Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.08.2011, Az.: 8 MC 138/11
Festlegung einer kürzeren Frist als "bis zur Unanfechtbarkeit" nach § 80b Abs. 1 S. 2 Hs. 2 VwGO
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 29.08.2011
- Aktenzeichen
- 8 MC 138/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 22515
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0829.8MC138.11.0A
Rechtsgrundlage
- § 80b Abs. 1 S. 1, 2 VwGO
Fundstellen
- DVBl 2011, 1376
- DÖV 2011, 904
- FStBW 2013, 54-56
- FStHe 2013, 199-200
- FStNds 2012, 674-675
- GV/RP 2013, 187-188
- KomVerw/B 2013, 45-47
- KomVerw/LSA 2013, 45-47
- KomVerw/MV 2013, 48-49
- KomVerw/S 2013, 47-49
- KomVerw/T 2013, 45-47
- NVwZ-RR 2011, 920
- NdsVBl 2012, 166-167
- NordÖR 2011, 568
Amtlicher Leitsatz
- 1.
§ 80b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO räumt der Behörde die Befugnis ein, die kraft Gesetzes nach § 80b Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Halbsatz 1 VwGO entfallende aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage durch die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zu dessen Unanfechtbarkeit fortdauern zu lassen.
- 2.
Die in § 80b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO enthaltene Formulierung "bis zur Unanfechtbarkeit" markiert nur eine äußerste Grenze; die Behörde kann auch eine kürzere Frist wählen.
Tatbestand
Der Antragsteller begehrt während eines laufenden Berufungszulassungsverfahrens die Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner erstinstanzlich abgewiesenen Klage.
Nachdem der Antragsteller durch Urteil des Landgerichts B. vom 1. Oktober 2008 wegen gewerbsmäßigen Betruges in neunzehn Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war, widerrief der Antragsgegner mit Bescheid vom 23. Juni 2009 die dem Antragsteller im Jahre 1985 erteilte Approbation zur Ausübung des ärztlichen Berufs. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 5. Kammer - mit Urteil vom 19. Januar 2011, den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zugestellt am 9. Februar 2011, abgewiesen. Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung des Antragstellers vom 8. März 2011, über den der Senat bisher nicht entschieden hat.
Am 5. August 2011 hat der Antragsteller um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ersucht und zur Begründung auf den Entfall der aufschiebenden Wirkung seiner Klage, die sich hieraus ergebenden schwerwiegenden Folgen für seine Berufsausübung und Lebensunterhaltssicherung sowie die Erfolgsaussichten seines Berufungszulassungsantrages verwiesen. Er beantragt sinngemäß, die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Juni 2009 bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den Widerruf der Approbation anzuordnen.
Hierauf hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 11. August 2011 gegenüber dem Antragsteller die sofortige Vollziehung seines Bescheides vom 23. Juni 2009 bis zu einer Entscheidung des Senats im Berufungszulassungsverfahren ausgesetzt und mit Schriftsatz vom 15. August 2011 angekündigt, sich einer etwaigen Erledigungserklärung des Antragstellers anzuschließen. Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 19. August 2011 die Abgabe einer Erledigungs- oder Rücknahmeerklärung abgelehnt.
Wegen des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers, auf der Grundlage des § 80b Abs. 2 VwGO die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Juni 2009 über den Widerruf der ärztlichen Approbation anzuordnen, hat keinen Erfolg. Der Antrag ist bereits unzulässig.
Der Zulässigkeit des Antrags steht dabei nicht bereits entgegen, dass er erst nach Beendigung der aufschiebenden Wirkung gestellt worden ist. Die hier durch die Erhebung der Anfechtungsklage des Antragstellers nach § 80 Abs. 1 VwGO ausgelöste aufschiebende Wirkung endete gemäß § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels, mithin am 9. Juli 2011 drei Monate nach Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung (vgl. zum Berufungszulassungsantrag als Rechtsmittel im Sinne des§ 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 29.5.2001 - 13 B 434/01 -, NVwZ-RR 2002, 76; OVG Bremen, Beschl. v. 13.12.1999 - 1 B 422/99 -, NVwZ 2000, 942 f.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 16.12.1998 - 2 M 132/98 -, NVwZ-RR 1999, 591; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.11.1998 - 7B 12224/98 -, NVwZ 1999, 896 [OVG Rheinland-Pfalz 13.11.1998 - 7 B 12224/98.OVG]; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 80b Rn. 7; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Mai 2010, § 80b Rn. 24; Schenke, Zur Geltung der Befristung der aufschiebenden Wirkung für Berufungen vor Inkrafttreten des § 80b VwGO, in: DVBl. 1997, 1330, 1331 f.) gegen das den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 9. Februar 2011 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts vom 19. Januar 2011. Trotz der damit seit dem 10. Juli 2011 kraft Gesetzes beendeten aufschiebenden Wirkung konnte der Antragsteller am 5. August 2011 zulässigerweise einen Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO auf Anordnung der (Fortdauer der) aufschiebenden Wirkung stellen. Denn weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Bestimmung kann entnommen werden, dass der Antrag fristgebunden ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.6.2007 - 4 VR 2/07 -, BVerwGE 129, 58, 63 f.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 22.10.2009 - 10 AS 09.2124 -, [...] Rn. 2 jeweils m.w.N.; a.A. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 80b Rn. 38).
Dem Antragsteller fehlt hier aber das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage durch das Oberverwaltungsgericht.
Die Zulässigkeit eines jeden gerichtlichen Verfahrens (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.1989 - 9 C 44.87 -, BVerwGE 81, 164, 165) und damit auch des Verfahrens nach § 80b Abs. 2 VwGO (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 31.10.2000 - 6 AS 00.2433 -, [...] Rn. 11) erfordert, dass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Antrag ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers besteht, mithin er ein schutzwürdiges Interesse an der Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes nachweisen kann (vgl. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 40 Rn. 74 f. m.w.N.). Daran fehlt es hier, nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 11. August 2011 gegenüber dem Antragsteller die sofortige Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides vom 23. Juni 2009 bis zu einer Entscheidung des Senats im Berufungszulassungsverfahren ausgesetzt hat. Denn aufgrund dieser Verfügung des Antragsgegners besteht derzeit bis zu einer Entscheidung des Senats im Berufungszulassungsverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers fort, so dass für die Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung durch das Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage des § 80b Abs. 2 VwGO derzeit kein schutzwürdiges Interesse des Antragstellers besteht.
Zweifel an der Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit der Verfügung des Antragsgegners vom 11. August 2011 sind vom Antragsteller nicht geltend gemacht worden; solche sind auch für den Senat nicht ersichtlich.
Nach § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO endet die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage mit der Unanfechtbarkeit oder, wenn die Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist, drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels. Dies gilt nach § 80b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO auch dann, wenn vor Ergehen des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils die Vollziehung durch die Behörde ausgesetzt oder die aufschiebende Wirkung durch das Gericht wiederhergestellt oder angeordnet worden ist. Mit diesen Regelungen will der Gesetzgeber die Möglichkeit der missbräuchlichen Ausnutzung des Suspensiveffektes allein durch die Einlegung von Rechtsmitteln beschränken (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG), BT-Drs. 13/3993, S. 9 und 11).
Die Gefahr einer solchen missbräuchlichen Ausnutzung des Suspensiveffektes durch den Rechtsmittelführer einer Anfechtungsklage ist dann ausgeschlossen, wenn die beklagte Behörde nach Ergehen des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils selbst die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes aussetzt. Als Ausnahmeregelung zum Entfall der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Halbsatz 1 VwGO räumt daher § 80b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO der Behörde die Befugnis ein, die kraft Gesetzes eintretende sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes bis zu dessen Unanfechtbarkeit auszusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 25.7.2011 - 8 MC 127/11 -). Aus Gründen der Rechtssicherheit muss diese Aussetzung der Vollziehung ausdrücklich und unter Bestimmung ihrer Dauer erfolgen (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 80b Rn. 12; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 80b Rn. 31). Dabei markiert die in § 80b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO enthaltene Formulierung "bis zur Unanfechtbarkeit" nur eine äußerste Grenze; die Behörde kann auch eine kürzere Frist wählen (vgl. Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/v. Albedyll, VwGO, 5. Aufl., § 80b Rn. 8).
Diesen Anforderungen genügt die Aussetzung der Vollziehung im Bescheid des Antragsgegners vom 11. August 2011. Hierin bestimmt der Antragsgegner nach Ergehen des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils ausdrücklich die Aussetzung der Vollziehung des vom Antragsteller angefochtenen Bescheides vom 23. Juni 2009 über den Widerruf der ärztlichen Approbation. Auch die Dauer dieser Vollziehungsaussetzung ist klar bestimmt durch die Anknüpfung an die zu erwartende Entscheidung des Senats im Berufungszulassungsverfahren. Dass hiermit für den Fall der Zulassung der Berufung eine kürzere als nach § 80b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO mögliche Frist bestimmt wurde, ist, wie ausgeführt, unschädlich. Aus dieser Befristung der Vollziehungsaussetzung kann der Antragsteller derzeit auch kein Rechtsschutzbedürfnis für eine (weitergehende) gerichtliche Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung über den Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Berufungszulassungsantrag hinaus herleiten. Denn eine Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung über den Zeitpunkt der Entscheidung im Berufungszulassungsverfahren hinaus kommt überhaupt nur dann in Betracht, wenn die Berufung zugelassen wird (vgl. OVG Land Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 1.4.2011 - 13 B 318/11 -, [...] Rn. 4), setzt also diese Entscheidung voraus, an der es bisher im vorliegenden Verfahren fehlt.