Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.12.1999, Az.: 9 Sa 2900/98 E

Anforderungen an den Arbeitsvorgang "Erledigung der Vollstreckungsaufträge"; Vorliegen von selbstständigen Leistungen im Rahmen des rechtserheblichen Ausmaßes bei einem Zeitanteil von 6 % der Gesamtarbeitszeit

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
01.12.1999
Aktenzeichen
9 Sa 2900/98 E
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 28016
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1999:1201.9SA2900.98E.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 05.10.1998 - AZ: 5 Ca 112/98 E

Amtlicher Leitsatz

Ein Zeitanteil von 6 % der Gesamtarbeitszeit, den ein Angestellter mit Vollstreckungsverhandlungen mit Rechtsanwälten beschäftigt, bewegt sich im Hinblick auf das Erfordernis der selbständigen Leistungen im Rahmen des rechtserheblichen Ausmaßes im Sinne der neueren Rechtsprechung des BAG (vgl. BAG AP Nr. 78, 116, 178 zu §§ 22, 23 BAT 1975).

In dem Rechtsstreit
hat die 9. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 08.09.1999
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ...,
die ehrenamtliche Richterin ... und
den ehrenamtlichen Richter ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgericht Hannover vom 05.10.1998 - 5 Ca 112/98 E - abgeändert:

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger ab dem 16.03.1998 Vergütung nach Vergütungsgruppe V c BAT anstelle gewährter Vergütung nach VI b BAT zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die tarifrichtige Eingruppierung des Klägers; der Kläger verlangt Vergütung nach Vergütungsgruppe V c der Anlage 1 a zum BAT (Teil II VKA).

2

Wegen des Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug wird auf die Wiedergabe im Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 55-57 d.A.) Bezug genommen. Zu ergänzen ist: Der Kläger ist am 05.05.1951 geboren. Dem Arbeitsverhältnis liegen der Arbeitsvertrag vom 19.05.1993 (Bl. 24/25 d.A.) und der Änderungsvertrag vom 01.12.1993 (Bl. 26 d.A.) zugrunde, auf deren Inhalt die Kammer Bezug nimmt. Mit Schreiben vom 22.06.1996 beantragte der Kläger seine Höhergruppierung nach Vergütungsgruppe V c. Der Dienstvorgesetzte des Klägers (Amtsleiter) unterstützte den Antrag. Mit Urteil vom 05.10.1998 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt und den Streitwert auf 10.800,00 DM festgesetzt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe nicht mit hinreichender Substanz dargelegt, aufgrund welcher Umstände seine Tätigkeit zumindestens 1/3 selbständige Leistungen erfordere. Der Sachvortrag des Klägers zu den Tätigkeiten unter b. bis d., f. und g. der Arbeitsplatzbeschreibung habe die Kammer nicht zu der Überzeugung geführt, dass es sich um selbständige Leistungen handele. Allenfalls hinsichtlich des Punktes d. der Arbeitsplatzbeschreibung könne von selbständiger Leistung ausgegangen werden, da insoweit aber nur für 6 % der in der Arbeitsplatzbeschreibung aufgeführten Tätigkeiten selbständige Leistungen in Betracht kämen, könne dahinstehen, ob der Kläger bei einer Zusammenfassung der Punkte b. bis d., f. und g. der Arbeitsplatzbeschreibung dem Begriff des Arbeitsvorgangs hinreichend Rechnung getragen habe. Der Kläger sei auch nicht deswegen in Vergütungsgruppe V c BAT eingruppiert, weil er als Angestellter in einer Kasse verantwortlich Personen- oder Sachkonten führe oder verwalte und ihm überwiegend schwierige buchhalterische Tätigkeiten übertragen seien. Hier fehle es an einem substantiierten Sachvortrag. Das bei der ... Verwaltungsangestellte mit "exakt gleichen" Aufgaben nach Vergütungsgruppe V c BAT vergütet würden, sei keine Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren.

3

Wegen der weiteren rechtlichen Erwägungen, die das Arbeitsgericht zu seinem Ergebnis haben gelangen lassen, wird auf den Inhalt der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen (Bl. 57-61 d.A.).

4

Gegen dieses ihm am 25.11.1998 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 23.12.1998 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt, die er mit einem am 22.01.1999 beim LAG eingegangenen Schriftsatz begründet hat.

5

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein ursprüngliches Klageziel nach Maßgabe seiner Berufungsbegründungsschrift vom 22.01.1999 und seines Schriftsatzes vom 31.08.1999, auf deren Inhalt die Kammer Bezug nimmt (Bl. 89-97, 118-121 d.A.), weiter. Er meint insbesondere, die ihm abverlangte Berechnung der Säumniszuschläge, die Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Schuldner, die Ermittlung von Arbeitgebern, Bankverbindungen oder sonstigen Leistungsträgern, die Vollstreckungsverhandlungen mit Rechtsanwälten, Steuerberatern, Bankbediensteten und fremden Verwaltungsbehörden verlangten selbständige Leistungen im Tarifsinn. Der Kläger meint aber auch nach wie vor, er übe schwierige buchhalterische Tätigkeiten aus.

6

Der Kläger beantragt daher,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 05.10.1998 - 5 Ca 112/98 E - abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Vergütung nach der Vergütungsgruppe V c BAT seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung vom 24.02.1999, auf deren Inhalt die Kammer ebenfalls Bezug nimmt (Bl. 100-103 d.A.).

Gründe

9

Die Berufung ist begründet, weil die Klage begründet ist. Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch darauf, dass sie ihm Vergütung nach Vergütungsgruppe V c BAT bezahlt. Denn er ist (mindestens) in Vergütungsgruppe V c Fallgruppe 1 a der Anlage 1 a zum BAT, Teil II VKA, eingruppiert. Dem der Kammer zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt ist zu entnehmen, dass die Hälfte der die Gesamtarbeitszeit des Klägers ausfüllenden Arbeitsvorgänge gründliche und vielseitige Fachkenntnisse erfordern. Auch das Merkmal "mindestens zu 1/3 selbständige Leistungen" ist erfüllt, weil Arbeitsvorgänge, die mindestens 1/3 der gesamten Arbeitszeit des Klägers in Anspruch nehmen, selbständige Leistungen in rechtserheblichem Ausmaß enthalten.

10

Es trifft zu, dass der Kläger nicht vorgetragen hat, wie er sich den Zuschnitt der von ihm zu leistenden Arbeitsvorgänge vorstellt. Das ist im Streitfall aber auch nicht erforderlich. Mit der Beklagten ist anhand der Arbeitsplatzbeschreibung vom 09.12.1996 festzustellen, dass zeitlich weit mehr als zur Hälfte der Arbeitszeit ein Arbeitsvorgang "Erledigung der Vollstreckungsaufträge" vorliegt. Die in der Arbeitsplatzbeschreibung dargestellten Einzelaufgaben dienen diesem Arbeitsergebnis. Das ist bei einem Abgleich mit dem von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anhand der Protokollnotiz Nr. 1 zu § 22 Abs. 2 entwickelten Begriff des Arbeitsgangs, den der 4. Senat in ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa BAG Urteil vom 18.05.1994, 4 AZR 461/93 m.w.N.) als eine unter Hinzuziehung der Zusammenhangstätigkeiten bei Berücksichtigung einer sinnvollen, vernünftigen Verwaltungsübung nach tatsächlichen Gesichtspunkten abgrenzbare und rechtlich selbständig zu bewertende Arbeitseinheit der zu einem bestimmten Arbeitsergebnis führenden Tätigkeit eines Angestellten versteht, evident. Als hiervon zu trennende Arbeitsvorgänge kommen offenbar nur die besonderen Aufgaben nach Anweisung in Betracht.

11

Der Arbeitsvorgang "Erledigung der Vollstreckungsaufträge" erfordert gründliche und vielseitige Fachkenntnisse und selbständige Leistungen im Tarifsinn.

12

Die vom Kläger benötigten Fachkenntnisse müssen gründlich sein, da der Kläger unstreitig Fachkenntnisse nicht nur oberflächlicher Art haben kann; denn anderenfalls könnte er mit den von ihm anzuwendenden Gesetzen und Verordnungen nicht umgehen. Die Fachkenntnisse des Klägers müssen auch im tariflichen Sinn vielseitig sein. Dieses zusätzliche Merkmal betrifft den erweiterten Umfang der Fachkenntnisse. Es liegt vor. Dass der Kläger aufgrund seiner Ausbildung (1. Verwaltungsprüfung, Grundveranstaltung sowie Aufbauveranstaltung für Vollstreckungsbeamte) über vielseitige Fachkenntnisse verfügt, hat die Beklagte in der Klageerwiderung vom 14.05.1998 zugestanden. Diese Vielseitigkeit der Fachkenntnisse, also deren Breite, wird bei der Arbeit des Klägers aber auch benötigt. Hierzu hat der Kläger unwidersprochen vorgetragen, dass ihm aufgrund seiner Kenntnisse vom Amtsleiter Aufgaben übertragen worden seien, die über den "klassischen Bereich eines Vollstreckungsangestellten nach der Vergütungsgruppe VI b BAT hinausgehen". Das bezieht sich insbesondere auf seine Aufgaben, mit Rechtsanwälten über Vollstreckungsaussetzungen, Stundungen und Zahlungsvereinbarungen zu verhandeln. Um hier zu für die Beklagte sinnvollen Verhandlungsergebnissen zu kommen, reichen gründliche Fachkenntnisse allein nicht aus.

13

Die Tätigkeit des Klägers erfordert auch selbständige Leistungen im Tarifsinn. Nach dem für die Vergütungsgruppe V c Fallgruppen 1 a und 1 b geltenden Klammerzusatz erfordern selbständige Leistungen ein den vorausgesetzten Fachkenntnissen entsprechendes selbständiges Erarbeiten eines Ergebnisses unter Entwicklung einer eigenen geistigen Initiative, wobei eine leichte geistige Arbeit diese Anforderungen nicht erfüllen kann. Das Tätigkeitsmerkmal "selbständige Leistungen" darf dabei nicht mit dem Begriff "selbständig arbeiten" im Sinne von "allein arbeiten", d. h., ohne direkte Aufsicht oder Lenkung durch Weisungen tätig zu sein, verwechselt werden. Vielmehr ist darunter eine Gedankenarbeit zu verstehen, die im Rahmen der für die Vergütungsgruppe vorausgesetzten Fachkenntnisse hinsichtlich des einzuschlagenden Weges eine eigene Beurteilung und eine eigene Entschließung erfordert (vgl. BAG AP.-Nr. 178 zu §§ 22, 23 BAT 1975 m.w.N.). Kennzeichnend für selbständige Leistungen im tariflichen Sinne können nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vielmehr - ohne Bindung an verwaltungsrechtliche Fachbegriffe - ein wie immer gearteter Ermessens-, Entscheidungs-, Gestaltungs- oder Beurteilungsspielraum bei der Erarbeitung eines Arbeitsergebnisses sein (BAG AP.-Nr. 109 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vom Angestellten werden Abwägungsprozesse verlangt, es werden Anforderungen an das Überlegungsvermögen gestellt. Der Angestellte muss also unterschiedliche Informationen verknüpfen, untereinander abwägen und zu einer Entscheidung kommen. Dieser Prozess geistiger Arbeit kann bei entsprechender Routine durchaus schnell ablaufen, ohne dass deshalb das Merkmal der geistigen Arbeit entfiele. Geistige Arbeit wird also geleistet, wenn der Angestellte sich bei der Arbeit fragen muss: Wie geht es nun weiter? Worauf kommt es nun an? Was muss als nächstes geschehen? (BAG AP.-Nr. 178 a.a.O.).

14

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Das ist jedenfalls im Bezug auf die vom Kläger zu leistenden Vollstreckungsverhandlungen mit Rechtsanwälten, Steuerberatern, Bankbediensteten und fremden Verwaltungsbehörden evident.

15

Gründliche und vielseitige Fachkenntnisse und selbständige Leistungen liegen innerhalb des vom Kläger zu leistenden Arbeitsvorgangs "Erledigung der Vollstreckungsaufträge" jeweils in rechtlich erheblichem Ausmaß vor. Da nach § 22 Abs. 2 Unterabsatz 2 S. 1 BAT die gesamte auszuübende Tätigkeit dem Tätigkeitsmerkmal einer Vergütungsgruppe entspricht, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Vergütungsgruppe erfüllen und der Arbeitsvorgang nach der Protokollnotiz Nr. 1 zu § 22 BAT hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden darf, erfüllt ein Arbeitsvorgang als solcher die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals bereits dann, wenn diese innerhalb des Arbeitsvorgangs überhaupt in rechtserheblichem Ausmaß vorliegen (BAG AP.-Nr. 116, 178 a.a.O.). Der Zeitanteil von 6 % von der Gesamtarbeitszeit, den der Kläger mit Vollstreckungsverhandlungen beschäftigt ist, bewegt sich im Rahmen des rechtserheblichem Ausmaßes im Sinne dieser neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Im Urteil vom 18. Mai 1994 (AP.-Nr. 78 a.a.O.) ist das BAG davon ausgegangen, dass selbständige Leistungen im Sinne der Fallgruppe 1 b der Vergütungsgruppe V c BAT in rechtserheblichem Ausmaß vorliegen, wenn ein 35 % der Arbeitzeit ausmachender Arbeitsvorgang zu 7 % der Gesamttätigkeit selbständige Leistungen beinhalte. Das BAG hat im übrigen nicht beanstandet, wenn die Instanzgerichte darauf abstellen, dass selbständige Leistungen dann in rechtserheblichem Ausmaße erforderlich sind, wenn ohne sie ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis nicht erzielt würde, denn auch damit werde in zutreffender Weise das Erfordernis des rechtserheblichem Ausmaßes zum Begriff des Arbeitsvorgangs in Bezug gesetzt und der ihnen bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs zustehende Beurteilungsspielraum nicht verlassen (BAG AP.-Nr. 172 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Unter beiden Kriterien ist im Streitfall sowohl hinsichtlich der gründlichen und vielseitigen Fachkenntnisse als auch hinsichtlich der selbständigen Leistungen ein rechtserhebliches Ausmaß dem Kläger zuzubilligen.

16

Soweit die Beklagte in der Berufungsverhandlung die Rechtsprechung des BAG abgelehnt hat, weil sie zur Absenkung der Zugangs schwelle zur höheren Vergütungsgruppe führe, ist dem entgegenzuhalten, dass das die Folge des Umstandes ist, dass die Tarifvertragsparteien die hier maßgeblichen qualifizierenden Merkmale nicht auf die Arbeitszeit, sondern auf den Arbeitsvorgang bezogen haben (vgl. BAG AP.-Nr. 172, 178 a.a.O.).

17

Nach alledem musste die Berufung Erfolg haben.

18

Die Kostenentscheidung fußt auf § 91 ZPO.

19

Gesetzliche Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Gegen dieses Urteil ist daher ein Rechtsmittel nicht gegeben. Diese Entscheidung kann selbständig nach Maßgabe des § 72 a ArbGG mit der Nichtzulassungsbeschwerde überprüft werden.