Aspekt reduzieren ließen. Die Feststellung des Vorliegens eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 setze eine komplexe Gesamtanalyse aller relevanten Tatsachen voraus, die geeignet seien, das Vorliegen (oder Fehlen) einer willkürlichen Gewalt zu kennzeichnen, deren Grad so hoch sei, dass für die Zivilbevölkerung die tatsächliche Gefahr bestehe, durch ihre bloße Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Eine Mindestzahl von Opfern im Verhältnis zu einer bestimmten Bevölkerung sei keine Vorbedingung für die Gewährung subsidiären Schutzes (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 51, 52).

In seinem Schlussantrag hat der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes daher vorgeschlagen, die erste der vom VGH Baden-Württemberg aufgeworfenen Rechtsfragen dahingehend zu beantworten, dass Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegenstehe, nach der die Feststellung des Vorliegens einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts im Sinne dieser Vorschrift in einem Fall, in dem diese Zivilperson nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, voraussetzt, dass das Verhältnis zwischen der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet und der Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 61, erster Entscheidungsvorschlag).

Hinsichtlich der zweiten Vorlagefrage hat der Generalanwalt ausgeführt, dass der Gerichtshof im Urteil Diakité zwar zumindest implizit die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, den Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren aufgeführt habe, die bei der Beurteilung der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 zu berücksichtigen seien. Bisher fehle es aber an einer hinreichend ausgereiften Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs der tatsächlichen Gefahr ernsthafter Schäden im Sinne Richtlinie 2011/95. Der Begriff betreffe den Anwendungsbereich eines Falles der Gewährung von subsidiärem Schutz nach Unionsrecht. Es entspräche daher dem im 12. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 genannten Ziel, eine einheitliche Anwendung dieser Bestimmung zu fördern und den Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien vorzugeben (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 56, 57).

Solche Kriterien könnten sich aus den Entscheidungen des EGMR ergeben, der darauf hingewiesen habe, dass die Situation allgemeiner Gewalt im Hinblick darauf beurteilt werden könne, ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken der Kriegsführung anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder sich direkt gegen Zivilpersonen richten, ob die Konfliktparteien solche Methoden üblicherweise anwenden oder nicht, ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden und wie viele zivile Opfer infolge der Kämpfe getötet, verwundet oder vertrieben wurden. Der EGMR habe klargestellt, dass es sich bei diesen Kriterien nicht um eine abschließende Liste handele, die in allen Fällen anzuwenden sei. Außerdem stellten diese Kriterien zwar grundsätzlich eine Reihe relevanter Indizien dar, diese dürften aber nur berücksichtigt werden, wenn sie auf zuverlässigen und aktuellen Daten aus den verschiedensten unabhängigen und objektiven Quellen beruhten

Dieser umfassende und dynamische Ansatz erfordere eine komplexe Analyse sämtlicher relevanter und verfügbarer Daten. Die im Antrag auf subsidiären Schutz genannten Umstände dürften nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssten miteinander kombiniert werden, um festzustellen, ob eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 vorliege (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn 58, 59).

Der Generalanwalt hat dem Gerichtshof daher vorgeschlagen, die zweite Vorlagefrage dahingehend zu beantworten, dass die Überprüfung des Niveaus des Grads willkürlicher Gewalt des bewaffneten Konflikts zum Zweck der Feststellung, ob die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 besteht, eine sowohl quantitative als auch qualitative Gesamtwürdigung aller relevanten Tatsachen, die diesen Konflikt kennzeichnen, auf der Grundlage der Sammlung objektiver, zuverlässiger und aktueller Daten, wie insbesondere des geografischen Ausmaßes der Lage willkürlicher Gewalt, des tatsächlichen Zielorts des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet, der Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Dauer des Konflikts, des Organisationsgrads der beteiligten Streitkräfte, der Zahl der infolge der Kampfhandlungen getöteten, verwundeten oder vertriebenen Zivilpersonen und der Art der von den Krieg führenden Parteien angewandten Methoden oder Taktiken der Kriegsführung erfordere (Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH vom 11.02.2021 - C-901/19 - juris Rn. 61, 2. Entscheidungsvorschlag).

Zwar kommt den Schlussanträgen des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof keinerlei Rechtskraft zu Gute (unbeachtet soll auch bleiben, dass der EuGH regelmäßig den Schlussanträgen folgt), die Kriterien der aufgeführten Urteilen Diakité und Elgafaji können jedoch als gefestigte Rechtsprechung gelten. Das nunmehr vom Generalanwalt aufgeführte weitere Kriterium der Zahl der infolge der Kampfhandlungen getöteten, verwundeten oder vertriebenen Zivilpersonen ist indes ebenso sachdienlich (und findet sich auch bereits in der deutschen Rechtsprechung) wie das Kriterium der Art der von den kriegführenden Parteien angewandten Methoden oder Taktiken der Kriegsführung. Unter den Begriff der Verwundeten ist - wie vom Generalanwalt angemerkt - auch die Zahl der psychisch Versehrten einzubeziehen (siehe hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 - juris Rn. 93). Eine Ungleichbehandlung von psychischen und physischen Folgen von Gewalt ist mit dem Wortlaut der Richtlinie und der Europäischen Grundrechtecharta (wie auch dem Grundgesetz) unvereinbar. Art. 3 GRCh (auf deren Beachtung sich der europäische Richtliniengeber in Erwägungsgrund 16 ausdrücklich bezieht) garantiert das Recht auf Unversehrtheit. Nach dessen ersten Absatz hat jeder Mensch das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Im deutschen Recht ist das Recht auf Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geregelt und dort als "körperliche Unversehrtheit" bezeichnet, die gleichwohl die Gesundheit im biologisch-physiologischen Bereich, wie auch die psychische Gesundheit umfasst (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.01.1981 - 1 BvR 612/72 - NJW 1981, 1655; BeckOK GG/Lang, 45. Ed. 15.11.2020, GG Art. 2 Rn. 62q). Soweit der europäische Richtliniengeber in Art. 15 Buchstabe c) der Richtlinie 2011/95 (und der deutsche Gesetzgeber mit dem wortgleichen § 4 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ohne weitere Eingrenzung von der ernsthaften individuellen Bedrohung der Unversehrtheit einer Zivilperson spricht, können daher die psychischen Folgen wahlloser Gewalt nicht unbeachtet bleiben. Ob diese im Rahmen der quantitativen Betrachtung oder - mangels hierfür hinreichend konkreter, belastbarer Zahlen - in der wertenden Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen sind, kann letztlich dahinstehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat zuletzt klargestellt, dass - anders als noch vom VGH Baden-Württemberg angenommen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 - juris Rn. 110) - eine wie auch immer geartete Sperrwirkung der quantitativen Betrachtung nicht existiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - BVerwG 1 C 11.19 - Rn. 21) und damit eine Berücksichtigung weiterer Faktoren stets möglich ist.

Die Feststellung einer tatsächlichen Gefahr bedarf zudem einer Prognose, ob für die (absehbare) Zukunft mit einer Veränderung der Lage zu rechnen ist, um neuere Entwicklungen, die sich gegebenenfalls noch nicht in Statistiken niedergeschlagen haben, angemessen zu berücksichtigen (zur Flüchtlingsrechtlichen Prognose siehe auch Berlit: Die Bestimmung der "Gefahrendichte" im Rahmen der Prüfung der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter, ZAR 2017, 110, 112 beck-online).

All dem steht auch die (neuere) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner aktuellen Rechtsprechung aufgeführt, es handele sich bei seinem quantitativen Ansatz gerade nicht um einen höchstrichterlichen, auf alle Konfliktlagen anwendbaren "Gefahrenwert" im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle, sondern es werde stets Raum für eine abschließende Gesamtbetrachtung gelassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - BVerwG 1 C 11.19 - Rn. 21). Soweit dies im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (und der oben beschriebenen allgemeinen Spruchpraxis nahezu aller Gerichte in Deutschland) steht, nach der eine fehlende wertende Gesamtbetrachtung jedenfalls dann ohne Folgen bleibt (daher entbehrlich ist), wenn das statistisch festgestellte Risiko so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwirken vermag, darf davon ausgegangen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht länger an einem Überwiegen eines einzelnen Kriteriums festhält, sondern eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände stets für erforderlich erachtet.

Eine reine (oder überwiegende) quantitative Analyse würde zudem den Zweck der Richtlinie, jenen Schutz zu bieten, die diesen benötigen (siehe Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2011/95), ad absurdum führen, denn sie würde letztlich verlangen, dass zunächst zehntausende an Menschen sterben bzw. verletzt werden müssten um eine ausreichend hohe Quote zu begründen, bevor auch nur einer Person Schutz gewährt werden könnte. Die Gewährung von Schutz ist indes ein präventives Mittel, welches den Eintritt eines Schadens gerade verhindern soll. Schon aus diesem Grund kann eine quantitative Analyse allenfalls ergänzend zu einer allgemeinen Betrachtung herangezogen werden und taugt nicht als vorgeschaltetes Ausschlusskriterium.

Letztlich kann es dahinstehen, ob die Spruchpraxis des Bundesverwaltungsgerichts und diverser Obergerichte aufgrund der vom Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof aufgeworfenen (überzeugenden) europarechtlichen Erwägungen mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist, oder nicht. Denn in seiner neueren Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht eine qualitative Prüfung aller Kriterien, die zumindest auch quantitative Aspekte aufgreift, für mit seiner Rechtsprechung vergleichbar erachtet (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 - Rn. 21). Kann eine quantitative Analyse nicht durchgeführt werden, etwa wenn auch nach Ausschöpfung aller Ermittlungsansätze die tatsächliche Zahl der Opfer nicht einmal annährungsweise seriös geschätzt werden könne, erachtet das Bundesverwaltungsgericht die quantitative Analyse zudem als entbehrlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 - Rn. 22).

Die Frage, ob eine allgemeine Gefahrenlage aufgrund willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ein so hohes Niveau erreicht, dass eine Zivilperson allein durch die Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bedarf nach all dem einer wertenden Gesamtbetrachtung, in die die Dauer des Konflikts, dessen geografische Ausdehnung, dessen Intensität, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte, die Art der angewandten Methoden oder Taktiken der Kriegsführung und die Zahl der infolge der Kampfhandlungen getöteten, verwundeten, psychisch erkrankten oder vertriebenen Zivilpersonen gleichberechtigt mit einfließen. Auf Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist sodann eine Prognose hinsichtlich der tatsächlichen, zukünftigen Gefährdung bei einer Rückkehr der betreffenden Person zu treffen.

Bezugspunkt für die Gefahrenanalyse ist zunächst das gesamte Staatsgebiet des Herkunftslandes des Ausländers (vgl. RL 2011/95 Art. 2 f) "bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland"; RL 2011/95 Art. 3 Abs. 3 a) "alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen"). Erstreckt sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet, kommt eine individuelle Bedrohung in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird und dem Kläger dort die Gefahr droht (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 - Rn. 13, juris; Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9/08 - juris Rn. 17). Eines strengen zeitlichen Zusammenhangs in der Gestalt, dass dem Kläger die Gefahr alsbald nach dessen Rückkehr drohen muss, wie er im Fall von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG gefordert wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10/09 - juris Rn. 15), bedarf es nicht.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sprechen stichhaltige Gründe dafür, dass für den Kläger in ganz Afghanistan eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht.

Der Konflikt in Afghanistan unterliegt den typischen Einschränkungen unübersichtlicher Kampfhandlungen. Der unzureichende Zugang zu entlegenen Regionen und ein nur begrenzt handlungsfähiger Staat machen eine Erhebung von gesicherten Daten schwierig. Gleichzeitig sind zahlreiche staatliche, überstaatliche und nichtstaatliche Organisationen in Afghanistan aktiv und veröffentlichen regelmäßig umfassende Berichte zur sicherheitspolitischen Lage. Von besonderer Bedeutung und Qualität sind hierbei die Berichte der United Nations Assistance Mission to Afghanistan (UNAMA), des European Asylum Support Office (EASO), des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), der National Statistics and Information Authority (NSIA).

Soweit teilweise vertreten wird, dass eine umfassende qualitative Analyse als Grundlage einer individuellen Prognose, ob eine "tatsächliche Gefahr" einer ernsthaften individuellen Bedrohung besteht, schon deswegen Bedenken begegne, weil dieser Ansatz die Feststellungsprobleme drastisch erhöhe und verschiebe (so etwa Berlit: Die Bestimmung der "Gefahrendichte" im Rahmen der Prüfung der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter, ZAR 2017, 113, 118), ist dies hinsichtlich des Konflikts in Afghanistan nicht der Fall. Es existieren zahlreiche belastbare Informationen bezüglich der politischen, strukturellen, wirtschaftlichen, strategischen sowie taktischen Dimensionen des Konflikts. Zwar verhalten sich auch die Konfliktparteien in Afghanistan nicht streng rational, die Erkenntnismittel zu den allgemeinen Parametern des afghanischen Bürgerkriegs sind aber jedenfalls nicht weniger zuverlässig als jene zu den Opferzahlen, auf die sich eine quantitative Analyse stützt.

In Afghanistan herrscht seit über 40 Jahren ein intensiver Bürgerkrieg, in dem bisher hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Menschen gestorben sind. Nach dem Sturz der Monarchie 1973 kam es zunächst zu verschiedenen unpopulären und wenig erfolgreichen Regierungen. 1978 löste eine Reihe von Reformen der Regierung (insbesondere bezüglich des islamischen Zivil- bzw.- Eherechts) erhebliche Proteste aus. Die gewaltsame Reaktion der Regierung forderte tausende Todesopfer, ab Frühjahr 1979 kam es nahezu im ganzen Land zu gewaltsamen Konflikten. Die afghanische Regierung bat die Sowjetunion um Hilfe. Mit der Ankunft der ersten Truppen im Sommer 1979 begann der sowjetische Teil des afghanischen Bürgerkriegs, bei dem Truppen einer von den Sowjets neu eingesetzten afghanischen Regierung gemeinsam mit sowjetischen Soldaten gegen zahlreiche aufständische Mudschahidin-Gruppen kämpften (Goodson, Afghanistan's Endless War: State Failure, Regional Politics, and the Rise of the Taliban, 2001, University of Washington Press, Seiten 56, 57). Mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen 1989 begann die afghanische Phase des Bürgerkriegs. Die von der Sowjetunion unterstützte kommunistische Regierung konnte sich noch bis Anfang 1992 gegen die Aufständischen verteidigen, die Eroberung Kabuls letztlich aber nicht verhindern. Die siegreichen Mudschahidin-Gruppen waren indes untereinander ebenfalls zerstritten, sodass es bis 1995 zu heftigen Kämpfen um die Hauptstadt Kabul kam. Die 1994 gegründete Taliban-Bewegung konnte schließlich die Oberhand gewinnen, Kabul einnehmen und 1996 das Islamische Emirat Afghanistans gründen. In der Zeit von 1996 bis 2001 bekämpften fortan die Taliban verschiedene rivalisierende Gruppen, von denen die stärkste die tadschikische Dschamiat-i Islami unter Ahmad Schah Massoud war. Aufgrund der erheblichen militärischen Erfolge der Taliban kam es schließlich zum Zusammenschluss verschiedener Oppositionsgruppen unter dem Banner der Nordallianz. Maßgebliche Unterstützung erhielten die Taliban in dieser Zeit durch die wahbitische Terrororganisation al-Qaida, die Afghanistan als Basis für ihre Kampagne des internationalen Terrorismus nutze. Im Zuge der Terroranschläge vom 11. September 2001 unterstützen die USA mit massiven Luftschlägen eine Offensive der Nordallianz, die die Taliban binnen kurzer Zeit zurückdrängte. In der Folge besetzten internationale Truppen das Land und setzten eine Übergangsregierung unter Hamid Karzai ein. Eine kurze und vergleichsweise ruhige Phase nach dem Sturz der Taliban mündete in einen immer heftiger eskalierenden Guerillakrieg, der auch im Zuge der massiven Aufstockung internationaler Truppen während der ersten Amtsperiode Präsident Obamas nicht nachhaltig befriedet werden konnte. Seit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden im Jahr 2014 kämpft der afghanische Zentralstaat unterstützt von einer kleiner werdenden Zahl internationaler Ausbilder, Spezialkräfte und Berater gegen die Aufständischen, die ihre Macht konsolidiert haben und weite Teile des Landes kontrollieren (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 19, 20).

Der Krieg in Afghanistan ist seit jeher geprägt von direkter und indirekter ausländischer Unterstützung. Im Kampf gegen die sowjetischen Truppen wurden die Mudschahidin von Pakistan, den USA und anderen Staaten mit Waffen, Geld und Geheimdienstinformationen versorgt. Die kommunistische Regierung erhielt auch nach dem Fall der Sowjetunion von Russland erhebliche Unterstützung. Die Taliban wurden seit ihrer Gründung maßgeblich von Pakistan, insbesondere dessen Geheimdienst ISI, unterstützt. Die Nordallianz unter Schah Massoud erhielt Unterstützung aus Russland, nach den Anschlägen vom 11. September auch aus den USA und dem westlichen Ausland. Gegenwärtig wird der afghanische Zentralstaat sowohl von den ehemaligen ISAF-Ländern, als auch von Indien und Russland maßgeblich unterstützt. Zuletzt haben sich die Berichte gehäuft, dass Russland neben seiner offiziellen Unterstützung für die afghanische Regierung insgeheim auch den Taliban Unterstützung zukommen lässt (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 26).

Die Taliban erfahren auch heute noch (verdeckte) Unterstützung durch den pakistanischen Geheimdienst und von ausländischen Geldgebern, insbesondere aus der Golf-Region. Nach Angaben der US-Geheimdienste ergab die Auswertung von Material, das beim Angriff auf das Versteck Osama bin Ladens in Abottabad sichergestellt wurde, dass der ISI weiterhin intensiven Kontakt zu den Taliban hält (https://cisac.fsi.stanford.edu/mappingmilitants/profiles/afghan-taliban). Im Übrigen finanzieren sich die Taliban über Schutzgelder, die Erhebung von Steuern in ihrem Gebiet (die häufig den Charakter von Schutzgeldern haben), Drogenhandel und Spenden aus dem Ausland (https://www.dw.com/en/how-the-taliban-get-their-money).

Die afghanische Regierung finanziert sich durch Steuern und Kontributionen aus dem Ausland. Letztere sind für ungefähr 50 % des zivilen und 90 % des militärischen Budgets verantwortlich (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 43).

Die afghanische Gesellschaft ist weiterhin vom Gegensatz der Stadt- und Landbevölkerung geprägt. Die zunehmende Urbanisierung hat eine (vergleichsweise) offene und progressive (wiewohl nach westlichen Standards nach wie vor extrem konservative) Bevölkerungsgruppe hervorgebracht. Diese Entwicklung ist an der Landbevölkerung bislang vorbeigegangen. Die Konzentration von Investitionen und politischer Macht in den Bevölkerungszenten hat zudem zu einem Gefühl der Verbitterung der Landbevölkerung gegenüber den Städtern geführt (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 49, 50). Trotz der Urbanisierung der vergangenen Jahre leben weiterhin über 75 % aller Afghanen auf dem Land oder als Nomaden (National Statistics and Information Authority, Estimated Population of Afghanistan 2020 - 2021, Seite III).

In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Versuche, einen dauerhaften Frieden im Wege von Verhandlungen zu finden. Zahlreiche dieser Versuche sind aus verschiedenen Gründen gescheitert. Der gegenwärtige, seit Ende 2018 andauernde Friedensprozess gilt sowohl als vielversprechendste, als auch als vorerst letzte Chance, in Afghanistan einen Frieden zu finden.

Am 29. Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban in Doha eine Einigung, nach der die Taliban Terrororganisationen, die eine Gefahr für die USA oder NATO darstellen, nicht länger unterstützen und im Gegenzug die internationalen Truppen bis zum 1. Mai 2021 aus Afghanistan abgezogen werden. Bis zu diesem Datum soll es zudem weder Luftschläge der internationalen Truppen gegen die Taliban, noch Angriffe der Taliban auf internationale Truppen geben. Die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban fanden ohne Beteiligung der afghanischen Regierung statt. Gleichwohl war ein Gefangenenaustausch vor allem von Talibankämpfern in Gefängnissen der afghanischen Regierung Teil der Einigung (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 24; umfangreich mit allen wesentlichen Vereinbarungen: UN Security Counsel, Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 19. Mai 2020, Seiten 6, 7).

Die Einigung zwischen den USA und den Taliban galt als wichtigste Vorbedingung für innerafghanische Friedensverhandlungen. Es liegen allerdings Anzeichen dafür vor, dass die Taliban entgegen der Vereinbarung weiterhin Verbindungen zu Terrororganisationen unterhalten und Angriffe auf US-Truppen unterstützen (SIGAR Quaterly Report to Congress, 30. Janaur 2021, Seite 48). Die innerafghanischen Friedensgespräche begannen offiziell am 12. September 2020 in Doha. Seither ist die Gewalt im Land sprunghaft angestiegen, zahlreiche Angriffe werden dabei zwar den Taliban zugeschrieben. Die Taliban selber haben die Verantwortung für viele der Angriffe von sich gewiesen. (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 11). Die neue US-Administration kündigte bei ihrer Amtsübernahme an, den vollständigen Rückzug der NATO-Truppen zum 1. Mai 2021 zu reevaluieren.

Nachdem die Friedensverhandlungen in Doha auch nach einem knappen halben Jahr keine Fortschritte erzielen konnten, haben die USA im März 2021 sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung zu einer Intensivierung der Gespräche und der Bildung einer Übergangsregierung aufgerufen. Eine erste Friedenskonferenz in Moskau am 18. März 2021 endete ohne wesentliche Ergebnisse, aber auch ohne einen Abbruch der Verhandlungen. Die Taliban haben sich trotz internationaler Aufrufe im Anschluss geweigert, auf die Ankündigung einer Frühjahrsoffensive zu verzichten. An der Konferenz nahmen neben gewählten Mitgliedern der afghanischen Regierung auf deren Seite erstmals auch wieder außerhalb der demokratischen Ordnung stehende Potentaten, wie etwa der ehemalige Vizepräsident und Warlord Abdul Rashid Dostum teil. Diese Entwicklung wird von Beobachtern als Rückschritt der innerafghanischen Politik gesehen.

Die Verhandlungspositionen haben sich bisher nicht verändert. Die Taliban drängen weiterhin auf die Errichtung eines islamischen Emirats und lehnen Wahlen grundsätzlich ab. Die Regierung Ghani hält sowohl an den demokratischen Prinzipien, als auch den gewonnen Frauen- und Menschenrechten fest. Im April 2021 kündigten die USA an, ihre Truppen erst zum 11. September 2021 vollständig aus Afghanistan abzuziehen. Die Taliban haben daraufhin ihre Teilnahme an weiteren Friedensverhandlungen abgesagt und den USA den Bruch des Doha-Abkommens vorgeworfen.

In Afghanistan finden Kampfhandlungen vor allem vom Frühjahr bis in den Herbst statt. Außerhalb dieser Zeiten kommt es selten zu groß angelegten Offensiven, wohl aber zu Anschlägen, Attentaten und kleineren militärischen Operationen. Sowohl die Regierung als auch die Aufständischen investieren ihre gesamte militärische Kapazität in den Konflikt, es existieren keine Reserven und keine anderweitig verwendeten Truppenteile. Für große Offensiven müssen regelmäßig auch in der Ausbildung befindliche Truppenteile bzw. Ausbilder zur Front gerufen werden. Der Konflikt ist zudem von erheblicher Brutalität gekennzeichnet, aufständische Gruppierungen machen in der Regel wenige Gefangene, sondern töten Gegner auch dann, wenn sie sich ergeben haben. Dieses Vorgehen kommt in geringerem Umfang auch bei Regierungstruppen vor (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 37).

Insgesamt nehmen bis zu 500.000 Afghanen (1,3 Prozent der gesamten Bevölkerung, 3 % der Volljährigen, über 8 % der männlichen wehrfähigen Bevölkerung im Alter von 18 bis 54 Jahren) aktiv am bewaffneten Konflikt teil. Davon stehen ca. 390.000 auf Seiten der Zentralregierung und ca. 110.000 auf Seiten der verschiedenen Aufständischen.

Die Afghanische Armee umfasst ca. 160.000 bis 230.000, vermutlich ca. 200.000 Soldaten, wobei Verluste und Desertationen Schätzungen erschweren (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 27, 28). Die Afghanische Luftwaffe umfasst ca. 8.000 Soldaten (https://www.voanews.com/east-asia/afghan-air-force-hits-taliban-maiden-laser-guided-bomb).

Die afghanische Nationalpolizei (Afghan National Police, ANP) hat eine Mannstärke von 91.000 bis 125.000 (vermutlich ca. 100.000) und ist in den Konflikt voll integriert. Ihre Mitglieder bemannen Checkpoints, nehmen aber auch an großangelegten Operationen mit tausenden von Opfern teil (EASO COI Report Afghanistan State Structure and Security Forces, August 2020 Seiten 30, 31).

Die afghanische Polizei (Afghan Local Police, ALP) umfasst ca. 30.000 Mitglieder, die insbesondere in ländlichen Regionen für Sicherheit und Präsenz sorgen sollen (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 34). Hinzu kommen ca. 30.000 bewaffnete Dorfbewohner, die als Milizen die ALP unterstützen sollen (EASO COI Report Aghanistan, Update 2020, Seiten 28, 29).

Die Nationale Sicherheitsdirektion (National Directorate of Security, NDS), hat 15.000 bis 30.000 Mitglieder, darunter auch Kampfeinheiten. Hinzu kommen von der NDS kontrollierte lokale Kräfte, deren Zahl schwer abzuschätzen ist (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 36, 37).

Die Taliban verfügen über 40.000 bis 100.000 Kämpfer, wobei die Zahl am ehesten bei ca. 80.000 liegen dürfte (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seite 20). Hinzu kamen in den vergangenen Jahren tausende inhaftierte Mitglieder. Dass die hohe Zahl an inhaftierten und gefallenen Kämpfern den Kampfwert der Taliban kaum beeinträchtigt hat, spricht eher für einen Wert am oberen Ende der Skala. Durch die Entlassung von Gefangenen wurden die Ränge der Taliban weiter verstärkt.

Der islamische Staat in Afghanistan (Islamic State in Khorasan Province, ISKP) verfügt über bis zu 4.000 Kämpfer. Operationen der internationalen Truppen und der afghanischen Armee waren indes sehr erfolgreich, sodass diese Zahl auch bei um die 1.000 liegen könnte. Die verbliebenen Mitglieder sind vor allem in Zellen in ganz Afghanistan verteilt und bilden keine einheitliche Kampftruppe (EASO COI Report, Afghanistan Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seiten 29, 30).

Das Haqqani-Netzwerk verfügt über ca. 4.000 Kämpfer (EASO COI Report Afghanistan Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seite 37), al-Qaida über einige hundert bis ein paar tausend Kämpfer (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) August 2020, Seite 37). Es existiert zudem ein knappes Dutzend weiterer Gruppen mit jeweils ein paar hundert Kämpfern (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seiten 38, 39).

Der Konflikt ist auch weiterhin geprägt von wechselnden Allianzen und verwobenen Loyalitäten. So stehen sich etwa die Taliban und der ISKP offiziell verfeindet gegenüber, haben jedoch im Haqqani-Netzwerk einen gemeinsamen Verbündeten (siehe zur Verbindung des Haqqani-Netzwerks zum ISKP auch EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seite 31). In letzter Zeit kommt es zudem häufiger zu Anschlägen und Angriffen, die von unabhängigen Beobachtern den Taliban zugeschrieben werden, für die der ISKP aber die Verantwortung übernommen hat. Die Fraktionen im afghanischen Bürgerkrieg sind - wie auch die gesamte afghanische Gesellschaft - nicht homogen, sondern setzen sich aus verschiedenen Stämmen, lokalen Potentaten und religiösen Führern zusammen. Ein Wechsel von einer aufständischen Truppe zur anderen, oder auch von Seiten der Aufständischen auf die Regierungsseite, wie etwa im Fall des Warlords Gulbuddin Hekmatyar, kommt regelmäßig vor. Im Frühjahr 2021 kam es zum Abschuss eines Hubschraubers der afghanischen Armee mit zahlreichen Toten, der einer bis dahin weitgehend unbekannten, von den wesentlichen Akteuren des Bürgerkriegs unabhängigen Miliz deren Stärke auf bis zu 2.000 geschätzt wird, zugeschrieben wird (https://tolonews.com/afghanistan-170870).

Trotz der relativ ruhigen Wintermonate kommt es in Afghanistan nur selten zu offiziellen Kampfpausen (siehe auch UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 50, der einzige Waffenstillsand im Jahr 2020 war anlässlich des Eid al-Adha Festes und dauerte vom 31. Juli bis zum 2. August).

Neben der Intensität des bewaffneten Konflikts ist auch dessen geografische Ausdehnung zu betrachten. Ein lokal begrenzter Konflikt birgt weniger Gefahren für Zivilisten, bzw. diese Gefahren lassen sich besser voraussehen oder eingrenzen. Ein geografisch ausgedehnter Konflikt - insbesondere ohne klare Frontlinien - ist demgegenüber für Zivilisten besonders gefährlich, weil diese in der Regel von Kampfhandlungen überrascht werden und diesen nicht ausweichen können.

Geographisch verteilt sich der Konflikt in Afghanistan über das gesamte Staatsgebiet. Ob ein bestimmtes Gebiet umkämpft ist oder unter der festen Kontrolle einer Konfliktpartei steht, lässt sich oft nicht sicher sagen. Es existieren diverse abhängige und unabhängige Zählungen mit unterschiedlichen Kriterien oder Abstufungen, auch die Zahl der offiziellen Distrikte ist umstritten. Eine Zählung des Long War Journals kommt auf 133 Distrikte unter der Kontrolle der Regierung, 75 Distrikte unter Kontrolle der Taliban und 189 umkämpfte Distrikte. Nach Angaben der afghanischen Regierung gab es allein in der dritten Juniwoche 2019 442 Angriffe in 32 verschiedenen Provinzen (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 51, 52).

Die Kriegshandlungen beschränken sich zudem nicht auf die umkämpften Distrikte, sondern können grundsätzlich in allen Landesteilen vorkommen. So ist die Hauptstadt Kabul nach jeder Zählung fest in der Hand der Zentralregierung, gleichwohl kommt es hier regelmäßig zu Anschlägen und komplexen Angriffen mit zahlreichen zivilen Opfern (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 56, 57). Auch die enorme Varianz der Opferzahlen (2020 zwischen minus 86 % und plus 1.820 %, nur 5 Provinzen mit einer Veränderung von minus 10 % bis plus 10 % gegenüber dem Vorjahr, UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 110) zeigt, dass in Afghanistan nahezu jedes Gebiet jederzeit unmittelbar vom Konflikt betroffen sein kann. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt (etwa BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9/08 - juris, Rn. 17; OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 - juris Rn. 112), dass es jedenfalls dann nicht schwerpunktmäßig auf die Herkunfts- bzw. Rückkehrregion eines Klägers ankommt, wenn der bewaffnete Konflikt das gesamte oder nahezu gesamte Staatsgebiet betrifft. Dabei ist es unschädlich, wenn einzelne Regionen weniger vom bewaffneten Konflikt betroffen sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich - wie hier - um einen dynamischen Konflikt ohne klare Frontverläufe handelt, der auch in scheinbar ruhigen Gebieten plötzlich und heftig aufflammen kann.

Der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte hat unmittelbaren Einfluss auf die Gefährdung von Zivilisten. Ein niedriger oder unzureichender Organisationsgrad kann dafürsprechen, dass den Beteiligten das Potential fehlt, umfassende Kampfhandlungen zu organisieren bzw. den Konflikt langfristig intensiv zu betreiben. Dauerhafte Kampfhandlungen sind ein erheblicher Faktor bei der Höhe ziviler Opfer (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 91). Gleichsam kann ein schlechter Organisationsgrad zu fehlender Disziplin und Präzision führen, was wiederum zivile Opfer wahrscheinlicher werden lässt. Ein hoher Organisationsgrad kann demgegenüber dafürsprechen, dass die Streitkräfte zwar über die nötige Disziplin und Präzision verfügen, zivile Opfer verhältnismäßig gut zu vermeiden, gleichsam aber ein hohes militärisches Potential besitzen, um dauerhaft intensive (und daher für Zivilisten besonders gefährliche) Kampfhandlungen zu betreiben.

Die Frage nach dem Organisationsgrad muss daher einerseits hinsichtlich des sich aus diesem ergebenden militärischen Potentials, andererseits hinsichtlich der individuellen Professionalität der Kämpfer beantwortet werden.

Die afghanische Zentralregierung besteht derzeit aus einer fragilen Koalition zwischen dem Präsidenten Muhammad Ashraf Ghani und seinem Rivalen und Vizepräsidenten Abdullah Abdullah. Im Zuge der Präsidentschaftswahlen Ende 2019 kam es zu einem monatelangen politischen Patt, das erst auf massiven Druck - insbesondere der amerikanischen Regierung - überwunden werden konnte (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 18, 20). Afghanistan gilt als eines der korruptesten Länder der Welt (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 22).

Die Afghanischen Sicherheitskräfte kämpfen vor allem mit schlechter Moral, schlechter Ausbildung und einer hohen Desertationsrate (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 28). Die NATO-Mission Resolute Support unterstützt die Sicherheitskräfte bei der Ausbildung und Ausstattung. Gleichwohl können die massiven Verluste durch Kampfhandlungen und Desertationen nicht ausgeglichen werden, sodass die Sicherheitskräfte weiterhin hinter ihren Soll-Zahlen zurück bleiben (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 28). Nichtsdestotrotz sind die Regierungstruppen den Aufständischen sowohl an Zahl als auch an Material überlegen und es gelingen ihnen auch größere Operationen. Gerade auf dem Land können zurückgewonnene Gebiete aber oft nicht gehalten werden und fallen zurück in die Kontrolle der Taliban (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 29, 33). Die schlechte Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte steht in direktem Zusammenhang mit zivilen Opfern. Bei den internationalen Truppen ist insbesondere die ALP als besonders brutal und korrupt berüchtigt (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 34, 35).

Eine juristische Kontrollinstanz, die afghanische Sicherheitskräfte zu fürchten hätten, gibt es nicht. Zwar besteht nach der afghanischen Verfassung eine unabhängige Justiz, deren tatsächliche Ausprägung ist jedoch völlig desolat (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 39, 41 f.).

Die Taliban haben neben ihren Kampftruppen zumindest auf dem Papier eine umfassende "Schatten-Regierung" mit Kommissionen zu verschiedenen Themen (etwa Finanzen, Medien, Gesundheit, etc.) gebildet. Nach außen hin tritt die Talibanführung relativ geeint auf. Im Zuge der Friedensverhandlungen mit den USA hat sich indes eine Splittergruppe gebildet, die den Friedensprozess ablehnt (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seite 19). Auch für den Fall des Erfolgs der Friedensverhandlungen mit den USA haben die Taliban ihr Kriegsziel, in Afghanistan einen islamistischen Gottesstaat unter der Führung eines Emirs zu errichten, nicht aufgegeben (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seite 20).

Grundsätzlich verfügt die Talibanführung über eine gute Kontrolle über ihre Truppen. Dies liegt nicht zuletzt an der erheblichen Gewalt, mit der die Taliban intern für Disziplin sorgen. (UN Security Counsel, Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 19. Mai 2020, Seiten 8, 10 über den Umgang mit einem lokalen Kommandeur, der die Lebensumstände der Kämpfer kritisierte: "The Taliban later claimed that Bari had maintained ties with the Government of Afghanistan, and he was summarily killed."). Die Taliban haben derzeit keinerlei Probleme, ihre Operationen zu finanzieren und neue Kämpfer zu rekrutieren und zu bewaffnen (UN Security Counsel, Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 19. Mai 2020, Seite 11).

Gleichwohl gibt es auch bei den Taliban erhebliche interne Spannungen sowohl auf politischer Ebene hinsichtlich der Friedensverhandlungen, als auch auf Stammesebene zwischen rivalisierenden Fraktionen. Zahlreiche Taliban sind zudem eng mit Terrororganisationen wie al-Qaeda verbunden. Es ist unklar, wie diese sich verhalten werden, sollten die Taliban in einem Friedensvertrag zur Kappung dieser Verbindungen verpflichtet werden. Ein weiterer Quell interner Streitigkeiten sind die unterschiedlichen Lebensverhältnisse und Ansichten der lokalen Kämpfer und der Führungsriege. Während letztere in relativem Komfort (oft im Ausland) lebt, ist der Alltag für die Kämpfer mit erheblichen Härten verbunden. Zwar wird berichtet, dass ein großer Teil der Talibankämpfer eine Beendigung der Kämpfe wünscht. Große Zugeständnisse hinsichtlich der Kernforderungen der Bewegung lehnt die Basis indes ab. Es wird vermutet, dass aus diesem Grund die Talibanführung den genauen Inhalt der Vereinbarung mit den USA nicht an alle Kämpfer kommuniziert hat (UN Security Counsel, Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 19. Mai 2020, Seiten 8 ff.).

Wie wohl die Talibanführung in politischen Fragen und hinsichtlich der militärischen Strategie das Heft fest in der Hand zu haben scheint, liegt die lokale Kriegsführung bei unabhängigen Kommandeuren. Diese entscheiden weitgehend autonom über Operationen und Methoden. Die sogenannten "red units" der Taliban sind eine zentrale schnelle Eingreiftruppe unter direktem Kommando der Talibanführung und stellen die Elite der Kämpfer dar (UN Security Counsel, Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 19. Mai 2020, Seiten 25; https://www.longwarjournal.org/archives/2020/04/taliban-touts-more-elite-red-unit-fighter-training-on-social-media.php).

Trotz ihrer jeweiligen Defizite sind alle Beteiligten in der Lage, erfolgreiche Operationen - teilweise mit tausenden Kämpfern gleichzeitig - durchzuführen und ihren Machtanspruch im ganzen Land zu demonstrieren. Schlechte Ausbildung - aber auch Disziplinlosigkeit und Brutalität - führen auf beiden Seiten dazu, dass Zivilisten zu Schaden kommen. Effektive Kontrollinstanzen sind nicht vorhanden.

Die Art der Kriegsführung und die von den Konfliktparteien eingesetzten Taktiken haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Gefahr für Zivilisten. Besonders gefährlich sind Kämpfe in urbanem Gebiet (vor allem beim Einsatz schwerer Waffen), fehlende Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und Kämpfern (etwa wenn Truppen "in zivil" kämpfen) und unklare bzw. stetig wechselnde Frontverläufe. Ebenso ist von erheblichen Belang, ob die Konfliktparteien Zivilisten als besonders schutzwürdig ansehen, ignorieren oder als legitime Ziele attackieren.

Truppen bzw. Sicherheitsbehörden der Zentralregierung werden in erheblichem Umfang in der Fläche eingesetzt und schützen Verkehrswege, Infrastruktur und Ballungsräume durch Checkpoints, Außenposten und Polizeistationen (siehe hierzu ausführlich EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 27 ff.). Gleichzeitig führt die afghanische Armee großangelegte Operationen gegen Talibangebiete durch, bzw. reagiert auf von den Taliban begonnenen Offensiven. Sowohl die Armee, als auch die ANP und des NDS führen zudem zielgerichtete Operationen gegen bestimmte Ziele, wie etwa Kommandeure, Ausbildungslager oder ähnliches durch (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 36, 37). Von Einheiten des NDS wird berichtet, dass diese bei ihren Einsätzen regelmäßig Gefangene Kämpfer und festgehaltene Zivilisten exekutieren (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 37).

Die afghanische Luftwaffe ist in den vergangenen Jahren erheblich erweitert worden und versucht, die bisher von internationalen Truppen bereitgestellte Luftunterstützung zu ersetzen. Hierzu stehen ihr einige (leichte) Kampfhubschrauber russischer bzw. sowjetischer Bauart, sowie ca. 20 neuere Erdkampfflugzeuge vom Typ A-29 Super Tucano zur Verfügung (https://afghanistan.asia-news.com/en_GB/articles/cnmi_st/features/2020/05/06/feature-03). Der Ausbildungsstand der afghanischen Piloten und der Feuerleitoffiziere am Boden ist indes nicht auf dem Niveau westlicher Streitkräfte. Der vergleichsweise hohe Anteil an zivilen Opfern aufgrund von Kampfhandlungen der Regierungstruppen ist maßgeblich auf die Luftwaffe zurück zu führen (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 17).

Es existieren zudem zahlreiche lokale Milizen unter der losen Kontrolle des NDS, der ANP, bzw. amerikanischer Spezialkräfte. Diese Milizen haben sich einerseits als effektive Kämpfer gegen Aufständische erwiesen, andererseits sind sie in erheblichen Umfang mit Mord, Folter, Korruption und lokalen Kämpfen um politischen Einfluss assoziiert. Die Zentralregierung hat einigen dieser Milizen die Unterstützung entzogen, gleichwohl sind diese weiterhin aktiv (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 18, 29).

Kriegsverbrechen durch Regierungstruppen kommen vor, so gibt es Berichte darüber, dass Familien von Talibankämpfern vorsätzlich von afghanischen Sicherheitskräften getötet wurden (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 27).

Die Taliban führen sowohl konkrete Offensiven durch um langfristige Gebietsgewinne zu erreichen, als auch Schock-Angriffe auf Städte mit späterem Rückzug, Angriffe auf Außenposten, Straßensperren und ähnliches (umfangreich mit zahlreichen Beispielen: EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 30 ff.). Insbesondere komplexe Angriffe auf Städte, wie etwa auf Kunduz Ende August 2019 (siehe hierzu auch EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 50, 51), verdeutlichen die Fähigkeit der Taliban, den Krieg auch in urbane Gebiete zu tragen. Darüber hinaus verüben die Taliban Anschläge auf Regierungseinrichtungen und gezielte Attentate. Hierbei sind fast immer auch zivile Opfer möglich. Die Taliban führen zudem auch (Selbstmord-)Anschläge auf rein zivile Ziele mit zahlreichen Toten durch, um die Zentralregierung zu delegitimieren und die Bevölkerung einzuschüchtern (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seiten 22 bis 27). Die Taliban nutzen Kinder als Selbstmordattentäter und um improvisierte Sprengsätze zu platzieren (EASO COI Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020, Seite 21). Die Taliban nutzen Zivilisten zudem regelmäßig als menschliche Schutzschilde, etwa indem sie sich bei Angriffen bewusst unter die Zivilbevölkerung mischen oder sich bei Beschuss durch Regierungstruppen in Wohnhäuser zurückziehen (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seiten 59, 60).

Der islamische Staat beschränkt sich nahezu ausschließlich auf Anschläge und Überfälle auf "weiche" Ziele. Angriffe auf die Zivilbevölkerung erfolgen auch aufgrund derer Religion oder Ethnie, etwa Hazara oder Hindus (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seiten 55, 56).

Insgesamt droht Zivilisten in Afghanistan von allen am Konflikt Beteiligten Gefahr, sei es als Kollateralschäden, die von allen Kriegsparteien hingenommen werden, oder als unmittelbare Ziele wahlloser Gewalt oder als menschliche Schutzschilde. Das allgemeine Risiko ist auch dadurch erhöht, dass es in Afghanistan kaum klare Fronten gibt, von denen sich Zivilisten fernhalten könnten. Zahlreiche Provinzen und Distrikte sind "umkämpft", Talibanangriffe können sich nahezu im ganzen Land ohne jede Vorwarnung aus dem Nichts materialisieren. Gleiches gilt für Operationen der Regierungstruppen gegen echte oder vermeintliche Aufständische. In urbanen Gebieten kommt es zudem unabhängig von konkreten kampfhandlungen regelmäßig zu wahllosem Beschuss mit Mörsern und Raketen (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 24).

Sowohl die Regierungstruppen, als auch Aufständische nutzen bei Gefechten indirektes Feuer, daher Artillerie, Mörser, Raketen u. a. in dicht besiedelten Gebieten, was zu einer erheblichen Gefährdung von Zivilisten führt (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 74 "UNAMA remains concerned that many of the civilian casualties were caused as a result of the use of artillery shells, mortars and rockets in populated areas").

Die United Nations Assistance Mission to Afghanistan (UNAMA) tritt regelmäßig mit Empfehlungen an die Konfliktparteien heran, um die Zahl ziviler Opfer zu beschränken. Zwar zeigen sich sowohl die Regierung als auch die Taliban nach außen hin bemüht, diese Empfehlungen auch teilweise umzusetzen (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 91). Eine tatsächliche Verbesserung ist allerdings nicht zu beobachten. Die afghanische Regierung unterdrückt regelmäßig Berichte über Opfer bei Einsätzen ihrer Sicherheitskräfte (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seiten 91, 92). Die Taliban haben zwar eine Kommission zur Verhinderung von zivilen Opfern (Commission for the Prevention of Civilian Casualties and Complaints) gegründet, die mit der UNAMA kooperiert und bei zivilen Opfern durch Talibanangriffe ermitteln soll. Die UNAMA merkt indes an, dass die Arbeit der Kommission bisher wenig effektiv ist und nahezu alle Fälle von zivilen Opfern von den Taliban anderen Konfliktparteien zugeschrieben werden (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 96). Die Taliban und insbesondere der ISKP akzeptieren zudem nicht die international anerkannte Definition von Zivilisten. So gelten auch solche Personen als legitime Ziele, die Kämpfer nur indirekt unterstützen, etwa indem sie diesen Lebensmittel verkaufen (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 51, Victim Interview: "The Taliban entered my brother's house. They then took him about 20 meters away from his house and shot him dead. My brother's only mistake was that he used to supply bread to the police").

Diese Erkenntnisse schlagen sich auch in einer quantitativen Analyse der zivilen Opfer des Afghanistankrieges nieder.

Die quantitative Analyse gibt Aufschluss über die tatsächlichen Auswirkungen der oben aufgeführten Umstände, quantifiziert diese und setzt sie zueinander ins Verhältnis. Dabei ist nicht nur auf die konkreten Opferzahlen einzugehen, sondern auch auf deren Ursachen, daher die jeweils verantwortlichen Akteure und Art der Gewalthandlungen. Hierbei kommt es auch auf die Methodik der erhobenen Zahlen, deren Aussagewert und Limitationen an. Beim Bilden von Quoten muss dem doppelten statistischen Risiko Rechnung getragen werden, dass sowohl Opferzahlen, als auch Bevölkerungszahlen ihren eigenen Ungenauigkeiten und Besonderheiten unterliegen. Daher muss auch der Demografie der betrachteten Bevölkerung Rechnung getragen werden.

Die Quantitative Analyse muss zudem die Dauer des Konflikts berücksichtigen. Eine Zählung nur der jüngsten Opfer wird dem vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung gefordertem Kriterium der Beachtung der Dauer des Konflikts nicht gerecht. Zudem ist zu beachten, dass der Betroffene nicht nur für einen bestimmten Zeitraum, sondern dauerhaft in sein Herkunftsland zurückkehren soll. Herrschen dort indes langjährige Umstände, die auf eine ernsthafte Gefahr im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hindeuten, müssen auch die kumulierten Risiken einer dauerhaften Rückkehr erfasst werden. Dies ergibt sich auch aus dem Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2011/95, nach dem es ein wesentliches Ziel der Richtlinie ist, Menschen Schutz zu gewähren, die diesen tatsächlich benötigen und der keine Einschränkung hinsichtlich des Zeitraums dieses Schutzbedarfs enthält.

Seit Beginn der Zählungen im Jahr 2009 hat die UNAMA über 35.000 getötete und 65.000 verwundete Zivilisten gezählt (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2019, Seite 5).

Die UNAMA zählt dabei nur verifizierte zivile Opfer. Ein Opfer zählt nur dann als verifiziert, wenn drei unabhängige Quellen es bestätigt haben. Neben Zeugenaussagen verlässt sich die UNAMA auch auf Bild- und Videomaterial, Besuche in Krankenhäusern und Kontakte zu NGOs. Ist die UNAMA nicht überzeugt von der Verifizierung eines Opfers, so wird es nicht im Report aufgeführt. Selbiges gilt bei einem unklaren Status des Opfers, daher, wenn nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass es sich um einen Kombattanten gehandelt hat (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seiten 8, 9). Ein Opfer gilt als verletzt, wenn es in ein Krankenhaus eingeliefert wurde oder durch professionelles medizinisches Personal behandelt wurde (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 105).

Während in den größeren Städten die medizinische Versorgung zumindest insoweit gewährleistet ist, als dass die meisten Verletzten eines Anschlags eine (rudimentäre) medizinische Versorgung erhalten können, ist die Lage auf dem Land erheblich schlechter. Krankenhäuser werden regelmäßig Ziel von Angriffen Aufständischer, oft mit dem Ziel, die medizinische Versorgung zu unterbrechen und die Legitimität der Regierung zu untergraben (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seiten 161, 194, 224). Am 19. September 2019 zerstörten die Taliban etwa das wichtigste Krankenhaus der Provinz Zabul in Qalat Stadt, welches einen Einzugsbereich von über 2 Millionen Menschen hatte (EASO COI Report Afghanistan, State Structure and Security Forces, August 2020, Seite 319). Angriffe auf Krankenhäuser, sekundäre Anschläge und die generell fehlende medizinische Infrastruktur tragen ebenfalls dazu bei, dass nicht alle zivilen Opfer von Gewalt von der UNAMA erfasst werden.

Die Methodik der UNAMA führt einerseits zu einer hohen Verlässlichkeit hinsichtlich des Mindestmaßes an zivilen Opfern. Andererseits führt die sehr restriktive Methodik zu einer kaum erfassbaren Dunkelziffer. Es kann letztlich dahinstehen, ob man diese Dunkelziffer anhand eines Faktors erhöhen möchte (so etwa das Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 - juris Rn 65) oder anhand einer qualitativen Betrachtungsweise berücksichtigen möchte (so etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 133 ff.; OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A - juris Rn. 146 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 12.02.2020 - 1 LB 276/19 - juris Rn. 63, freilich ohne in seiner qualitativen Analyse auf eine Dunkelziffer einzugehen).

Denn eine solche Extrapolation ist gar nicht erforderlich, wenn man die Zahlen der UNAMA nur als ein Kriterium unter vielen und nicht als statistischen Grenzwert einer Prüfung sieht. Zwar könnte man dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit heranziehen, und so einen oberen Grenzwert definieren - daher es dürfte wohl beachtlich wahrscheinlich sein, dass die Zählung der UNAMA jedenfalls nicht um den Faktor 10 zu erhöhen ist. Ohne tatsächliche Anhaltspunkte für einen solchen Faktor, etwa Zahlen hinsichtlich der der UNAMA zwar bekannt gewordenen, aber nicht verifizierbaren Opfer, oder einer Analyse einzelner Anschläge oder Zeiträume, bei denen die Zahlen der UNAMA durch eine - ressourcenaufwändigere - umfassende Erhebung ergänzt werden, ist ein solcher Faktor indes stets reine Spekulation. Eine Extrapolation müsste zudem auch die Unterschiede der einzelnen Regionen (insbesondere hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit durch die UNAMA und die verfügbare Infrastruktur) berücksichtigen und könnte daher nicht für ganz Afghanistan einheitlich vorgenommen werden.

Soweit einzelne Gerichte die Zahlen der UNAMA für nahezu korrekt erachten (OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A - juris Rn 128; VG Cottbus, Urteil vom 21.02.2020 - 6 K 608/17.A - Rn. 76 juris; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 219.17 A - juris Rn. 44) ist dem nicht zu folgen. Das Argument, gerade bei schweren Anschlägen mit vielen Opfern sei eine genaue Zählung sehr einfach, entbehrt jeder tatsächlichen Grundlage. Bei schweren Anschlägen mit großer Sprengkraft werden zahlreiche Opfer völlig zerfetzt oder bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Das Chaos nach einer solchen Explosion verhindert zudem, dass alle Verletzten adäquat in die Zählung mit einfließen, etwa weil sie aufgrund der begründeten Furcht vor einem Doppelanschlag das Gebiet schnellstmöglich verlassen oder die medizinischen Kapazitäten erschöpft sind. Eines der am besten dokumentierten Ereignisse mit zahlreichen zivilen Opfern in Afghanistan ist der von deutschen Truppen angeforderte Luftschlag auf zwei Tanklaster in der Nähe von Kunduz. Trotz Untersuchungen der afghanischen, deutschen und amerikanischen Behörden und dem großen internationalen Interesse ist bis heute völlig unklar, wie viele Personen bei dem Angriff tatsächlich verletzt oder getötet wurden.

Die Zahlen der UNAMA können nicht als absolute Zahlen gelten (außer in ihrer Eigenschaft als Mindestwert), sondern müssen im Kontext zu ihrer Methodik gesehen werden. Setzt man voraus, dass diese über die Jahre in etwa gleich zuverlässig geblieben ist, lässt sich aus den Zahlen der UNAMA sowohl eine belastbare Aussage über die Entwicklung (daher das relative Verhältnis der Opferzahlen von Jahr zu Jahr) als auch über die von der UNAMA ebenfalls verifizierten Ursachen der Opferzahlen (verantwortlicher Akteur, Art der Gewalt) treffen. In diese Betrachtung müssen individuelle Defizite in der Methodik (etwa die schlechtere Erreichbarkeit von bestimmten Regionen in Folge von Naturkatastrophen oder zunehmender Gewalt) gegebenenfalls mit einbezogen werden.

Dies vorausgeschickt stellen sich die Zahlen aus dem aktuellen UNAMA Report für das Jahr 2020 wie folgt dar.

Anfang 2020 ist die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahresquartal erheblich zurückgegangen. Nach der Dokumentation der UNAMA belief sich die Gesamtzahl der zivilen Opfer in Afghanistan im ersten Quartal 2020 landesweit auf 1.293 (533 Tote und 760 Verletzte), was einem Rückgang von 29 % gegenüber dem ersten Quartal 2019 entspricht und zugleich den niedrigsten Wert für ein erstes Quartal seit dem Jahr 2012 darstellt (vgl. UNAMA, Afghanistan, First Quarter Report on Protection of civilians in armed conflict, 2020, S. 1). In der Zeit vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2020 belief sich die Zahl der landesweiten Opfer auf 3.458 (1.282 Tote und 2.176 Verletzte), was einem Rückgang von 13 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Dies bedeutet aber auch, dass das 2. Quartal ähnlich verlustreich wie in den vergangenen Jahren war (vgl. UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Midyear Report: 1. Januar - 30. Juni 2020, S. 3).

Für die Zeit bis zum 1. September 2020 lag die Opferzahl bei 5.939 (2.117 Tote und 3.822 Verletzte) und damit weiterhin deutlich unter den Vorjahreszeiträumen. Als Grund für den Rückgang der zivilen Opfer ist laut der UNAMA vor allem der weitgehende Verzicht der internationalen Truppen auf Luftschläge im Zuge der Friedensverhandlungen und ein Rückgang der von den Taliban verwundeten, bei leicht gestiegener Zahl an getöteten, Zivilisten. Die Zahl der zivilen Opfer durch militärische Operationen der Regierungstruppen ist im Vergleich zu 2019 um 25 % gestiegen (vgl. UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, 3rd Quarter Report: 1. Januar - 30 September 2020, Seiten 1, 3, 8, 13). Die UNAMA merkt in ihrem Report an, dass neben den (oben geschilderten) generellen Schwierigkeiten bei der restriktiven Methodik ihrer Opferzählung die Einschränkungen durch die Covid-19 Pandemie die Verifizierung von Opfern zusätzlich erschwert habe und daher von einer noch höheren Dunkelziffer auszugehen sei (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, 3rd Quarter Report: 1. Januar - 30 September 2020, Seite 17).

Der Beginn der Friedensverhandlungen im September 2020 war von einem erheblichen und uncharakteristischen Anstieg der Gewalt im vierten Quartal 2020 (45 % über dem Vorjahresquartal) begleitet. 2020 war zudem das erste Jahr, in dem für jedes Quartal im Vergleich zum vorherigen Quartal ein Anstieg der zivilen Opferzahlen festgestellt wurde. Zwar lag die Gesamtzahl der zivilen Opfer mit 8.820 (3.035 Tote, 5.785 Verwundete) auf einem jahrelangen Tief, der Rückgang der Zahlen ist jedoch fast ausschließlich auf niedrige Zahlen im ersten und dritten Quartal und den Rückgang von Luftschlägen der internationalen Truppen zurückzuführen, während die Zahl der zivilen Opfer durch Gefechte erheblich gestiegen ist (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seiten 11, 12). Dies entspricht einem bereits 2019 festgestelltem Trend, nach dem zivile Opfer zunehmend nicht mehr weit überwiegend aus Kampfhandlungen und Anschlägen Aufständischer, sondern auch als Folge von Kampfhandlungen - insbesondere Luftschlägen - der Regierungstruppen zu beklagen sind (EASO, Afghanistan Security situation, Country of Origin Information Report September 2020, Seiten 38, 39; UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 66 "Civilian casualties from Afghan Air Force airstrikes reached record high levels, resulting in 526 Civilian casualties (234 killed and 292 injured), an increase of 126 per cent in comparison to 2019"). In ihrem Bericht für das erste Quartal 2021 hat die UNAMA einen Anstieg der zivilen Opfer von 29 % im Vergleich zum Vorjahresquartal festgestellt. Danach sind in diesem Zeitraum 573 Zivilisten getötet und 1.210 verletzt worden (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, 1st Quarter Report: 1. Januar - 31. März 2021, Seite 1). Die Opferzahlen sind damit trotz der Friedensverhandlungen wieder auf dem Niveau von 2019 angelangt. Die UNAMA hat zudem erneut darauf hingewiesen, dass auch im Jahr 2021 die Einschränkungen der Corona-Pandemie ihre Arbeit erheblich behindert haben (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, 1st Quarter Report: 1. Januar - 31. März 2021, Seite 5).

Insgesamt kann nicht von einem erheblichen oder sogar dauerhaften Rückgang der zivilen Opfer ausgegangen werden. Die positiven Effekte des Vertrages von Doha haben allenfalls vorübergehend zu einer Verringerung der Gewalt geführt. Die Einschränkungen der Corona-Pandemie dürften vor allem im 1. Quartal 2020 ebenfalls die Kampfhandlungen beeinträchtigt haben.

Die Zahlen der UNAMA lassen nur einen bedingten Rückschluss auf die Intensität der Gewalt in den jeweiligen Provinzen zu (siehe oben). Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr lagen 2020 zwischen minus 86 % und plus 1.820 %. Nur 5 Provinzen haben eine Veränderung von minus 10 % bis plus 10 % gegenüber dem Vorjahr (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 110). 2019 lag die Varianz zwischen minus 49 % und plus 500 % (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2019, Seite 94). Diese extremen Veränderungen verdeutlichen, dass das allgemeine Niveau der Gewalt in Afghanistan erheblich fluktuiert. Eine Region, die im vergangenen Jahr noch vermeintlich sicher war, kann sich schnell zu einem Hotspot der Gewalt entwickeln, gleichsam können hohe Opferzahlen schnell zurückgehen. Die starken Veränderungen zeigen aber auch die Grenzen der Aussagekraft der Zahlen der UNAMA - insbesondere ihre Unvollständigkeit - auf. Lediglich in der sehr kleinen und abgelegenen Provinz Pandschschir wurden 2019 und 2020 keine zivilen Opfer festgestellt. Gleichwohl kommt es seit Ende 2020 auch hier zu Kampfhandlungen zwischen der Regierung und Taliban (https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/newsbeitrag/taliban-greifen-afghanistans-ruhige-provinz-pandschschir-an).

Die UNAMA hat in ihrem Bericht für das Jahr 2020 festgestellt, dass 36 % der zivilen Opfer durch Gefechte am Boden (inkl. indirekter Beschuss durch Artillerie/Mörser), 34,5 % durch improvisierte Sprengsätze, 14 % bei gezielten Tötungen, 8 % durch Luftschläge, 4,5 % durch Blindgänger und 3 % durch andere Faktoren getötet oder verletzt wurden (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 15). 45 % der zivilen Opfer sind demnach den Taliban zuzuschreiben, 22 % den Regierungstruppen, 13 % dem Kreuzfeuer zwischen den Kriegsparteien, 8 % dem ISKP, 9 % undefinierten Aufständischen und jeweils ca. 1 % internationalen Truppen, regierungstreuen Milizen und unbestimmten Regierungseinheiten (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 17). Die Zahlen der UNAMA zeigen damit deutlich, dass die von den Kriegsparteien eingesetzten Taktiken (siehe oben) sich unmittelbar in den Opferzahlen niederschlagen.

Eine bessere wissenschaftliche Zählung der zivilen Opfer in Afghanistan als die der UNAMA existiert nicht. Zu den tatsächlichen Opferzahlen im bewaffneten Konflikt in Afghanistan lassen sich daher keine seriösen Zahlen ermitteln. Zwar erscheint eine Vervielfachung der Zahlen der UNAMA nicht unrealistisch, ein konkreter Faktor hierfür würde indes reiner Spekulation entstammen und würde das Konzept der quantitativen Analyse als statistische Grundlage unterlaufen.

Die von der UNAMA erfassten Opferzahlen beinhalten nicht diejenigen Zivilisten, die aufgrund von willkürlicher Gewalt in Afghanistan psychisch erkranken oder anderweitig geschädigt werden (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 105). Eine erhebliche Dunkelziffer dürfte zudem hinsichtlich sexueller Gewalt bestehen. Zwar hat die UNAMA nur vierzehn Fälle sexuellen Missbrauchs (davon 10 gegen Kinder) durch Kombattanten verifizieren können, sie merkt aber gleichzeitig an, dass aufgrund der extrem konservativen Gesellschaftsstruktur solche Verbrechen kaum erfassbar (und noch schwerer zu verifizieren) sind (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 29). Ebenso nicht erfasst sind Opfer, die durch die zwangsweise Schließung von Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen durch Aufständische entstehen (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 36).

Psychische Folgen von willkürlicher Gewalt können bei den Opferzahlen nicht unbeachtet bleiben (siehe oben), sind jedoch ungleich schwerer zu quantifizieren. Eine Zählung, die in ihrer Methodik jener der UNAMA hinsichtlich der Toten und Verletzten nahekommen könnte, ist in Afghanistan unmöglich. Gleichwohl existieren sowohl Studien zur konkreten Verbreitung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan, als auch zu den allgemeinen Effekten von erlebter Gewalt auf die menschliche Psyche, die einen Rückschluss auf die psychologischen Folgen des Krieges auf die afghanische Bevölkerung zulassen.

Beobachtungen aus vergangenen Kriegen haben gezeigt, dass bei intensiven Kämpfen das Verhältnis von getöteten und verwundeten Soldaten zu rein psychisch versehrten in extremen Kampflagen (etwa Sturmangriffe auf gut verteidigte Stellungen) bis zu 1:1 betragen kann. Bei geringerer Intensität überwiegen die psychischen Ausfälle um ein Vielfaches. Eine Studie an Soldaten des Yom-Kippur-Krieges 1973 hat gezeigt, dass in Logistikeinheiten das Verhältnis von getöteten bzw. verwundeten Soldaten zu psychisch versehrten dreimal höher war als bei Fronttruppen, die ein viel höheres Maß an Gewalt erlebten. Es konnte zudem gezeigt werden, dass nicht (nur) das objektive Gefahrenniveau für psychische Erkrankungen relevant ist, sondern das subjektive Gefühl der Kontrolle über eine Situation. So waren Offiziere von psychischen Erkrankungen weniger betroffen als Mannschaften, obwohl israelische Offiziere ihre Truppen unmittelbar von der Front aus kommandierten und daher überproportional verwundet bzw. getötet wurden. Auch im zweiten Weltkrieg konnten erhebliche Unterschiede bei der psychischen Belastung alliierter Piloten und Bordschützen schwerer Bomber festgestellt werden. Obwohl alle Besatzungsmitglieder dem nahezu exakt gleichen (hohen) Risiko ausgesetzt waren, litten die Besatzungsmitglieder, die nicht am Steuer saßen, erheblich häufiger unter schweren psychischen Erkrankungen als die Piloten (Sebastian Junger: War, Hachette Book Group 2010, Seite 53, mit weiteren Beispielen). Der traumatisierende Effekt von Gewalt hängt daher nicht nur vom Erleben der Gewalt an sich, sondern auch von dem Grad, dem eine Person der Gewalt hilflos ausgesetzt ist, ab. Dies gilt insbesondere für Zivilisten, die in bewaffnete Konflikte geraten.

Eine Studie der israelischen Ben-Gurion-Universität während der zweiten Intifada hat ergeben, dass nach einer Welle des Terrors im Jahr 2002 bei über 10 % der zufällig ausgewählten Zivilisten klinisch relevante Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung vorlagen. Etwa 15 % der Teilnehmer gab dabei an, einen Terroranschlag unmittelbar erlebt zu haben, weitere 36 % gaben an, eine Person zu kennen, die einen Anschlag miterlebt hatte. Je mehr die Teilnehmer der Studie an die Fähigkeit der Regierung glaubten, für Sicherheit zu sorgen und je mehr die Teilnehmer ein absehbares Ende der Gewalt für möglich hielten, desto geringer war dabei die Quote an klinisch relevanten Symptomen (Yori Gidron et al., Prevalence and moderators of terror-related post-traumatic stress disorder symptoms in Israeli citizens, Journal of the Israeli Medical Association, Juli 2004, Seiten 387 - 391).

Das amerikanische National Center for PTSD geht davon aus, dass 28 % aller Zeugen eines Amoklaufs eine dauerhafte und behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Weitere 33 % zeigen danach eine akute Belastungsreaktion (https://psmag.com/education/the-psychological-aftermath-of-surviving-school-shootings). Andere Studien gehen von einer deutlich niedrigeren Prozentzahl aus, so auch eine Studie der Universität Montreal zum Amoklauf am Dawson College im Jahr 2006 mit 2 Toten und 17 Verletzten. Von 10.000 damals am Dawson College arbeitenden und eingeschriebenen Personen beantworteten 948 (von denen 79 % bei der Tat auf dem Campus anwesend waren) einen Fragebogen zu ihrer mentalen Gesundheit. Ein Drittel der Teilnehmer gab dabei an, einen Toten oder Verwundeten gesehen zu haben, 50 % hörten Schüsse und 52 % versteckten sich mit anderen Menschen. 1,8 % der Teilnehmer entwickelten erstmals in ihrem Leben eine Posttraumatische Belastungsstörung, 5 % eine schwere Depression, weitere 5 % eine Alkoholsucht und 3 % eine soziale Phobie (Monique Séguin et al., Evaluation of the Dawson College Shooting, Psychological Intervention: Moving Toward a Multimodal Extensive Plan, Psychological Trauma 2013, Seiten 268 - 276).

Das hohe Potential für psychische Erkrankungen infolge von Terroranschlägen im Vergleich zu anderen traumatisierenden Erlebnissen konnte zudem in einer Studie des Hadassah Universitätsklinikums bestätigt werden. Danach leiden etwa 37,8 % der in ein Krankenhaus eingelieferten Überlebenden eines Terroranschlages vier Monate später an psychischen Folgen. Bei traumatischen Unfällen liegt dieser Wert bei 18,7 % (Arieh Shalev, Sara Freedman: PTSD following terrorist attacks: a prospective evaluation, American Journal of Psychiatry 2005, Seiten 1188 - 1191).

Letztlich kann die genaue Zahl von psychisch Versehrten aus den tatsächlichen Opferzahlen einer Gewalttat genauso wenig extrapoliert werden, wie die Zahl der tatsächlichen Opfer des Krieges in Afghanistan aus den Zahlen der UNAMA. Es kann aber festgestellt werden, dass bei traumatisierenden Gewalttaten die Zahl der psychisch Versehrten die der Getöteten oder Verletzten um ein Vielfaches übersteigt. Auch Personen, die nicht unmittelbar ein Geschehen erleben, laufen dabei Gefahr, eine psychische Erkrankung davon zu tragen, etwa aufgrund der Angst vor Gewalt oder weil Angehörige betroffen sind. Die Folgen sind dabei umso verbreiteter, je geringer das subjektive Gefühl der Sicherheit und Kontrolle der Betroffenen ist.

Diese allgemeinen Erkenntnisse stützen die in Afghanistan durchgeführten Untersuchungen zu psychischen Erkrankungen.

Im Jahr 2019 gaben 74,5 % der Afghanen an, sich immer oder oft Sorgen um ihre persönliche Sicherheit zu machen. 2006 lag dieser Wert noch bei 40 %. Besondere Angst besteht bei Reisen (knapp 80 %), öffentlichen Veranstaltungen (75 %) und gegenüber den Taliban (93 %). Aber auch gegenüber der Afghanischen Armee (38 %) und der Afghanischen Nationalpolizei (43 %) verspüren die Afghanen Angst (The Asia Foundation, A Survey of the Afghan People, Afghanistan in 2019, Seiten 59 ff.). Die Haltung der (befragten) Afghanen zu den afghanischen Sicherheitskräften ist grundsätzlich eher positiv. Gleichwohl sind nur gut 50 % der Auffassung, die Afghanische Armee helfe dabei, die Sicherheitslage zu verbessern (53,4 %) bzw. Zivilisten zu schützen (51,8 %). Über 80 % der Afghanen sind der Auffassung, dass die Sicherheitskräfte zwingend der Unterstützung internationaler Kräfte bedürfen (The Asia Foundation, A Survey of the Afghan People, Afghanistan in 2019, Seiten 67, 68).

Eine Studie der Europäischen Union aus dem Jahr 2018 ergab, dass 85 % aller Afghanen Zeuge mindestens eines traumatischen Ereignisses wurden. Im Durchschnitt haben Afghanen vier solcher Ereignisse erlebt. Die Hälfte der Befragten gab dabei an, psychisch unter den Folgen gelitten zu haben. Jeder fünfte fühlte sich dauerhaft in seinem Leben beeinträchtigt (https://www.hrw.org/news/2019/10/07/afghanistan-little-help-conflict-linked-trauma).

Nach Schätzungen der WHO sind mindestens 2,2 Millionen Afghanen akut psychisch erkrankt, wobei die Dunkelziffer für enorm gehalten wird (https://www.handelsblatt.com/politik/international/who-zahlen-mehr-als-zwei-millionen-afghanen-psychisch-krank/). In ihrem Strategiepapier zur mentalen Gesundheit für die Jahre 2019 bis 2023 geht die afghanische Regierung davon aus, dass 26 % aller Afghanen an einer psychischen Erkrankung leiden, die sie in ihrem Alltag behindert und weitere 46 % zwar psychisch erkrankt sind, diese Erkrankung sie in ihrem Alltag jedoch nicht behindert (Afghan Ministry of Public Health, National Strategy for Mental Health 2019 - 2023, Seite 5). Auch die UNAMA geht davon aus, dass die Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts in Afghanistan erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung hat (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 12). Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ist in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 - juris Rn. 108).

Selbst wenn man davon ausgeht, dass nicht alle psychischen Erkrankungen in Afghanistan auf Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts zurück zu führen sind und die weiterhin grassierende Armut und konservativen Gesellschaftsstrukturen ihren Anteil an der Traumatisierung der Bevölkerung haben, muss davon ausgegangen werden, dass jährlich hunderttausende von Menschen aufgrund von Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts traumatische Ereignisse erleben und hierdurch versehrt werden. Der afghanische Bürgerkrieg führt jedes Jahr zu zehntausenden traumatisierenden Ereignissen mit Millionen von betroffenen Angehörigen, Zeugen und Verletzten. Die ständige Gefahr der wahllosen Gewalt spiegelt sich auch im subjektiven Empfinden vieler Afghanen wieder, denen ein Leben in (gefühlter) Sicherheit unmöglich ist. Die Traumatisierung der Zivilbevölkerung geht dabei nicht nur von Angriffen aus, bei denen (auch) Zivilisten körperlich zu Schaden kommen, sondern auch von Kampfhandlungen ohne zivile Opfer. Die Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen in Afghanistan sind angesichts der großen Zahl an Erkrankten unzureichend (Refugee Documentation Centre (Ireland), legal aid board, Information on access to mental health services in Afghanistan, Dezember 2019).

Die willkürliche Gewalt des bewaffneten Konflikts in Afghanistan hat zudem zu zahlreichen Vertriebenen geführt. Insgesamt gibt es in Afghanistan über 4.000.000 Binnenvertriebene. Etwa 75 % hiervon sind auf der Flucht vor Gewalt. Im Zeitraum vom 1. Januar bis 6. November 2019 wurden über 380.000 Personen aufgrund von Gewalt im bewaffneten Konflikt zu Binnenvertriebenen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris Rn. 61). Aufgrund der hohen Fluktuation lässt sich nicht sicher feststellen, wie viele Afghanen außerhalb des Landes auf der Flucht sind. Trotz der sehr hohen Zahl an Rückkehrern gab es allein in Pakistan und Iran im März 2020 noch knapp 2.500.000 registrierte afghanische Geflüchtete (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris Rn. 62).

Setzt man die verifizierten Opferzahlen der UNAMA zur Einwohnerzahl (2020 geschätzt 32.000.000, National Statistics and Information Authority, Afghanistan Statistical Yearbook 2019, Seite I) ins Verhältnis, so kommt man für das Jahr 2020 auf eine Quote von 1 zu 3.600 und für das Jahr 2019 von 1 zu 3.000. Bei diesem Verhältnis muss berücksichtigt werden, dass über die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist. Frauen und Kinder stellen 13 bzw. 30 % der zivilen Opfer, machen zusammen aber gut 75 % der afghanischen Bevölkerung aus (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 30; National Statistics and Information Authority, Afghanistan Statistical Yearbook 2019, Seite 1). Die Bevölkerungsgruppe der volljährigen Männer umfasst lediglich 7 Millionen Menschen. Fast 500.000 von diesen nehmen am bewaffneten Konflikt teil, sodass die Gruppe der volljährigen männlichen Zivilisten in Afghanistan ca. 6,5 Millionen Menschen oder ca. 20 % der Gesamtbevölkerung umfasst, gleichsam aber 57 % aller zivilen Opfer erbringt. Das Risiko eines erwachsenen Mannes wie des Klägers ist damit mehr als doppelt so hoch wie für die Gesamtbevölkerung. Nimmt man - wie etwa das Niedersächsische OVG - eine Verdreifachung der UNAMA-Zahlen vor, so kommt man auf ein Risiko von 1:430 (6.500.000 / 8.820 x 3 x 0,57). Faktoriert man die für das Jahr 2020 im Vergleich zu früheren Jahren erhöhte Dunkelziffer (siehe oben), in diese Rechnung mit ein, so liegt das tatsächliche Risiko des Klägers noch höher. Insofern - die Entscheidung selbstständig tragend - wäre auch nach der strengen Schwellenwert-Rechtsprechung die Grenze der beachtlichen Wahrscheinlichkeit allein aufgrund des Risikos, verletzt oder getötet zu werden erreicht.

Hinzu kommt, dass aufgrund der Dauer des jahrzehntelangen Konflikts eine Betrachtung nur eines Jahres wenig geeignet ist, die tatsächliche Gefahr für die Zivilbevölkerung abzubilden. Im Jahr 2011 lag die Bevölkerung laut der Nationalen Statistik- und Informationsbehörde (NISA) noch bei 26.000.000 (National Statistics and Information Authority, Afghanistan Statistical Yearbook 2011). Geht man für die vergangenen 10 Jahre von einer mittleren Bevölkerung von 29.000.000 Menschen aus, liegt die obige Quote (die nur das absolute Minimum an Opfern beschreibt) auch ohne eine besondere Berücksichtigung von Männern oder Dunkelziffern bei ungefähr 1 zu 300. Folgt man den Zahlen der Studie der Ben Gurion Universität (die einen Zeitraum der Gewalt von gut einem Jahr bei sehr viel geringerem Gewaltniveau abgebildet hat) sowie den allgemeinen Zahlen zu psychischen Erkrankungen in Afghanistan, liegt die Gefahr, in Afghanistan binnen eines Jahres aufgrund von wahlloser Gewalt psychisch versehrt zu werden, bei ungefähr 10 %. Über 20 % der Bevölkerung Afghanistans befinden sich auf der Flucht. Die überwiegende Mehrheit hiervon aufgrund von Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts. Jährlich werden mehrere hunderttausend weitere Menschen vertrieben.

Zusammenfassend lässt sich mit dem vorhandenen Material mit Sicherheit feststellen, dass der bewaffnete Konflikt in Afghanistan in den vergangenen zehn Jahren mindestens zehntausende an Toten und Verletzten gefordert hat. Dabei hat sich zuletzt vor allem die Verantwortung der Regierungstruppen für zivile Opfer erhöht. Im Trend ist - trotz der verhältnismäßig niedrigen UNAMA-Zahlen im Jahr 2020 - zudem ein Anstieg bzw. mindestens eine gleichbleibende Tendenz bei den Opferzahlen zu beobachten.

Es sprechen zudem stichhaltige Gründe dafür, dass die wahllose Gewalt im Zuge des bewaffneten Konflikts in Afghanistan zu einer erheblichen Traumatisierung der Bevölkerung geführt hat. Zwar kann die genaue Zahl der psychisch versehrten - ebenso wie die genaue Zahl der Toten und Verwundeten - nicht beziffert werden. Diverse Studien und Erfahrungswerte lassen jedoch den sicheren Schluss zu, dass sie jährlich in die hunderttausende, wenn nicht sogar die Millionen geht. Die Bevölkerung in Afghanistan ist der Gewalt oft hilflos ausgeliefert, das allgemeine Vertrauen in die Fähigkeiten Sicherheitskräfte ist eher gering. Neben der Gefahr des Todes, der Verwundung oder psychischen Erkrankung ist die Zivilbevölkerung in Afghanistan zudem der Gefahr der sexuellen Gewalt durch Kombattanten ausgesetzt.

Eine wertende Gesamtbetrachtung aller oben aufgeführter Aspekte des afghanischen Bürgerkrieges ergibt, dass in Afghanistan eine allgemeine Gefahrenlage aufgrund willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts vorherrscht, die ein so hohes Niveau erreicht, dass der Kläger allein durch die Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet tatsächlich Gefahr läuft, einer Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Der Konflikt ist sowohl lang andauernd, als auch intensiv, es stehen sich hunderttausende Kämpfer im ganzen Land gegenüber. Zwar ist die afghanische Wirtschaft wenig leistungsfähig, die anhaltende Unterstützung der einzelnen Konfliktparteien aus dem Ausland sorgt jedoch für ausreichend Nachschub an Kriegsmaterial, um den Konflikt bei hoher Intensität fortzuführen. Die beteiligten Streitkräfte verfügen über ein Maß an Organisation, das einerseits hoch genug ist, um regelmäßig groß angelegte militärische Operationen im ganzen Land zu betreiben, andererseits nicht hoch genug ist, um einen effektiven Schutz der Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen zu gewährleisten. Gerade die zunehmende Kriegsverantwortung der unzureichend ausgebildeten afghanischen Regierungstruppen hat zu erhöhten Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt. Die Kriegsparteien wenden zudem Methoden der Kriegsführung und Taktiken an, die sowohl zivile Opfer billigend in Kauf nehmen, als auch Zivilisten als unmittelbare Ziele von militärischer Gewalt sehen. Wahllose Angriffe mit Raketen auf Wohngebiete und Anschläge an belebten Orten werden gezielt dazu genutzt, die Bevölkerung zu traumatisieren und die Regierung zu delegitimieren. Bemühungen aller Kriegsparteien, zivile Opfer zu vermeiden, haben sich bisher weitestgehend als Lippenbekenntnisse ohne große Auswirkungen erwiesen. Zudem werden Zivilisten - insbesondere Kinder - das Ziel von sexuellem Missbrauch durch Kombattanten.

Neben zehntausenden an Toten und Verwundeten hat die wahllose Gewalt auch zu Millionen an schwer traumatisierten Personen geführt. Über 6.000.000 Menschensind bereits vor der Gewalt geflohen. Die allgemeine Bevölkerung kann diesen Gefahren nur schwer ausweichen, die Konfliktparteien stehen in komplizierten Beziehungen zueinander, Allianzen können regelmäßig und unvermittelt entstehen und zerbrechen. Zusätzlich gibt es keine dauerhaft sicheren Regionen, sondern die Gewalt schwankt nahezu überall von Jahr zu Jahr. Dem steht auch nicht entgegen, dass es einzelne Regionen gibt, die als verhältnismäßig sicher gelten können. Denn erstens ist die Aufnahmekapazität dieser kleinen und unwegsamen Provinzen bzw. Distrikte kaum ausreichend, um nennenswerten Zahlen an Zivilisten Schutz zu bieten. Zweitens sind die Kampfhandlungen mit der Eskalation 2020 mittlerweile auch in Afghanistans ruhigster Provinz angekommen, sodass auch die dortige Bevölkerung den Gefahren des Bürgerkriegs ausgesetzt ist.

Insgesamt ist festzustellen, dass Zivilisten überall im Land und auf verschiedenste Art und Weise (gezielte Tötungen, improvisierte Sprengsätze, Luftschläge, Artillerie, etc.) von den gewaltsamen Folgen des bewaffneten Konflikts derart bedroht sind, dass eine Verletzung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit in Form von körperliche Verletzungen, psychischen Erkrankungen oder Vertreibung eine tatsächliche Gefahr ist, die nicht auf eine bloße Möglichkeit reduziert werden kann.

Hieran ändert auch eine Prognose für die absehbare Zukunft nichts.

Eine solche Prognose kann nicht an einen festen Zeitraum geknüpft werden, sondern unterliegt ebenfalls dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Es liegt in der Natur komplexer Sachverhalte, dass sich einzelne ihrer Aspekte besser und für einen längeren Zeitraum vorhersehen lassen, während andere Aspekte nahezu unvorhersehbar sind. Ein fester Prognosezeitraum - etwa von einem Jahr - würde diesen Umständen nicht gerecht werden. Die Prognose muss vielmehr alle Aspekte der (notwendigerweise nur für die Vergangenheit feststellbaren) tatsächlichen Gefahr aufgreifen und diese so weit wie möglich - daher bis zu dem Punkt, an dem eine Prognose nicht mehr dem obigen Maßstab gerecht werden kann - fortdenken. Dafür kann sowohl auf die neuere Entwicklung, als auch auf die Historie des Konflikts geblickt werden.

Dies vorausgeschickt wird die tatsächliche Gefahr auch für die (absehbare) Zukunft fortbestehen. In Afghanistan wird auf absehbare Zeit ein bewaffneter Konflikt in der oben beschriebenen Intensität und Gefährlichkeit herrschen. Daran ändern auch die gegenwärtigen Friedensverhandlungen nichts.

Der lang andauernde Konflikt in Afghanistan macht einen dauerhaften Frieden schwierig. Jahrzehnte der Gewalt haben das ohnehin arme Land vollständig abhängig von internationalen Gebern werden lassen. Die afghanische Gesellschaft ist weiterhin von Stammesstrukturen und dem Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung geprägt. Die fortschreitende Urbanisierung hat eine breite Bevölkerungsschicht hervorgebracht, die sich mit den demokratischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahre identifiziert. Gleichwohl besteht nach wie vor eine große Gruppe extrem konservativer Menschen, die diese Lebensweise grundlegend ablehnt. Die Taliban sehen weiterhin die Etablierung eines islamischen Emirats als ihr Ziel an. Eine Teilnahme am demokratischen Prozess lehnen sie ab. Eine Rückkehr zu den extremen gesellschaftlichen Restriktionen der Talibanherrschaft dürfte indes für weite Teile der urbanisierten Bevölkerung Afghanistans völlig inakzeptabel sein. Eben so wenig erscheint es realistisch, dass die Taliban in einem demokratischen Prozess in angemessenem Verhältnis zu ihrem militärischen Potential an der Macht beteiligt werden würden. Die afghanische Bevölkerung lehnt die Taliban überwiegend ab, die Anzahl der Afghanen, die die Taliban rundheraus ablehnen, ist 2019 erneut um drei Prozentpunkte auf landesweit über 85 % gestiegen. Selbst in Provinzen, die fest in der Hand der Taliban sind, erreicht die Bewegung kaum mehr als 50 % Zustimmung. Der Anteil der Afghanen, die angaben, mit den Taliban "viel Sympathie" zu haben, liegt auf einem Allzeittief von 4 % (Asia Foundation, A Survey of the Afghan People, Afghanistan in 2019, Seiten 69, 70). Selbst wenn man diese Zahlen mit einer gewissen Skepsis betrachtet, scheint eine Beteiligung der Taliban am demokratischen Prozess damit fast ausgeschlossen. Sowohl auf Seiten der Regierung, als auch auf Seiten der Taliban gibt es zudem erhebliche Kräfte, die einen Friedensschluss von vornherein ablehnen. Es ist nicht fernliegend, dass die Taliban mit ihrer Teilnahme an den Friedensverhandlungen vor allem den Rückzug der internationalen Truppen bewirken wollen und an keiner Einigung mit der afghanischen Regierung - die sie ohne ihre internationalen Verbündeten für schlagbar halten - interessiert sind (UN Security Counsel, Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team, 19. Mai 2020, Seite 8).

Neben den innerafghanischen Schwierigkeiten sind auch die Interessen ausländischer Mächte in Afghanistan weiterhin ein Hindernis für einen dauerhaften Frieden. Der indische Staat ist nicht zuletzt deshalb bemüht, die Kabuler Regierung in ihrem Kampf gegen die Taliban zu unterstützten, weil ein starkes Afghanistan ein wichtiger Machtfaktor im Konflikt mit Pakistan sein könnte. Aus dem gleichen Grund destabilisiert die pakistanische Regierung seit Jahrzehnten systematisch den afghanischen Staat. Ein Ende des pakistanisch-indischen Konflikts ist kaum absehbar, sodass auch in Zukunft die Gefahr besteht, dass diese Mächte ihren Konflikt in Afghanistan fortsetzen werden. Die westlichen Gesellschaften sind zwar bemüht, ihre eigenen Truppen halbwegs gesichtswahrend aus dem Konflikt abzuziehen. Ein Scheitern der Zentralregierung und eine erneute Machtübernahme der Taliban können sie aber nicht akzeptieren, sodass von dieser Seite weiterhin mit erheblicher finanzieller und materieller Unterstützung zu rechnen ist.

Jahrzehnte des bewaffneten Konflikts haben eine schwer traumatisierte und gespaltene Gesellschaft zurückgelassen. Ein tragfähiger Frieden müsste auch Antworten für all diejenigen Gruppen finden, die sich mit der Gewalt arrangiert haben und deren Einfluss im Wesentlichen auf ihrer (gewaltsamen) Machtprojektion stützt. Die jüngere Zeit hat zudem gezeigt, dass der Konflikt in Afghanistan nicht auf den Kampf zwischen den Taliban und der Regierung reduziert werden kann. Die Taliban haben die Verantwortung für zahlreiche Angriffe von sich gewiesen und sich nur zu einem verhältnismäßig kleinen Anteil der Gewalt bekannt, oft haben andere, eigentlich mit den Taliban rivalisierende Gruppen wie der ISKP die Verantwortung übernommen. Es kann letztlich dahinstehen, ob dies dafürspricht, dass die Taliban tatsächlich ihre Angriffe reduziert haben oder lediglich aus politischen Gründen im Friedensprozess nicht als Kriegstreiber gesehen werden wollen. Denn entweder bedeutet diese Entwicklung, dass ein Rückzug der Taliban vom bewaffneten Kampf ohne weiteres von anderen aufständischen Gruppierungen kompensiert wird und ein Frieden mit den Taliban wenig an der Konfliktlage insgesamt zu ändern vermag, oder dass die Taliban weiterhin bewusst zu anderen aufständischen bzw. terroristischen Gruppierungen Verbindungen unterhalten und damit in eklatanter Weise gegen ihre ohnehin begrenzten Zusagen aus dem Friedensprozess verstoßen. Beide Optionen sprechen nicht dafür, dass ein Friedensschluss mit den Taliban geeignet ist, den bewaffneten Konflikt in Afghanistan dauerhaft zu befrieden.

Auf absehbare Zeit wird jede afghanische Regierung - daher auch eine Einheitsregierung unter Beteiligung der Taliban - zudem auf jährliche ausländische Hilfen in Milliardenhöhe angewiesen sein. Der Wiederaufbau (in vielen Teilen des Landes überhaupt der Aufbau) grundlegender Infrastruktur, die ein gleichberechtigtes Leben in Stadt und Land ermöglicht, wird ein Vielfaches der gegenwärtigen Hilfen beanspruchen. Ohne diese Hilfen droht die totale Handlungsunfähigkeit der Regierung und der erneute Zerfall in gewaltsam rivalisierende Fraktionen. Auch der Special Inspector Generals for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) geht davon aus, dass der afghanische Staat ohne internationale Hilfen nicht existieren kann (SIGAR Quaterly Report to Congress, 30. Janaur 2021: "the Afghan state itself may be unsustainable without continued international engagement"). Die internationalen Geldgeber haben ihre Kontributionen indes bereits jetzt stark verringert und an für die Taliban kaum akzeptable Bedingungen geknüpft (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris Rn. 57, 106).

Der innerafghanische Friedensprozess ist zudem in erheblichem Maße vom Erfolg des Friedensprozesses zwischen den Taliban und der amerikanischen Regierung abhängig. Im Zuge dieser Friedensverhandlungen haben die Taliban zugesichert - und sich auch weitgehend daran gehalten - keine Angriffe auf internationale Truppen durchzuführen, wenn im Gegenzug diese bis zum 1. Mai 2021 vollständig abgezogen werden. Die Verschiebung des Truppenabzugs auf September 2021 durch die neue US-Administration wird von den Taliban als Bruch des Vertrages von Doha gesehen. Die Taliban haben angekündigt, in diesem Fall sich nicht länger an die Nichtangriffsvereinbarung gebunden zu fühlen und eine erhebliche Offensive durchzuführen (https://www.usnews.com/news/world/articles/2021-02-17/afghanistan-peace-talks- under-threat-as-major-taliban-spring-offensive-takes-shape).

Mit dem nunmehr erfolgten Rückzug der Taliban von den Friedensgesprächen mindestens bis zum endgültigen Abzug der internationalen Truppen steht der Friedensprozess in Afghanistan vor dem Ende. Zwar ist nicht zu erwarten, dass die USA oder ihre Partner eine noch längere militärische Präsenz in Afghanistan anstreben. Es besteht bei keinem der beteiligten Staaten ein wie auch immer geartetes Interesse, den Einsatz eigener Truppen fortzusetzen. Es ist allerdings fraglich, ob die Taliban - selbst wenn im September 2021 alle Truppen abgezogen sind - überhaupt an den Verhandlungstisch zurückkehren werden.

Sollte ein Frieden endgültig scheitern und es zwischen dem militärischen Potential der Taliban und der Regierung zu einer weiteren Annährung kommen, wären Angriffe auf Großstädte die nächste logische Folge des Kriegsplans der Taliban, deren erklärtes mittelfristiges Ziel die Kontrolle von Provinzhauptstädten ist. Die afghanischen Großstädte sind überfüllt mit Binnenvertriebenen und weit jenseits ihrer Aufnahmekapazität, schon jetzt herrschen dort sehr schlechte humanitäre Verhältnisse, viele Menschen leben auf engem Raum. Sollten die Taliban den Konflikt auch auf operativer Ebene in die Städte treiben, droht sowohl eine humanitäre Katastrophe aufgrund der zusammenbrechenden Versorgung, als auch ein Massaker an der Zivilbevölkerung, weil diese kaum evakuierbar auf engem Raum ins Kreuzfeuer geraten würde. Ein operativer Rückzug der Zentralregierung und eine weitgehend kampflose Machtübergabe wie sie 1996 erfolgt ist, kann zwar nicht ausgeschlossen werden. Die heutige Regierung ist allerdings erheblich schlagkräftiger als die damalige Koalition aus unterschiedlichen Mudschahidin-Gruppen. Es fehlt ihr aufgrund ihrer Heterogenität zudem an einer offensichtlichen Rückzugsregion, von der aus sie den Kampf fortsetzen könnte. Ein Häuserkampf mit Luftschlägen und Artillerie würde in den informellen Siedlungen, in denen oft 5 bis 10 Personen sich einen einzelnen Raum teilen, zu zehntausenden Opfern führen.

Auch ohne dieses worst case Szenario wird die Sicherheitslage in der absehbaren Zukunft inakzeptabel bleiben. Auch wenn es zu einem halbwegs stabilen Frieden zwischen den Taliban und der Regierung kommen würde, würde dies nicht zwangsläufig zu einer dauerhaften Reduktion der Gewalt führen. Neben den Taliban existieren in Afghanistan über ein Dutzend weitere bewaffnete Gruppen, die an einem solchen Friedensschluss nicht beteiligt wären. Es ist zudem zu erwarten, dass Teile der Taliban den Kampf auch in diesem Fall fortsetzen würden. Das erhebliche Rekrutierungspotential der Taliban könnte in diesem Fall auf die Splittergruppen übergehen und diese auf das heutige Niveau der Gesamtgruppe anwachsen lassen. Es ist zudem fraglich, ob die ausländischen Finanziers der Taliban einen Friedensschluss gutheißen würden, oder ihre beträchtlichen finanziellen Mittel in die Fortsetzung der Kämpfe investieren würden.

Insgesamt überwiegen die Szenarien für einen fortgesetzten Bürgerkrieg jene für einen dauerhaften und umfassenden Frieden erheblich. Im Ergebnis kann daher in absehbarer Zukunft nicht mit einer ausreichenden Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan gerechnet werden.

Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit einem zunehmenden Rückzug der internationalen Gemeinschaft das Gewaltniveau eher steigen wird. Die afghanische Luftwaffe verfügt zwar nur über einen Bruchteil der Schlagkraft der internationalen Truppen, ist aber zunehmend für erhebliche zivile Opfer verantwortlich. Sollte der Ausbau der Luftwaffe weiter voranschreiten, ist zu erwarten, dass diese Opfer weiter um ein Vielfaches ansteigen werden - insbesondere, wenn eine adäquate Ausbildung mangels internationaler Ausbilder vor Ort nicht mehr gewährleistet werden kann. Bleibt ein solcher Ausbau der Luftwaffe aus und nährt sich das Kampfpotential der Beteiligten damit weiter an, ist damit zu rechnen, dass der Bürgerkrieg früher oder später in die dicht besiedelten Städte getragen und dort zu massiven Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung führen wird. Es ist zudem nicht zu erwarten, dass sich die Art der Kriegsführung und die von den Beteiligten eingesetzten Taktiken in Afghanistan ändern werden.

An dieser Einschätzung vermag auch eine individuelle Betrachtung der Umstände des Klägers nichts zu ändern.

Das Erfordernis einer Gefahr allgemeinerer Art schließt es nicht aus, dass in der Person des Schutzsuchenden gefahrerhöhende oder gefahrenmildernde Umstände vorliegen, die aus der allgemein bestehenden Gefährdung hervortreten und vermuten lassen, dass der Schutzsuchende einem anderen Risiko als die übrige Bevölkerung ausgesetzt ist (EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - juris Rn. 31; Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - juris Rn. 39, 43). Solche gefahrerhöhenden Umstände können sich beispielsweise aus der Zugehörigkeit zu den afghanischen Sicherheitsdiensten (Regierungsbediensteter, Polizei oder Militärangehöriger) ergeben oder bei Personen vorliegen, die solche Einrichtungen regelmäßig durch Warenlieferungen und Leistungen unterstützen. Als gefahrerhöhendes Moment kann auch die Tätigkeit als Arzt oder Journalist anzusehen sein, da dieser Personenkreis sich von Berufs wegen besonders häufig im Bereich von Gefahrenquellen aufhalten muss. Gefahrerhöhendes Merkmal kann schließlich auch die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten religiösen oder ethnischen Minderheit sein (vgl. zu den beiden letzten Aspekten BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris, Rn. 18).

Der Kläger ist im Iran geboren und aufgewachsen, zu Afghanistan hat er abseits seiner Staatsangehörigkeit keinerlei Bindung. Gefahr erhöhende oder mildernde Umstände liegen in seiner Person nicht vor.

Die Voraussetzungen für internen Schutz nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3e AsylG liegen nicht vor. Die oben genannte Gefahr droht dem Kläger insbesondere auch in der Provinz Kabul als Zielort einer möglichen Abschiebung.

Die Provinz Kabul hat laut NSIA gut 5.000.000 Einwohner (National Statistics and Information Authority, Estimated Population of Afghanistan 2020 - 2021, Seite 6). Andere Zählungen gehen von einer Einwohnerzahl zwischen 3.500.000 und 6.000.000 aus. Die Stadt Kabul ist die Hauptstadt Afghanistans und der gleichnamigen Provinz Kabul, in der es neben dem Distrikt Stadt Kabul 14 weitere Distrikte gibt (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 55). Die Bevölkerung der Stadt ist in den vergangenen Jahren massiv gewachsen. Vor allem Binnenvertriebene aus den übrigen Regionen Afghanistans und Rückkehrer aus Pakistan und Iran sind zuletzt in großer Zahl nach Kabul gekommen. Die Infrastruktur der Stadt ist mit der Aufnahme dieser meist mittellosen Menschen völlig überfordert. Nur eine Minderheit der Einwohner Kabuls bewohnt eine formelle Wohnung mehr als zwei Drittel leben in informellen Siedlungen (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, S. 13). Sowohl die Taliban, das Haqqani-Netzwerk als auch der ISKP verfügen in Kabul über Unterstützer und ein Netzwerk aus Informanten und Kämpfern (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 58).

Die UNAMA hat im Jahr 2020 817 (255 Tote, 562 Verwundete) zivile Opfer verifiziert. Dies ist ein Rückgang um 49 % gegenüber dem Vorjahr (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 36). 2019 lag diese Zahl noch bei 1.563 (261 Tote, 1.302 Verwundete) und damit 18 % unter dem Wert für 2018 (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2019, Seite 94). Die Zahl der zivilen Opfer ist in Kabul in den vergangenen Jahren damit zwar zurückgegangen, es kommt jedoch weiterhin zu hunderten Angriffen und Anschlägen im Jahr und die Zahl der getöteten Personen ist zuletzt weitgehend konstant geblieben. Als einer der Gründe für den Rückgang der Zahlen gilt eine im Herbst 2018 gestartet umfassende Neuorganisation der afghanischen Sicherheitskräfte in der Hauptstadt. Armee, Nationalpolizei und NDS versuchen insbesondere große Angriffe bereits im Keim zu ersticken. Ein wesentlicher Faktor kann aber auch in einem Strategiewechsel der Taliban gesehen werden, die vermehrt auf gezielte Attentate und kleinere Anschläge setzten (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seiten 60, 64). Insbesondere Regierungsmitarbeiter erachten daher Kabul als mittlerweile ähnlich gefährlich wie andere Städte in Afghanistan (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 61). In Kabul kommt es zudem immer wieder zu Angriffen auf die Sicherheitskräfte, bei denen Zivilisten getötet und verwundet werden (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 62). Analysten gehen davon aus, dass die Taliban in Kabul ihre Strategie zwar geändert haben, das Potential für große Anschläge und komplexe Angriffe aber weiterhin vorhanden ist (Norway Landinfo, Afghanistan: Sikkerhetssituasjon og konfliktmønster i 2019, 22. Januar 2020, Seite 24).

Besondere internationale Aufmerksamkeit erregte zuletzt ein Angriff auf die Wöchnerinnenstation eines Krankenhauses der Ärzte ohne Grenzen, bei dem 24 Menschen getötet und 23 verletzt wurden. Bei den Opfern handelte es sich vor allem um Mütter mit ihren neugeborenen Kindern (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 61; UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 14).

In den letzten Monaten des Jahres 2020 kam es in Kabul zu einem erheblichen Anstieg der Gewalt (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 24). Im November und Dezember beschoss der ISKP Wohngebiete mit Raketen. Bei den Angriffen kam es zu dutzenden Opfern (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2020, Seite 2). Zahlreiche weitere Angriffe in Kabul sind dokumentiert, so etwa allein 30 Anschläge mit magnetisch gezündeten Sprengsätzen am Straßenrand zwischen dem 20. März und 31. Mai 2020 (EASO COI Report Afghanistan, Security Situation, September 2020, Seite 60 ff.).

Je nachdem, welche Einwohnerzahl man zugrunde legt, lag die Quote der jährlich in Kabul getöteten und Verwundeten Zivilisten im Jahr 2020 bei 1 zu 4.000 bis 1 zu 7.000 und damit unter dem Landesdurchschnitt. Diese Rechnung ist indes aufgrund der kaum verlässlichen Einwohnerzahl, der Anonymität der Großstadt, der hohen Bevölkerungsfluktuation, der Auswirkungen der Corona-Pandemie, des Anstiegs der Zahlen im vierten Quartal 2020 und der Eigenschaft der UNAMA-Zahlen als Mindestwert kaum aussagefähig. In den vergangenen fünf Jahren dokumentierte die UNAMA über 7.800 zivile Opfer in Kabul (im Schnitt über 1.500 pro Jahr). Bei einer durchschnittlichen Einwohnerzahl von 4.500.000 liegt die Quote damit trotz des Rückgangs der letzten zwei Jahre bei 1 zu 3.500 und damit nicht weit vom afghanischen Durchschnitt entfernt.

Auch wenn man das Niveau der Gewalt in Kabul als niedriger als im Rest Afghanistans einschätzen möchte, ist es immer noch sehr hoch. Hunderte Anschläge und Angriffe mit zahlreichen Toten und Verletzten erschüttern das ganze Jahr über die Stadt. Regelmäßige Anschläge, besonders perfide und brutale Massaker an Zivilisten und wahlloser Raketenbeschuss sorgen für ein ständiges Klima der Unsicherheit und Angst. Der Anstieg der Gewalt seit Beginn der Friedensverhandlungen im September 2020 hat zudem gezeigt, dass der einstweilige Rückgang der Gewalt mehr der Änderung der Taktik der Taliban als einer zunehmenden Effektivität der afghanischen Sicherheitskräfte geschuldet ist, sodass auch hier nicht mit einer langfristigen Besserung zu rechnen ist.

Hinsichtlich der zukünftigen Situation in Kabul gilt das oben Gesagte. Ein Rückgang der Gewalt auf ein derart niedriges Niveau, dass der Kläger nicht der tatsächlichen Gefahr einer Bedrohung des Todes oder der psychischen bzw. körperlichen Verwundung ausgesetzt wäre, ist in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten.

Ausschlussgründe nach § 4 Abs. 2 AsylG liegen nicht vor.

Mit der Feststellung des Anspruchs auf subsidiären Schutz bedarf es keiner Entscheidung mehr hinsichtlich der hilfsweise begehrten Feststellung eines Abschiebeverbots. (BVerwG, Urteil vom 19. 04.2018 - 1 C 29/17 -, juris Rn. 42).

Aus der Rechtswidrigkeit der Ablehnungsentscheidung folgt auch die Rechtswidrigkeit der Abschiebeandrohung (§ 34 AsylG i. V. m. §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG) und des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 AufenthG).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO; 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.