Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.08.2011, Az.: 5 ME 209/11
Einstufung mehrerer Bewerber als im Wesentlichen gleich beurteilt bei Erhalt unterschiedlicher Binnendifferenzierungen in dienstlichen Beurteilungen innerhalb einer Wertungsstufe
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 18.08.2011
- Aktenzeichen
- 5 ME 209/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 22409
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0818.5ME209.11.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 33 Abs. 2 GG
- § 9 BeamtStG
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage, ob im gleichen Statusamt befindliche Bewerber um einen höher bewerteten Dienstposten als im Wesentlichen gleich beurteilt einzustufen sind, wenn sie in ihren aktuellen dienstlichen Beurteilungen innerhalb einer Wertungsstufe unterschiedliche Binnendifferenzierungen erhalten haben (hier: Wertungssstufe C "oberer Bereich" bzw. "mittlerer Bereich)".
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg.
Die von dem Antragsgegner mit seiner Beschwerde vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung der beschließende Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses nicht.
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe einen Anordnungsgrund gemäß § 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht, hat der Antragsgegner mit seiner Beschwerde nicht angegriffen. Der Antragsgegner hat mit der Beschwerde lediglich die Einschätzung des Verwaltungsgerichts angegriffen, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch gemäߧ 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht habe. Der Senat ist indes ebenso wie das Verwaltungsgericht der Auffassung, dass die streitige Auswahlentscheidung des Antragsgegners rechtsfehlerhaft ist. Denn die Auswahlentscheidung trägt nicht dem in Art. 33 Abs. 2 GG und § 9 BeamtStG verankerten Leistungsprinzip Rechnung.
Auswahlentscheidungen unterliegen als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschriften) verstoßen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003 - 2 C 16.02 -, IÖD 2003, 170; Urteil vom 21.8.2003 - 2 C 14.02 -, DVBl. 2004, 317; Nds. OVG, Beschluss vom 15.2.2005 - 5 ME 333/04 -, [...]; Beschluss vom 15.11.2010 - 5 ME 244/10 -, [...]; Beschluss vom 10.2.2011 - 5 ME 292/10 -). Erweist sich anhand dieses Maßstabes die Auswahlentscheidung als fehlerhaft und lässt sich nicht ausschließen, dass der jeweilige Antragsteller bei einer erneuten Auswahlentscheidung ausgewählt werden wird (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 24.9.2002 - 2 BvR 857/02 -, NVwZ 2003, 200, 201; Nds. OVG, Beschluss vom 15.11.2010, a.a.O.), hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg.
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht die von dem Antragsgegner getroffene Auswahlentscheidung zutreffend als rechtsfehlerhaft angesehen und festgestellt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller im Falle einer erneuten Auswahlentscheidung zum Zuge komme.
Dem nicht nur bei einer Beförderung, sondern auch bei der Übertragung eines höherwertigen Dienstpostens zu beachtenden Grundsatz der Bestenauslese (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.), der sich aus Art. 33 Abs. 2 GG und § 9 BeamtStG ergibt, entspricht es, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Dies sind regelmäßig die aktuellen dienstlichen Beurteilungen, weil für die zu treffende Entscheidung hinsichtlich von Leistung, Befähigung und Eignung auf den aktuellen Stand abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.2.2003, a.a.O.; Nds. OVG, Beschluss vom 13.4.2010 - 5 ME 328/09 -, [...]; Beschluss vom 8.4.2010 - 5 ME 277/09 -, [...]; OVG Münster, Beschluss vom 1.8.2011 - 1 B 186/11 -, [...]).
Bei einem Vergleich der jeweils aktuellen dienstlichen Beurteilung der Bewerber kommt es zunächst auf das erreichte Gesamturteil, das heißt die vergebene Wertungsstufe beziehungsweise die vergebene Gesamtnote, an. Innerhalb der durch das einschlägige Gesetzes- und Verordnungsrecht gezogenen Grenzen kann der Dienstherr Verfahren und Inhalt dienstlicher Beurteilungen weitgehend durch Richtlinien festlegen. Er kann nach den Erfordernissen in den einzelnen Verwaltungsbereichen unterschiedliche Beurteilungssysteme einführen, Notenskalen aufstellen und festlegen, welchen Begriffsinhalt die einzelnen Notenbezeichnungen haben. Das gewählte Beurteilungssystem muss aber gleichmäßig auf alle Beamten angewendet werden, die bei beamtenrechtlichen Entscheidungen über ihre Verwendung und über ihr dienstliches Fortkommen miteinander in Wettbewerb treten können (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.). Das die Beurteilungen abschließende Gesamturteil ist nach der Zweckbestimmung der dienstlichen Beurteilung die entscheidende zusammenfassende Bewertung durch den Dienstherrn. Das Gesamturteil ermöglicht vornehmlich den Vergleich unter den Bewerbern, auf den bei der sachgerechten Auslese zur Vorbereitung personalrechtlicher Maßnahmen (Anstellung, Übertragung höherwertiger Dienstposten, Beförderung, Einbeziehung in das Auswahlverfahren für den Aufstieg) abzuheben ist. Für die Dienstbehörde wie für den Beamten muss es zuverlässig Aufschluss geben über den Standort des einzelnen Beamten im Leistungswettbewerb untereinander. Das setzt verbalen Zusätzen zur abgestuften Bewertung innerhalb von Gesamtnoten (so genannten Binnendifferenzierungen) von Rechts wegen Grenzen. Solche verbalen Zusätze sind nur zulässig, wenn sie einheitlich verwendet werden und einen eindeutigen Aussagegehalt haben, der auch für den Beurteilten zweifelsfrei erkennbar Zwischenstufen innerhalb einer Gesamtnote bezeichnet. Letzteres ist etwa bei Zusätzen wie "oberer Bereich" und "unterer Bereich" zu bejahen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.). Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist in Nr. 6.2 der vorliegend maßgeblichen Beurteilungsrichtlinien für die Polizei des Landes Niedersachsen - BRLPol - (RdErl. des MI vom 11.7.2008, Nds. MBl. S. 782) in zulässiger Weise geregelt worden, dass bei der Vergabe der Wertungsstufe C zusätzlich zum Gesamturteil die Zwischenstufe "oberer Bereich, "mittlerer Bereich" oder "unterer Bereich" zu vergeben ist. Hierdurch sollen - ebenso wie in den Beurteilungssystemen, in denen den Gesamtnoten ein Bereich jeweils mehrerer Punktwerte zugeordnet wird - nach der maßgeblichen Einschätzung des Dienstherrn messbare und beachtliche Bewertungsunterschiede zum Ausdruck gebracht werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.).
Der Antragsteller hat in seiner aktuellen dienstlichen Beurteilung im Statusamt des Kriminaloberkommissars die Wertungsstufe C mit der Binnendifferenzierung "oberer Bereich" erhalten. Dagegen hat der Beigeladene in seiner aktuellen dienstlichen Beurteilung im Statusamt des Kriminaloberkommissars die Wertungsstufe C mit der Binnendifferenzierung "mittlerer Bereich" erzielt. Angesichts dieser um eine Abstufung innerhalb des Gesamturteils besseren dienstlichen Beurteilung des Antragstellers kann - wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat - nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller und der Beigeladene im Wesentlichen gleich beurteilt worden sind. In der im Rahmen der Binnendifferenzierung vorgenommenen Abstufung kommt vielmehr - ebenso wie im Fall einer im Gesamturteil besseren Wertungsstufe - ein im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.) messbarer und beachtlicher Bewertungsunterschied zum Ausdruck (vgl. zur Differenzierung innerhalb einer Wertungsstufe nach Punkten auch Nds. OVG, Beschluss vom 21.2.2007 - 5 LA 171/06 -, [...]). Da - wie ausgeführt wurde - bei der streitigen Auswahlentscheidung die den Bewerbern erteilten aktuellen dienstlichen Beurteilungen in erster Linie zu berücksichtigen waren, hätte der Antragsgegner diesen Bewertungsunterschied zwingend und ausschlaggebend zu Gunsten des Antragstellers berücksichtigen müssen (vgl. Nds. OVG, Beschlüsse vom 13.4.2010 und 8.4.2010, a.a.O.; OVG Münster, Beschluss vom 1.8.2011, a.a.O.; vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 12.4.2011 - 4 S 353/11 -, [...]). Ein Ermessensspielraum dahingehend, für die Auswahlentscheidung auf weitere unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen (zum Beispiel Durchführung von strukturierten Auswahlgesprächen; Rückgriff auf ältere dienstliche Beurteilungen; so genannte ausschärfende Betrachtungsweise der einzelnen Beurteilungsmerkmale der aktuellen dienstlichen Beurteilungen), war dem Antragsgegner angesichts des beachtlichen Bewertungsunterschiedes nicht mehr eröffnet.
Der Antragsgegner, der den in den aktuellen dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen zum Ausdruck kommenden Bewertungsunterschied gesehen hat, war mithin nicht berechtigt, trotz des im Rahmen der Binnendifferenzierung festgestellten Bewertungsunterschiedes in weiteren Schritten zu prüfen, ob der schlechter als der Antragsteller beurteilte Beigeladene - anders als der Antragsteller - ein im Anforderungsprofil der Stellenausschreibung festgelegtes "Soll-Kriterium" erfüllte oder bei den im Anforderungsprofil definierten Kriterien eine höhere Qualitätstiefe aufweisen konnte. Eine solche Verfahrensweise, die vorliegend zu der Einschätzung des Antragsgegners geführt hat, dass der Beigeladene über eine erheblich höhere Qualitätstiefe betreffend die Führung von OK-Ermittlungsverfahren verfüge als der Antragsteller und dadurch den im Rahmen der Binnendifferenzierung gegebenen Bewertungsunterschied ausgleichen könne, ist mit den dargestellten Maßstäben nicht vereinbar.
Aus den vorgenannten Gründen sind die zwischen den Beteiligten streitigen Fragen, ob der Beigeladene das Anforderungsprofil besser erfüllt, ob der Beigeladene in seiner vorletzten dienstlichen Beurteilung schlechter als der Antragsteller in dessen vorletzten dienstlichen Beurteilung bewertet worden ist, und ob das Auswahlgespräch, auf dessen Ergebnis der Antragsgegner die Auswahlentscheidung ausschlaggebend gestützt hat, ordnungsgemäß durchgeführt und dokumentiert worden ist, im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich.
Soweit der Antragsgegner im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens mit Schriftsatz vom 14. Juni 2011 vorgetragen hat, der Antragsteller hätte auf seine Bewerbung im weiteren Auswahlverfahren gar nicht berücksichtigt werden dürfen, weil er das in der Ausschreibung geforderte konstitutive Anforderungskriterium der mehrjährigen kriminalistischen Erfahrung in der Führung von OK-Ermittlungsverfahren einschließlich der Aktenführung nicht erfülle, führt auch dies nicht zum Erfolg der Beschwerde. Eine Behörde kann die Gründe einer Auswahlentscheidung zwar grundsätzlich bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachholen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 8.4.2010, a.a.O.). Dies betrifft allerdings nur den Fall, dass diejenigen Gründe, die für den Erlass eines Verwaltungsaktes tatsächlich maßgebend waren und die lediglich in der zunächst gegebenen Begründung nicht oder nicht ausreichend wiedergegeben worden waren, nachträglich bekanntgegeben werden, nicht aber ein "Nachschieben von Gründen" in dem Sinne, dass die von der Behörde tatsächlich angestellten Erwägungen im Nachhinein korrigiert und durch neue oder andere Erwägungen ergänzt oder ausgewechselt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.12.2008 - 1 WB 19.08 -, NVwZ-RR 2009, 604 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 14.1.2008 - 5 ME 317/07 -, [...]; Beschluss vom 24.2.2010 - 5 ME 16/10 -). Ein in diesem Sinne unzulässiges Auswechseln der für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Erwägungen ist vorliegend gegeben. Denn der Antragsgegner ist in seinem die Auswahlentscheidung abschließenden Auswahlvermerk vom 11. März 2011 unter 2.2. ausdrücklich zu der Einschätzung gelangt, dass der Antragsteller das genannte konstitutive Anforderungskriterium erfülle. Indem der Antragsgegner nunmehr mit Schriftsatz vom 14. Juni 2011 das Gegenteil vorgetragen hat, hat er die Auswahlentscheidung in unzulässiger Weise mit einem neuen argumentativen Unterbau versehen (vgl. dazu Nds. OVG, Beschluss vom 12.3.2010 - 5 ME 292/09 -; Beschluss vom 24.2.2010 - 5 ME 16/10 -).