Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.03.1999, Az.: 15 Sa 1973/97
Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 10.03.1999
- Aktenzeichen
- 15 Sa 1973/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 17744
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1999:0310.15SA1973.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Braunschweig - 30.05.1997 - AZ: 2 Ca 116/97
In dem Rechtsstreit
hat die 15. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 10.03.99
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Löber und
die ehrenamtlichen Richter Meier und
Lemke
für Recht erkannt:
Tenor:
Unter Zurückweisung im übrigen wird auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 30.05.1997 - 2 Ca 116/97 - teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger DM 38,88 brutto zu zahlen nebst 4 % Zinsen seit dem 11.02.1997.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Die Revision wird für den Kläger zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle.
Der Kläger ist seit dem 01.03.1994 als technischer Angestellter - Objektleiter - in dem Reinigungsunternehmen der Beklagten beschäftigt. Er war ab dem 21.10.1996 arbeitsunfähig erkrankt und legte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 21. bis 23.10.1996 vor. Er nahm jedoch am 23.10.1996 die Arbeit wieder auf und arbeitete an diesem Tag 8,15 Stunden. Die Beklagte zahlte für die drei durch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung belegten Tage an den Kläger nur 80 % seines Entgelts. Mit Schreiben vom 04.12.1996 machte der Kläger die restlichen 20 % seines Entgeltes in Höhe von DM 115,20 brutto geltend.
Nachdem die Beklagte die Zahlung mit Schreiben vom 21.01.1997 abgelehnt hatte, hat der Kläger mit der am 06.02.1997 eingereichten Klage beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger DM 115,20 brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 30.05.1997 die Klage auf Kosten des Klägers abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils wird Bezug genommen, das dem Kläger am 12.09.1997 zugestellt worden ist und gegen das er am Montag, den 13.10.1997 Berufung eingelegt hat, die er am 27.11.1997 begründet hat, nachdem auf seinen Antrag mit Beschluß vom 13.11.1997 die Berufungsbegründungsfrist bis zum 27.01.1998 verlängert worden war.
Der Kläger greift das Urteil aus den in seiner Berufungsbegründungsschrift vom 27.01.1998 wiedergegebenen Gründen an. Auf die Berufungsbegründungsschrift wird Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
in Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger DM 115,20 brutto nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Auf ihre Berufungserwiderung vom 26.02.1998 wird gleichfalls Bezug genommen.
Gründe
Die aufgrund der Zulassung im arbeitsgerichtlichen Urteil statthafte Berufung (§ 64 Abs. 2 ArbGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 Satz 1 und 4 ArbGG, 222 Abs. 2, 518, 519 ZPO). Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Rahmentarifvertrag für Angestellte im Gebäudereinigerhandwerk Niedersachsen vom 01.10.1995 (RTV) gemäß § 5 Abs. 4 TVG Anwendung, denn der Tarifvertrag ist für allgemeinverbindlich erklärt worden (Bundesanzeiger Nr. 80/1996). Der Kläger hat den Klageanspruch innerhalb der Ausschlußfristen des § 16 RTV formgerecht geltend gemacht.
Der Kläger hat für den 23.10.1997 Anspruch auf das volle Gehalt, denn er hat an diesem Tag gearbeitet (§ 611 Abs. 1 BGB). Die Beklagte hat deshalb zu Unrecht das Gehalt um 20 %, also um DM 38,88 brutto gekürzt. Der Zinsanspruch folgt aus § 291 Satz 1 BGB.
Der Kläger hatte dagegen für die beiden am 21. und 22.10.1996 krankheitsbedingt ausgefallenen Arbeitstage gemäß den §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 Satz 1 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 25.09.1996 lediglich einen Anspruch auf 80 % seines Entgelts. Diesen Anspruch hat die Beklagte erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).
Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, daß § 7 Nr. 2 RTV lautet:
Ist ein Angestellter infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert (Arbeitsunfähigkeit), so hat er gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Fortzahlung seines Gehaltes bis zur Dauer von 6 Wochen.
Die gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung zum 01.10.1996 sollte nach den Gesetzesmaterialien nicht in bestehende tarifliche Ansprüche eingreifen. Voraussetzung für einen tariflichen Anspruch auf 100 %-ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist aber, daß der Tarifvertrag nicht nur eine deklaratorische Mitteilung der Gesetzeslage enthält, sondern eine eigenständige, konstitutive Regelung der Entgeltfortzahlung. Das bedarf der Auslegung.
Nach der Rechtsprechung der für Kündigungsrechtsstreitigkeiten zuständigen Senate des Bundesarbeitsgerichts (z. B. Urteil vom 14.02.1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie) handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn gesetzliche Regelungen in Bezug genommen werden oder wenn die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einen umfangreichen Tarifvertrag aufgenommen werden und der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat. In derartigen Fällen ist davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darauf angekommen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darlegung der Rechtslage zu vermeiden. Die Aufnahme der gesetzlichen Regelung im Tariftext dient lediglich deklaratorisch der Unterrichtung der Tarifunterworfenen über die zu beachtende Rechtslage. Ändert sich die Rechtslage, so ist diese einschlägig.
Der RTV wiederholt in seinem § 7 Nr. 2 lediglich die gesetzliche Regelung der §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner ursprünglichen Fassung vom 26.05.1994. Er enthält insbesondere keine abweichende, rechnerisch lückenlose Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung, die gemäß § 4 Abs. 4 Entgeltfortzahlungsgesetz möglich gewesen wäre und für eine eigenständige Tarifregelung spräche. Gegen eine eigenständige Regelung in § 7 Nr. 2 RTV spricht weiter, daß den Tarifvertragsparteien bei Tarifabschluß die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur deklaratorischen Bedeutung von Tarifklauseln, die lediglich die Gesetzeslage wiederholen, bekannt gewesen sein muß. Wenn sie in Anbetracht der vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes vom 26.05.1994 geführten Debatte über eine Einschränkung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle eine tarifliche Absicherung der 100 %-igen Gehalts fort Zahlung erreichen wollten, hätte es sich ihnen aufdrängen müssen, das im Tariftext deutlich zu kennzeichnen, statt die Gesetzeslage inhaltlich zu wiederholen.
Auch der Umstand, daß § 7 Nr. 3 RTV eine eigenständige, die Gesetzeslage überschreitende Regelung eines Zuschusses zum Krankengeld ab der 7. Krankheitswoche in Fällen eines unverschuldeten Betriebsunfalles enthält, läßt nicht zwingend darauf schließen, daß die Tarifvertragsparteien auch die 6-wöchige Gehaltsfortzahlung vor einer Absenkung haben sichern wollen, denn die Regelung des Krankengeldzuschusses führt - unabhängig von § 4 Abs. 1 Satz 2 Entgeltfortzahlungsgesetz 1996 - bei Absenkung der Gehaltsfortzahlung keineswegs zu einem widersinnigen und nicht zu rechtfertigenden Ergebnis, das allein durch eine Sicherung einer 100 %-igen Gehaltsfortzahlung vermieden werden konnte. Daß eine Regelung über den Zuschuß zum Krankengeld auch ohne Absicherung der 100 %-igen Entgeltfortzahlung möglich gewesen ist, zeigt ein Vergleich mit dem Bundesrahmentarifvertrag für die gewerblichen Beschäftigten im Gebäudereinigerhandwerk vom 22.09.1995, der in seinem § 6 einen Krankengeldzuschuß ab der 7. Kalenderwoche bei Betriebsunfällen regelt, ohne daß im Tarifvertrag überhaupt eine Entgeltfortzahlungsregelung enthalten ist.
Anders sieht das jedoch der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts (Urteile vom 16.06.1998, 5 AZR 67/97 und 5 AZR 638/97). Der 5. Senat folgt im wesentlichen der Rechtsprechung der für Kündigungsrechtsstreite zuständigen Senate zu den Auslegungskriterien zu der Frage, ob ein Tarifvertrag eine eigenständige oder lediglich eine deklaratorische Regelung enthält. Er ist jedoch der Ansicht, daß bei wort- oder inhaltsgleicher Wiedergabe der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften der Tarifwortlaut nicht gegen das Bestehen eines eigenständigen, konstitutiven Regelungswillen der Tarifvertragsparteien spreche, so daß weniger strenge Anforderungen an den Ausdruck dieses Willens zu stellen seien. Er ist deshalb bei einem Tarifvertrag, der lediglich das Entgeltfortzahlungsgesetz in Bezug genommen hat und daneben eine Regelung über einen Zuschuß zum Krankengeld enthält, zu dem Ergebnis gelangt, daß keine konstitutive Regelung der Entgeltfortzahlung vorliege (5 AZR 67/97). Demgegenüber ist er bei einem Tarifvertrag, der bei wort- bzw. inhaltsgleicher Übernahme der einschlägigen gesetzlichen Entgeltfortzahlungsregelungen eine Regelung über Zuschüsse zum Krankengeld enthält, davon ausgegangen, daß damit die Tarifregelung insgesamt konstitutiv sei, also auch die Regelung der Entgeltfortzahlung in den ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit (5 AZR 638/97). Danach wäre vorliegend auch § 7 Nr. 2 RTV eine konstitutive Tarifregelung der Entgeltfortzahlung, so daß sie einen eigenen tariflichen Anspruch auf Gehaltsfortzahlung in voller Höhe begründete.
Gleichwohl hätte der Kläger keinen durchsetzbaren Anspruch, weil § 7 Nr. 2 RTV als konstitutive Tarifregelung wegen Verstosses gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG nichtig wäre, was in der mündlichen Verhandlung erörtert worden ist.
Bis zum Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 25.09.1996 hatten die gewerblichen Arbeitnehmer des Gebäudereinigerhandwerks, für die der Bundesrahmentarifvertrag keine Regelung über die Entgeltfortzahlung enthält, gemäß den §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz ebenso wie die Angestellten einen Anspruch auf 100 %-ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle. Mit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 25.09.1996 hatten sie dagegen nur noch Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz in der bis zum 31.12.1998 geltenden Fassung), während Angestellte bei Annahme einer konstitutiven Regelung der Entgeltfortzahlung in § 7 Nr. 2 RTV weiterhin Anspruch auf eine 100 %-ige Fortzahlung ihres Gehaltes im Krankheitsfalle hatten. Das verstieße aber gegen den Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG, weil sachliche Gründe für die unterschiedliche Behandlung nicht ersichtlich sind. Die Entgeltfortzahlung knüpft an die unverschuldete Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit. Sie regelt das Entgeltrisiko bei Krankheit. Eine Differenzierung zwischen Angestellten und gewerblichen Arbeitern ist sachfremd und damit nicht zu rechtfertigen.
Der Gleichheitsverstoß führt nicht dazu, daß gewerbliche Arbeiter gleichfalls einen Anspruch auf eine 100 %-ige Entgeltfortzahlung haben, sondern dazu, daß die Angestelltenprivilegierung nichtig ist mit der Folge, daß Angestellte keinen Anspruch aus der nichtigen Tarifnorm ableiten können.
Der gleichheitswidrige Ausschluß von Arbeitnehmergruppen von tariflichen Leistungen kann eine Teilnichtigkeit darstellen mir der Folge, daß der Tarifanspruch wirksam bleibt und die benachteiligte Arbeitnehmergruppe gleichfalls einen unmittelbaren Anspruch aus dem Tarifvertrag hat. Soweit ein Verstoß gegen das Verbot der unterschiedlichen Entlohnung von Männern und Frauen in Artikel 119 EG-Vertrag gegeben ist, der vorliegend aber nicht feststellbar ist, ergibt sich diese Rechtsfolge aus dem Schutzzweck des Diskriminierungsverbots. Im übrigen kann eine ergänzende Tarifauslegung zur Teilnichtigkeit und zur Anspruchsberechtigung auch der vom Tarifvertrag benachteiligten Gruppe führen. Eine gleichheitswidrige tarifliche Regelung ist dann nicht insgesamt nichtig, wenn aufgrund des Regelungsgegenstandes unter Berücksichtigung der Belastung aus einer "Anpassung nach oben" davon auszugehen ist, daß die Tarifvertragsparteien bei Kenntnis der Gleichheitswidrigkeit der benachteiligten Gruppe die Leistung gleichfalls zugebilligt hatten (BAG, Urteil vom 28.05.1996 - 3 AZR 752/95 - AP Nr. 143 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie). Das läßt sich vorliegend nicht feststellen.
Die Ungleichbehandlung von gewerblichen Arbeitern und Angestellten nach den Tarifverträgen für das Gebäudereinigerhandwerk ist nicht durch bewußte Regelung der Tarifvertragsparteien entstanden, sondern durch die Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes zum 01.10.1996. Welche Regelung die Tarifvertragsparteien bei Kenntnis der Gesetzesänderung getroffen hätten, läßt sich nicht ermitteln. Der Umstand, daß mehr gewerbliche Arbeiter als Angestellte im Gebäudereinigerhandwerk beschäftigt werden, spricht dagegen, daß die Arbeitgeberseite auch den Arbeitern ohne weiteres eine volle Entgeltfortzahlung zugebilligt hätten. Die Tarifentwicklung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle nach dem 01.10.1996 in anderen Branchen zeigt, daß die Vereinbarung einer 100 %-igen Entgeltfortzahlung nur durchsetzbar war, wenn die Arbeitnehmerseite an anderer Stelle zu Kompensationen bereit war. Ist jedoch eine einfache "Anpassung nach oben" nicht die einzige Möglichkeit, kann die Gleichheitswidrigkeit nicht im Wege einer ergänzenden Auslegung vermieden werden, mit der Folge, daß die privilegierende Tarifregelung nichtig ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 92 Abs. 1 ZPO.
Die Zulassung der Revision für den Kläger beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
Meier
Lemke