Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.11.1999, Az.: 3 Sa 780/99

Klage gegen eine Entgeltkürzung; Beschäftigung als Bürofachkraft in einer Kurklinik; Anwendbarkeit eines Ergänzungstarifvertrages; Lösung einer Tarifpluralität; Prinzip der Tarifeinheit

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
12.11.1999
Aktenzeichen
3 Sa 780/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 19959
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1999:1112.3SA780.99.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hameln - 26.11.1998 - AZ: 1 Ca 468/98

Fundstellen

  • AuR 2000, 356-357 (Volltext mit red. LS)
  • ZTR 2000, 172-173

Amtlicher Leitsatz

In den Fällen der Tarifpluralität ist bei Inhaltsnormen jeweils nur der Tarifvertrag anzuwenden, der mit der Gewerkschaft abgeschlossen ist, der die betroffenen Arbeitnehmer angehören. Das Prinzip der Tarifeinheit, wonach entsprechend dem Grundsatz der Spezialität dem sachnäheren Tarifvertrag der Vorzug zu geben wäre, greift nicht ein (abweichend von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. Urteil vom 30.03.1991 - 4 AZR 455/90 - AP 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz.)

In dem Rechtsstreit
hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 12.11.1999
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ...
und die ehrenamtlichen Richter ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 26.11.1998 - 1 Ca 468/98 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Mit der vorliegenden Klage wendet sich die Klägerin gegen eine Entgeltkürzung für die Monate Februar bis Juli 1998.

2

Die Klägerin, die Mitglied der Gewerkschaft ... ist, war in der Zeit vom 01.05.1995 bis zum 12.09.1998 in der von der Beklagten betriebenen Kurklinik ... in ... als Bürofachkraft beschäftigt. Am 17.03.1998 schloß die Beklagte mit drei Gewerkschaften, nämlich der dem Deutschen Handels- und Industrieangestellten-Verband und dem Verband der weiblichen Angestellten e.V. - nicht aber mit der Gewerkschaft .... einen am 01.02.1998 in Kraft tretenden "Ergänzungstarifvertrag Nr. 4 b zum EKT". Dieser Tarifvertrag regelt eine Gehaltsreduzierung für die Mitarbeiter der Kureinrichtungen ... und ... auf letztlich 85 %. Wegen der Einzelheiten der tariflichen Regelungen wird auf die mit Schriftsatz der Beklagten vom 28.09.1998 überreichten Kopien der genannten Tarifverträge (Bl. 24 bis 32 d.A.) verwiesen.

3

Die Beklagte nahm für die Monate Februar bis Juli 1998 aufgrund der tariflichen Regelungen Entgeltkürzungen in Höhe von insgesamt 1.361,08 DM vor. Mit Schreiben vom 05.08.1998 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten die Zahlung dieses Differenzbetrages geltend.

4

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Ergänzungstarifverträge vom 17.03.1998 seien für sie nicht anwendbar, da insoweit keine Tarifbindung gegeben sei.

5

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.361,08 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den entsprechenden Nettobetrag seit dem 04.09.1998 zu zahlen.

6

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, zwischen den unterschiedlichen Tarifverträgen bestehe aufgrund der teilweise voneinander abweichenden Inhalte Tarifkonkurrenz, diese sei nach dem Grundsatz der Spezialität zu lösen. Dabei seien die Firmentarifverträge vom 17.03.1998 als die speziellere Regelung anzusehen. Die Beklagte hat behauptet, die Regelungen des Ergänzungstarifvertrages Nr. 4 b zum EKT seien Voraussetzung für einen Weiterbetrieb der Kureinrichtungen durch sie (die Beklagte) gewesen.

8

Durch Urteil vom 26.11.1998 hat das Arbeitsgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 1.361,08 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den entsprechenden Nettobetrag seit dem 04.09.1998 zu zahlen, die Kosten des Rechtsstreits der Beklagten auferlegt und den Wert des Streitgegenstandes auf 1.361,08 DM festgesetzt.

9

Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, nach dem Grundsatz der Tarifeinheit wäre der Ergänzungstarifvertrag Nr. 4 b für die Klägerin maßgeblich, dieser Grundsatz gelte im Fall der Tarifpluralität - wie vorliegend - jedoch nicht. Abweichend von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts könne der Grundsatz der Tarifeinheit hier nicht zum Tragen kommen, er sei nicht ausdrücklich im Gesetz verankert und führe in Fällen der Tarifpluralität zu einer Einschränkung der Koalitionsfreiheit.

10

Das Urteil ist der Beklagten am 23.03.1999 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 22.04.1999 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 08.06.1999 am 07.06.1999 begründet.

11

Die Beklagte ist der Ansicht, der Ergänzungstarifvertrag Nr. 4 b zum EKT sei bereits deshalb anzuwenden, weil einzelarbeitsvertraglich die Vereinbarung getroffen sei, daß für das Arbeitsverhältnis der EKT mit seinen Anlagen in der jeweils verbindlichen Fassung gelte. Die Rechtssicherheit und das erhebliche Interesse der Rechtsklarheit in einem Betrieb erfordere eine betriebseinheitliche Anwendung von Tarifverträgen. Aufgrund der teilweise voneinander abweichenden Inhalte der verschiedenen Tarifverträge bestehe Tarifkonkurrenz, die nach allgemeiner Ansicht nach dem Grundsatz der Spezialität zu lösen sei. Jedenfalls sei der Ergänzungstarifvertrag nach dem Grundsatz der Tarifeinheit aufgrund der Tarifpluralität für die Klägerin maßgeblich. Gerade in Anbetracht des angestrebten und auch erreichten Zieles des Ergänzungstarifvertrages sei die Koalitionsfreiheit nicht über den Grundsatz der Tarifeinheit zu stellen.

12

Die Beklagte beantragt,

das am 26.11.1998 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Hameln, 1 Ca 468/98, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

13

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Die Klägerin ist der Ansicht, der von der früheren Rechtsprechung des BAG postulierte "Grundsatz der Tarifeinheit" stelle lediglich eine Praktikabilitätserwägung dar, die aber im Tarifvertragsgesetz keine Stütze finde. Die Klägerin bestreitet, daß der Verband der weiblichen Arbeitnehmer e. v. und der Deutsche Handels- und Industrieangestellten-Verband Gewerkschaften im Sinne des Tarifvertragsgesetzes sind.

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung der Beklagten ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig, §§ 64, 66 ArbGG, 518, 519 ZPO.

16

Die Berufung ist jedoch nicht begründet, weil das Arbeitsgericht den Rechtsstreit zutreffend entschieden hat.

17

Die Beklagte ist gemäß § 611 Abs. 1 BGB in Verbindung mit dem zwischen den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrag und den Regelungen des Ersatzkassentarifvertrages (EKT) verpflichtet, an die Klägerin als restliches Entgelt für die Monate Februar bis Juli 1998 insgesamt einen Betrag in Höhe von 1.361,08 DM zu zahlen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß die Beklagte in Höhe des geltend gemachten Betrages auf der Grundlage der Ergänzungstarifverträge Nr. 4 b zum EKT Gehaltsreduzierungen vorgenommen hat.

18

Aufgrund der Tarifbindung beider Vertragsparteien findet jedoch gemäß § 4 Abs. 1 S. 1, § 3 Abs. 1 TVG der - unter anderem mit der Gewerkschaft HBV vereinbarte - Ersatzkassentarifvertrag Anwendung. Dieser Tarifvertrag ist auch nicht etwa durch die am 17.03.1998 vereinbarten Ergänzungstarifverträge Nr. 4 b mit Wirkung für die Arbeitsvertragsparteien außer Kraft gesetzt worden.

19

Der Betrieb der Beklagten, in dem die Klägerin beschäftigt ist, wird vom fachlichen und betrieblichen Geltungsbereich her sowohl vom EKT als auch von den Ergänzungstarifverträgen vom 17.03.1998 erfaßt. Im Hinblick auf die Klägerin, die keiner der an den Ergänzungstarifverträgen beteiligten Gewerkschaften angehört, findet lediglich der EKT Anwendung. Damit liegt eine Tarifpluralität vor (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 16.04.1989 - 4 AZR 200/89 - AP 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz). Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts soll in solchen Fällen nach dem Prinzip der Tarifeinheit in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden, wobei unter mehreren Tarifverträgen nach dem Grundsatz der Spezialität dem sachnäheren Tarifvertrag der Vorzug zu geben sei (vgl. BAG, Urteil vom 14.06.1989 - 4 AZR 200/89 - AP 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG, Urteil vom 05.09.1990 - 4 AZR 59/90 - AP 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG, Urteil vom 20.03.1991 - 4 AZR 455/90 - AP 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz). Danach könnte der EKT im Hinblick auf die Vergütung der Klägerin im vorliegenden Fall keine Anwendung finden.

20

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist in der Literatur ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen (vgl. die Nachweise bei Wiedemann, Wank, § 4 TVG, Rn. 277). Auch die Kammer folgt der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht, sie schließt sich vielmehr der Auffassung der 14. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen an, wonach im Falle der Tarifpluralität mehrere Tarifverträge im Beschäftigungsbetrieb Anwendung finden können (LAG Niedersachsen, Urteil vom 14.06.1990 - 14 Sa 1783/89 -, LAGE Nr. 1 zu § 4 TVG Tarifpluralität). Das vom Bundesarbeitsgericht postulierte Erfordernis der Tarifeinheit findet im Tarifvertragsgesetz für den Bereich der Inhaltsnormen keine hinreichende Grundlage. Das Gesetz stellt vielmehr in den Bestimmungen der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Satz 1 TVG auf die Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien ab. Tarifgebundenheit besteht im vorliegenden Fall für beide Vertragsparteien jedoch lediglich in Bezug auf den EKT. Da die Klägerin nicht Mitglied einer der Vereinigungen ist, die mit der Beklagten die Ergänzungstarifverträge Nr. 4 b zum EKT vom 17.03.1998 abgeschlossen haben, finden diese Tarifnormen auf das Arbeitsverhältnis der Parteien keine Anwendung. Damit entsteht schon keine Tarifkonkurrenz, weil nur eine Tarifnorm Geltung beansprucht. Möglicherweise kann ein gewisses praktisches Bedürfnis für die einheitliche Geltung von Tarifverträgen für alle Arbeitnehmer eines Betriebes bestehen. Derartige Praktikabilitätserwägungen rechtfertigen es aber nicht, von der klaren gesetzlichen Regelung in den §§ 3, 4 TVG abzuweichen. Hinreichende Anknüpfungspunkte für einen gesetzlich geregelten Grundsatz der Tarifeinheit mögen für die Fälle des § 3 Abs. 2 TVG, also für Rechtsnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen bestehen, darum geht es im vorliegenden Fall jedoch gerade nicht.

21

Auch eine ergänzende Auslegung des Tarifvertragsgesetzes kommt insoweit nicht in Betracht, da es schon an der erforderlichen Regelungslücke fehlt. Die Bestimmungen der §§ 3 und 4 TVG regeln die Frage der Anwendbarkeit von Tarifverträgen abschließend. Ein etwaiger Wille des Gesetzgebers, generell die Anwendung mehrerer verschiedener Tarifverträge in einem Betrieb nebeneinander auszuschließen, ist nicht zu erkennen. Dies ergibt sich auch aus den Regelungen des § 613 a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB, die eine Tarifpluralität im Betrieb des Betriebserwerbers zulassen (vgl. hierzu Hanau, Kania, Anm. zu BAG AP 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz).

22

Auch das Bundesarbeitsgericht weist zu Recht darauf hin, daß der Grundsatz der Tarifeinheit im TVG keinen Niederschlag gefunden habe. Es leitet diesen Grundsatz jedoch aus den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ab (vgl. BAß, Urteil vom 05.09.1990 - 4 A 2 R 59/90 - AP 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz). Damit stellt das Bundesarbeitsgericht letztlich auf das Rechtsstaatsprinzip ab, das zu den allgemeinen Grundsätzen und Leitideen gehört, die der Verfassungsgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht zu einem besonderen Rechtssatz verdichtet hat. Es enthält - soweit es nicht in einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung für bestimmte Sachgebiete ausgeformt und präzisiert ist - keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote und Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf. Dem Rechtsstaatsprinzip eminent ist das Postulat der Rechtssicherheit (BVerfG, Beschluß vom 26.02.1969 - 2 BvL 15, 23/68 - BVerfGE 25, 269 (290)). Gleichzeitig für verschiedene Arbeitnehmer eines Betriebes nebeneinander geltende unterschiedliche tarifvertragliche Inhaltsnormen verstoßen jedoch nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Dieser wäre allenfalls dann verletzt, wenn nicht mit hinreichender Sicherheit vorhersehbar festgestellt werden könnte, welche Tarifnormen anwendbar sind. Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Ermittlung der anwendbaren Tarifnormen können sich aber sowohl unter dem Postulat einer einheitlichen Tarifgeltung als auch bei dem gleichzeitigen Nebeneinanderbestehen mehrerer Tarifregelungen ergeben. Verschiedene gleichzeitig in einem Betrieb geltende Tarifverträge bedingen keine für die Arbeitsvertragsparteien unklare oder von Zufälligkeiten abhängige Rechtslage, sondern nur ggf. unterschiedliche Ansprüche einzelner Arbeitnehmer.

23

Im übrigen führt das Nebeneinander verschiedener Tarifverträge in einem Betrieb, soweit es um Inhaltsnormen geht, auch nicht zwingend zu tatsächlichen Unzuträglichkeiten. Unterschiedliche Entgeltansprüche einzelner Arbeitnehmer sind im Arbeitsleben durchaus nichts Ungewöhnliches und widersprechen auch nicht den Regelungen in §§ 3, 4 TVG. Vielmehr ergibt sich gerade aus diesen Regelungen, daß Tariflohnansprüche für tarifgebundene Arbeitnehmer bestehen, grundsätzlich aber nicht für Arbeitnehmer, die keiner Gewerkschaft angehören.

24

Es kann dahingestellt bleiben, ob das vom Bundesarbeitsgericht aufgestellte Postulat der Tarifeinheit in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit eingreift (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 20.03.1991 - 4 AZR 455/90 - AP 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz sowie Hanau, Kania in der Anmerkung zu dieser Entscheidung; Wiedemann, Wank, § 4 TVG, Rn. 277), da es schon an einem hinreichenden Anhaltspunkt im Gesetz für das Bestehen eines derartigen allgemeinen Prinzips fehlt.

25

Der Zinsanspruch der Klägerin folgt aus den §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

27

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1. und 2. ArbGG zuzulassen.