Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.03.1999, Az.: 15 Sa 1900/97
Zulässigkeit einer 20prozentigen Absenkung der krankheitsbedingten Lohnfortzahlung bei beiderseitig tarifvertraglicher Bindung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 10.03.1999
- Aktenzeichen
- 15 Sa 1900/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 17743
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1999:0310.15SA1900.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Braunschweig - 14.05.1997 - AZ: 2 Ca 213/97
Amtlicher Leitsatz
Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
In dem Rechtsstreit
hat die 15. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 10.03.99
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht und
den ehrenamtlichen Richter und
die ehrenamtliche Richterin
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 14.05.1997 - 2 Ca 213/97 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Die Parteien sind Mitglied der Parteien des Manteltarifvertrags Hotel- und Gaststättengewerbe Niedersachsen vom 28.08.1991 (MTV) der zum 31.12.1994 gekündigt ist. In ihrem Arbeitsvertrag vom 01.11.1995 haben die Parteien den Manteltarifvertrag in Bezug genommen.
Die Klägerin ist seit dem 01.11.1995 als Küchenhilfe beschäftigt. Sie war arbeitsunfähig erkrankt vom 21.10. - 04.11.1996, vom 08.11. - 16.11.1996, vom 23. - 31.12.1996 und 22 Arbeitstage im Januar 1997. Die Beklagte zahlte an die Klägerin für die krankheitsbedingt ausgefallenen Arbeitstage lediglich 80 % ihres Entgeltes. Die Klägerin begehrt die restlichen 20 % ihres Entgeltes. Die rechnerisch unstreitigen Beträge für Oktober 1996 in Höhe von DM 153,46 brutto und für November 1996 in Höhe von DM 222,94 brutto hat die Klägerin mit Schreiben vom 20.01.1997 und die rechnerisch gleichfalls unstreitigen Beträge für Dezember 1996 in Höhe von DM 128,22 brutto und für Januar 1997 in Höhe von DM 313,42 brutto mit Schreiben vom 24.03.1997 vergeblich geltend gemacht.
Ihre Klage,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin DM 376,40 brutto und DM 441,64 brutto nebst 4 % Zinsen seit jeweiliger Rechtshängigkeit zu zahlen,
hat das Arbeitsgericht mit Urteil vom 14.05.1997 kostenpflichtig abgewiesen.
Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils wird Bezug genommen, das der Klägerin am 04.09.1997 zugestellt worden ist und gegen das sie Montag, den 06.10.1997 Berufung eingelegt hat, die sie am letzten Tag der bis zum 20.01.1998 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet hat. Die Klägerin greift das Urteil aus den in ihrer Berufungsbegründungsschrift vom 19.01.1998 wiedergegebenen Gründen an. Auf die Berufungsbegründungsschrift wird Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
in Abänderung des angefochtenen Urteils ihrer Klage stattzugeben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Auf ihre Berufungserwiderung vom 12.03.1998 wird gleichfalls Bezug genommen.
Gründe
Die zulässige Berufung (§§ 64 Abs. 2 und 6, 66 Abs. 1 Satz 1 und 4 ArbGG, 222 Abs. 2, 518, 519 ZPO) ist unbegründet, denn die Klage ist unbegründet.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der gekündigte, aber nachwirkende Manteltarifvertrag (§ 4 Abs. 5 TVG) zumindest kraft einzelvertraglicher Inbezugnahme Anwendung. Die Klägerin hat die Klageansprüche innerhalb der Ausschlußfrist des § 23 Abs. 1 MTV formgerecht geltend gemacht. Sie stehen ihr in der Sache jedoch nicht zu. Die Klägerin hat für die streitbefangenen Zeiträume gemäß den §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz in der Fassung vom 25.09.1996 (EFZG) lediglich einen Anspruch in Höhe von 80 % ihres Entgeltes. Diesen Anspruch hat die Beklagte erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB). § 17 Nr. 2 MTV gibt ihr keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 %, weil er keine eigenständige Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall enthält. Die erkennende Kammer folgt damit den Urteilen der 10. Kammer vom 14.01.1999 (10 Sa 1817/97, Revisionsaktenzeichen 5 AZR 117/99), der 9. Kammer vom 17.02.1999 (9 Sa 289/98) und der 4. Kammer vom 08.03.1999 (4 Sa 2246/97) des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen.
Die gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung auf 80 % zum 01.10.1996 sollte nach den Gesetzesmaterialien nicht in bestehende tarifliche Ansprüche eingreifen. Voraussetzung für einen tariflichen Anspruch auf 100 % Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle ist aber, daß der Tarifvertrag nicht nur eine deklaratorische Mitteilung der Gesetzeslage enthält, sondern eine eigenständige, konstitutive Regelung der Entgeltfortzahlung. Das bedarf der Auslegung. Nach der Rechtsprechung der für Kündigungsrechtsstreite zuständigen Senate des Bundesarbeitsgerichts handelt es sich lediglich um eine deklaratorische Wiedergabe der Gesetzeslage, wenn die gesetzlichen Vorschriften in Bezug genommen werden oder wenn die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einem umfangreichen Tarifvertrag übernommen werden, es sei denn, der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung ist gleichwohl im Tarifvertrag erkennbar geworden (z. B. Urteil vom 14.02.1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie). Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts (z. B. Urteile vom 16.06.1998 - 5 AZR 67/97, 638/97 und 728/97) folgt im wesentlichen dieser Rechtsprechung, ist jedoch der Ansicht, daß bei wortgleicher oder inhaltsgleicher Wiedergabe der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften der Tarif Wortlaut nicht gegen das Bestehen eines eigenständigen, konstitutiven Regelungswillen spreche, so daß weniger strenge Anforderungen an den Ausdruck dieses Willens zu stellen seien.
Vorliegend nimmt § 17 Nr. 2 MTV die zur Zeit des Tarifabschlusses einschlägigen gesetzlichen Vorschriften (§ 616 Abs. 3 BGB i. V. m. §§ 1, 7 LFZG, § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO) nicht in Bezug, sondern gibt deren entscheidenden Inhalt (6-wöchige Entgeltsfortzahlung) mit eigenen Worten wieder. Gleichwohl ergibt die Auslegung, daß damit keine eigenständige, konstitutive Regelung getroffen worden ist, sondern nur auf die einschlägigen Gesetzesvorschriften verwiesen worden ist.
Mit der 10. Kammer des erkennenden Gerichts (Urteil vom 14.01.1999) streitet für diese Auslegung, daß sich nach § 16 Nr. 2 MTV die Entgeltfortzahlung in den in Nr. 1 angeführten Fällen des § 616 Abs. 1 BGB nach den tariflichen Vorschriften für das Urlaubsentgelt (§ 14 MTV) richtet. Bei dieser innertariflichen Verweisung handelt es sich um eine konstitutive Regelung (BAG, Urteil vom 16.06.1998 - 5 AZR 728/97). In § 17 Nr. 2 MTV fehlt es dagegen für die Entgeltfortzahlungshöhe an einer solchen innertariflichen Verweisung, was dagegen spricht, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung auch in diesem Fall eigenständig haben regeln wollen.
§ 17 Nr. 2 MTV enthält keine ausdrückliche Einschränkung der Entgeltfortzahlung in den Fällen, in denen die Arbeitsunfähigkeit von dem Arbeitnehmer selbst verschuldet worden ist und keine Regelung über Fortsetzungserkrankungen. Die gesetzlichen Regelungen sind also nicht einmal inhaltsgleich wiedergegeben worden, ohne daß anhand der Tarifpraxis erkennbar wäre, daß Entgeltfortzahlung in Fällen der verschuldeten Arbeitsunfähigkeit und in Fällen der Fortsetzungserkrankung geleistet worden ist. Die nur beschränkte Wiedergabe der gesetzlichen Regelung spricht deshalb dafür, daß im Zusammenhang mit der Nachweisregelung in § 17 Nr. 1 MTV in Nr. 2 lediglich auf die gesetzlichen Ansprüche hingewiesen worden ist.
Die 10. Kammer des erkennenden Gerichts hat in seinem Urteil vom 14.01.1999 auch zutreffend auf die Tarifgeschichte hingewiesen. Während der MTV 1979 in § 14 Nr. 2 wegen der Höhe der Lohnfortzahlung innertariflich die Regelung über die Höhe des Urlaubsentgelts in Bezug nahm, ist diese Bezugnahme in den Manteltarifverträgen seit 1984 entfallen, was auf den Willen der Tarifvertragsparteien schließen läßt, die Höhe der Entgeltfortzahlung nicht mehr gesondert tariflich zu regeln, sondern den gesetzlichen Vorschriften zu unterstellen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 97 Abs. 1 ZPO.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.