Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.08.2011, Az.: 5 LA 214/10
Gewährung von Waisengeld bei Überschreitung des Vier-Monats-Zeitraums des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 b) EStG a.F.
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.08.2011
- Aktenzeichen
- 5 LA 214/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 25695
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0830.5LA214.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 b) EStG a.F.
- § 61 Abs. 2 S. 1 BeamtVG
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage, ob im Falle des Überschreitens der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b) EStG in der bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Fassung ein Anspruch auf Gewährung von Waisengeld besteht.
Gründe
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1.
Die Voraussetzungen des geltend gemachten Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nicht vor.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sind zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt. Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substantiiert mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist. Ist das angegriffene Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller dieser Begründungen Zulassungsgründe dargelegt werden (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.10.2010 - 5 LA 265/09 -).
Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Vorbringen des Klägers nicht zur Zulassung der Berufung gemäߧ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Mit seinen Darlegungen im Zulassungsverfahren hat der Kläger keine gewichtigen, gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sprechenden Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das Verwaltungsgericht hat im Einzelnen und unter gemäß § 117 Abs. 5 VwGO zulässiger Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 15. September 2008 begründet, warum es zu der von dem Kläger angegriffenen Einschätzung gelangt ist, dass dieser keinen Anspruch auf Gewährung von Waisengeld für die Zeit zwischen der Beendigung seines Zivildienstes und dem Beginn seines Studiums, das heißt vom 1. April 2007 bis zum 30. September 2007 (6 Monate), hat. Der Senat macht sich die zutreffende Begründung des angefochtenen Urteils zu Eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
Im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers im Zulassungsverfahren ist lediglich das Folgende hervorzuheben bzw. zu ergänzen:
Gemäß § 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG wird das Waisengeld nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahres auf Antrag nur gewährt, solange die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a, b und d, Nr. 3 und Abs. 5 Satz 1, 2 und 4 des Einkommensteuergesetzes in der bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Fassung (EStG a.F.) genannten Voraussetzungen gegeben sind. Das Verwaltungsgericht ist entgegen der Ansicht des Klägers rechtsfehlerfrei zu der Einschätzung gelangt, dass dies in der Zeit vom 1. April 2007 bis zum 30. September 2007 nicht der Fall war.
Der beschließende Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass ein Anspruch auf Waisengeld gemäߧ 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. b) EStG a.F. nur besteht, wenn die Übergangszeit innerhalb des Vier-Monats-Zeitraums liegt und dass bei der Überschreitung des Vier-Monats-Zeitraums auch nicht zumindest für die ersten vier Monate der Übergangszeit Waisengeld zu gewähren ist.
Die Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. b) EStG a.F., die § 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG in Bezug nimmt, begünstigt nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur eine Übergangszeit von höchstens vier Monaten (vgl. BFH, Urteil vom 15.7.2003 - VIII R 78/99 -, [...]; Schmidt, EStG, 22. Aufl. 2003, § 32 Rn 42; vgl. ebenso z.B. VG Göttingen, Urteil vom 23.2.2004 - 3 A 3490/02 -, [...]; VG Lüneburg, Urteil vom 27.8.2009 - 1 A 292/06 -). Dieser Zeitraum ist hier mit sechs Monaten zweifelsfrei überschritten.
Dass bei einem Überschreiten der Übergangszeit von vier Monaten die Gewährung von Waisengeld auch nicht zumindest für die ersten vier Monate in Betracht kommt, hat das Verwaltungsgericht zutreffend aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes hergeleitet. Der unmissverständliche Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. b) EStG a.F. und die Gesetzgebungsmaterialien bestätigen diese Auslegung (vgl. ebenso BFH, Urteil vom 15.7.2003, a.a.O.; VG Göttingen, Urteil vom 23.2.2004, a.a.O.). Durch Art. 1 Nr. 1. b) des Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - BKGG - vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1566) hat der Gesetzgeber in § 2 BKGG eine dem § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. b) EStG a.F. vergleichbare Regelung geschaffen. In der Begründung des Gesetzentwurfs ist deutlich gemacht worden, dass sich ein Kind, das Übergangs- und Wartezeiten von mehr als vier Monaten zu überbrücken hat, darauf einstellen kann und muss, während dieser Zeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (vgl. BT-Drucks. 9/842 S. 54). Aus dem Wortlaut des§ 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG ("..., solange die in ... genannten Voraussetzungen gegeben sind ...") lässt sich nichts Gegenteiliges herleiten. Aus der uneingeschränkten Anknüpfung in § 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG an die dort im Einzelnen und abschließend aufgeführten Vorschriften desEinkommensteuergesetzes ist zu erkennen, dass eine nach dem Einkommensteuergesetz zu bejahende oder zu verneinende Übergangszeit ohne Weiteres auch für die versorgungsrechtlichen Folgerungen über die Gewährung von Waisengeld maßgeblich sein soll (vgl. zutreffend VG Göttingen, Urteil vom 23.2.2004, a.a.O., unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 22.9.1993 - 2 C 21.92 -, [...]).
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die sich aus § 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. b) EStG a.F. ergebende Beschränkung des Anspruchs auf Gewährung von Waisengeld bestehen nicht. Der Gesetzgeber war nicht gehalten, für Fälle der vorliegenden Art einen Auffangtatbestand zu schaffen. Das Verwaltungsgericht Göttingen hat in seinem Urteil vom 23. Februar 2004 (a.a.O.) zutreffend darauf hingewiesen, dass es der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.5.1985 - 2 BvL 24/82 -, [...]) entspricht, dass bei einem grundsätzlich stark typisierenden Leistungssystem wie dem Waisengeld Härtefalle im Interesse der notwendigen Flexibilität des Besoldungs- und Versorgungsgefüges und der hier besonders zu achtenden Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers grundsätzlich hinzunehmen sind. Gründe, in den Fällen der vorliegenden Art von diesem Grundsatz abzuweichen, bestehen nicht.
Es ist rechtlich unerheblich, ob der Kläger den einem Anspruch auf Gewährung von Waisengeld entgegen stehenden sechsmonatigen Zeitraum zwischen der Beendigung des Zivildienstes und dem Beginn des Studiums durch einen späteren Antritt des Zivildienstes hätte vermeiden können. Denn der Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. b) EStG a.F. stellt auf das Vorliegen einer Übergangszeit von höchstens vier vollen Kalendermonaten ab, ohne insoweit subjektive Tatbestandsmerkmale wie Verschulden oder Vertretenmüssen heranzuziehen (vgl. Hess. FG, Urteil vom 25.6.1997 - 2 K 626/97 -, [...] < LS >; Schmidt, a.a.O., § 32 Rn 42; VG Göttingen, Urteil vom 23.2.2004, a.a.O.).
Ein Anspruch des Klägers auf Gewährung von Waisengeld für die Zeit vom 1. April 2007 bis zum 30. September 2007 ergibt sich auch nicht aus § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. c) EStG a.F., wonach für ein achtzehn, jedoch noch nicht siebenundzwanzig Jahre altes Kind Anspruch auf Kindergeld besteht, wenn es eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 15. Juli 2003 (- VIII R 77/00 -, [...]), mit dem das von dem Kläger angeführte Urteil des Finanzgerichts München vom 8. Dezember 1999 (- 9 K 2076/99 -, [...]) teilweise aufgehoben worden ist, liegt der Tatbestand des Fehlens eines Ausbildungsplatzes zwar nicht nur dann vor, wenn das Kind noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, sondern auch dann, wenn ihm ein Ausbildungsplatz bereits zugesagt wurde, es diesen aber aus schul-, studien- oder betriebsorganisatorischen Gründen erst zu einem späteren Zeitpunkt antreten kann. Die Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2. c) EStG a.F. wird von § 61 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG jedoch nicht in Bezug genommen. Dass gegen die sich daraus ergebende Beschränkung des Anspruchs auf Gewährung von Waisengeld keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, ist bereits zum Ausdruck gebracht worden.
2.
Die Voraussetzungen des geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sind ebenfalls nicht erfüllt.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine tatsächliche oder rechtliche Frage von allgemeiner fallübergreifender Bedeutung aufwirft, die im Berufungsrechtszug entscheidungserheblich ist und im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss. Die in diesem Sinne zu verstehende grundsätzliche Bedeutung muss durch die Formulierung mindestens einer konkreten, sich aus dem Verwaltungsrechtsstreit ergebenden Frage dargelegt werden. Dabei ist substantiiert zu begründen, warum die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig gehalten wird, das heißt worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll, weshalb die Frage entscheidungserheblich und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 124 a Rn 54).
Die von dem Kläger aufgeworfenen und als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Fragen bedürfen keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Denn sie lassen sich, wie den Ausführungen zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu entnehmen ist, schon im Berufungszulassungsverfahren ohne Weiteres beantworten. In einem solchen Fall sind die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht erfüllt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27.2.2009 - 5 LA 334/08 -; vgl. zur Revisionszulassung BVerwG, Beschluss vom 27.8.1996 - 8 B 165.96 -, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziffer 1 VwGO Nr. 13).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).