Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.07.2003, Az.: L 1 RA 261/01

Nachzahlung der Rente über den gesetzlichen Zeitraum von vier Jahren hinaus; Rechtswidrige Rentenbewilligung wegen der Nichteinbeziehung weiterer Beitragszeiten; Verfassungsmäßigkeit der nicht vollständigen Nachzahlung von Sozialleistungen bei der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
24.07.2003
Aktenzeichen
L 1 RA 261/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21147
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0724.L1RA261.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - AZ: S 3 RA 39/99

Redaktioneller Leitsatz

§ 44 Abs. 4 SGB X führt in den Fällen, in denen ein Rentenantrag zunächst rechtswidrig bereits dem Grunde nach abgelehnt worden ist und der Ablehnungsbescheid erst nach einem Zeitraum von mehr als 4 Jahren zurückgenommen wird, zu dem Ergebnis, dass der Berechtigte eine ihm an sich zustehende Rente über einen Zeitraum von möglicherweise mehreren Jahren nicht erhält. Gleichwohl ist dies mit den Vorgaben des Eigentumsgrundrechts des Art. 14 Grundgesetz (GG) vereinbar. Im Gleichklang mit der vierjährigen Verjährung nach § 45 Abs. 1 SGB I ist es hinzunehmen, wenn § 44 Abs. 4 SGB X den Nachzahlungszeitraum bei zu Unrecht unterbliebenen Sozialleistungen auf 4 Jahre begrenzt.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. August 2001 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte die dem Kläger seit September 1983 gezahlte Erwerbsminderungsrente wegen der Einbeziehung weiterer Beitragszeiten (lediglich) für vier Jahre rückwirkend in zutreffender Höhe festzustellen ist oder ob dies darüber hinaus bereits für die Zeit ab Rentenbeginn zu geschehen hat.

2

Dem vorliegenden Rechtsstreit liegt ein Überprüfungs- und Nachzahlungsantrag des Klägers vom 9. Juli 1998 zu Grunde. Bis dahin hatte sich die Rentensache des Klägers wie folgt entwickelt:

3

Der 1936 geborene Kläger hatte bei der Beklagten zunächst am 1. September 1983 medizinische Heilmaßnahmen zur Rehabilitation beantragt. Im Juli 1984 hatte er parallel - und nach seinen Angaben veranlasst durch das Arbeitsamt - den Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU), gestellt. Die Beklagte hatte zur Aufklärung von Lücken im Versicherungsverlauf wegen des Zeitraumes vom 1. September 1965 bis zum 31. Dezember 1973 bezüglich einer Beschäftigung des Klägers im Betrieb I. Landhandel" bei der AOK J. um Nachweise gebeten. Die AOK hatte daraufhin den Teilzeitraum bis Juli 1971 dahingehend bestätigt, dass der Kläger als kaufmännischer Angestellter beschäftigt gewesen sei. Neben die Angaben zum Tariflohn bzw. tatsächlichen Arbeitsverdienst hatte die AOK das Kürzel "D 2" bzw. "D" gesetzt. Im Verlaufe des jetzigen Gerichtsverfahrens wurde klar gestellt, dass es sich dabei um die Beitragsgruppe für die monatliche Beitragsberechnungsgrundlage in der Krankenversicherung, Rentenversicherung der Angestellten und Arbeitslosenversicherung handelte (Berechnungsgrundlage 0,01 bis 750,00 DM; Quelle: Änderung und Ergänzung der Richtlinien für die Aufstellung von Sozialversicherungs-Beitragstabellen, Schreiben des Bundesministers für Arbeit vom 22. 0ktober 1965, BArbBl. 1966, S. 10 ff.).

4

Da zwischenzeitlich von ärztlicher Seite vor allem "Schwächen und Versagenszustände, ein psychovegetatives Syndrom und depressive Verstimmungszustände" diagnostiziert worden waren, hatte die Beklagte dem Kläger mit dem Bescheid vom 5. Februar 1985 Rente wegen EU für die Zeit ab der Stellung des Reha-Antrages, also ab dem 1. September 1983 bewilligt. Grundlage war ein bereits am 15. 0ktober 1981 eingetretener Leistungsfall gewesen. In den diesem Rentenbescheid zu Grunde gelegten Versicherungsverlauf war die von der AOK J. bestätigte Beschäftigungszeit als kaufmännischer Angestellter nicht aufgenommen worden - ungeachtet der durch Sachbearbeiterstempel vom 12. November 1984 bestätigten Kenntnisnahme. Der Zahlbetrag der EU-Rente hatte sich seit dem 1. April 1985 auf monatlich 157,14 DM (Zahlbetrag) belaufen.

5

Der Kläger hatte Widerspruch erhoben mit der Begründung, vorrangig Reha-Leistungen in Anspruch nehmen zu wollen. Im Übrigen könne der Leistungsfall erst Mitte 1984 eingetreten sein. Die Beklagte hatte dem Kläger daraufhin geraten, den Rentenantrag zurückzunehmen. Dies hatte der Kläger dahin beantwortet, dann nicht mehr vom Arbeitsamt, das ihm zum Rentenantrag "gezwungen habe", vermittelt zu werden. Die Beklagte hatte den Widerspruch durch den Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 1985 zurückgewiesen. Dem Kläger habe frei gestanden, den Rentenantrag zurückzunehmen. Für einen erst Mitte 1984 eingetretenen Leistungsfall gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig hatte der Kläger zusätzlich beantragt, die Rente auf neuer Grundlage zu berechnen. "Nach 20-jähriger Betriebszugehörigkeit" - zum K. Landhandel in den Jahren 1954 bis 1972 - müsse sie mindestens 1.150,00 DM bis 1.250,00 DM betragen. Die Beklagte hatte im Gerichtsverfahren erwidert, alle nachgewiesenen Zeiten seien tatsächlich berücksichtigt worden. Das SG Braunschweig hatte die Klage hinsichtlich des auf höhere Rente gerichteten Begehrens als unbegründet abgewiesen. Der Vortrag zu den zusätzlich anzuerkennenden Beitragszeiten sei zu pauschal gewesen. Das Urteil wurde rechtskräftig.

6

Am 11. Juli 1994 hatte der Kläger die Beklagte gebeten zu prüfen, ob seine Rente "in ausreichender Höhe" gezahlt werde. Er hatte wiederum zahlreiche Unterlagen über seine früheren Beschäftigungen beigefügt und sich vor allem auf die Tätigkeit beim K. Landhandel bezogen. Die Beklagte hatte den Sachverhalt erneut geprüft und den Bescheid vom 15. September 1994 erlassen. Danach sei der Bescheid vom 5. Februar 1985 nicht zu beanstanden gewesen. Der Kläger hatte wiederum Widerspruch eingelegt und am 29. September 1994 persönlich vorgesprochen. Danach war aus seiner Sicht vor allem zu beanstanden gewesen, dass der Ursprungsbescheid (vom 5. Februar 1985) lediglich den Teilzeitraum von April 1962 bis Dezember 1965 enthalten habe, während er tatsächlich durchgehend beim K. Landhandel beschäftigt gewesen sei. Der Kläger hatte als weiteren Nachweis eine Bescheinigung der AOK J. vom 25. Juli 1983 beigebracht. Die Bescheinigung enthielt für den Zeitraum von April 1962 bis Juli 1971 die Auflistung von vier Teilzeiträumen über die Beschäftigung bei dem Arbeitgeber "L., M. mit den Lohnstufen 22 bzw. 28 und den Beitragsgruppen "L". Ohne auf die frühere AOK-Erklärung vom 7. November 1984 zurückzugreifen, hatte die Beklagte nunmehr dieser vom Kläger nachgereichten Bescheinigung mit der dokumentierten Beitragsgruppe "L" den Nachweis der Abführung bzw. des Abzuges von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten entnommen. Sie hatte den Bescheid vom 1. November 1994 erlassen und in diesen zusätzlich die bisher nicht anerkannte Zeit von Januar 1966 bis Juli 1971 als Beitragszeit aufgenommen. Es ergab sich für die Zeit ab Januar 1995 ein Rentenzahlbetrag in Höhe von 731,13 DM. Die Neuberechnung hatte die Beklagte auch rückwirkend für die Zeit von vier Jahren vor dem Beginn des Jahres der persönlichen Vorsprache des Klägers (Juli und September 1994) durchgeführt, also für die Zeit von Januar 1990 bis Dezember 1994. Für diesen Zeitraum hatte sich ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 28.980,72 DM ergeben. Bezüglich der vom Kläger außerdem geltend gemachten Beitragszeiten von 1954 bis März 1962 (Ausbildung/Beschäftigung im elterlichen Betrieb, dem K. Landhandel), hatte die Beklagte weiterhin mangels ausreichender Nachweise die Aufnahme in den Versicherungsverlauf abgelehnt. Den diesbezüglichen Widerspruch des Klägers hatte sie mit dem Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 1995 zurückgewiesen.

7

Am 17. März 1995 hatte der Kläger erneut Klage vor dem SG Braunschweig erhoben. Mit dieser hatte er weiterhin die Versicherungszeiten beim K. Landhandel bis März 1962 geltend gemacht, außerdem Beitragszeiten in den Jahren 1980/81 und hatte im Übrigen beantragt, ihm die höhere Rente bereits für die Zeit ab September 1983 zu zahlen. Nachdem zwischenzeitlich zu den Zeiten in den Jahren 1980/81 der Bescheid der Beklagten vom 4. April 1995 und der Widerspruchsbescheid vom 29. August 1995 ergangen waren und der Kläger am 29. September 1995 gegen die letztgenannten Bescheide wiederum Klage erhoben hatte, hatte das SG Braunschweig am 23. April 1996 Hinweise zu den teilweise identischen Streitgegenständen gegeben und erläutert, der Kläger müsse weitere Unterlagen beibringen. Zu dem Begehren, die Nachzahlung auf die Zeit bereits ab Rentenantragstellung zu beziehen, hatte das SG auf die Vorschrift des § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) X hingewiesen. Der Kläger hatte die Klage daraufhin zurückgenommen.

8

Im Juli 1996 hatte der Kläger die vom SG angesprochenen Unterlagen bei der Beklagten eingereicht. Die Beklagte hatte daraufhin den (Teilabhilfe-)Bescheid vom 21. 0ktober 1996 erlassen, in dem sie Zeiträume in den Jahren 1952 bis 1955 sowie im Jahre 1974 als Anrechnungszeiten der Fachschulausbildung in den Versicherungsverlauf aufgenommen hatte. Eine weiter geltend gemachte Zeit im Jahre 1983 hatte die Beklagte nicht als Anrechnungszeit anerkannt. Der Bescheid vom 21. Oktober 1996 war bestandskräftig geworden.

9

Mit dem Schriftsatz vom 9. Juli 1998 stellte der Kläger - durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten - den zu dem vorliegenden Rechtsstreit führenden - neuerlichen - Antrag, die höhere Rente bereits ab dem 1. September 1983 und nicht erst ab Januar 1990 zu leisten. Er verwies vor allem darauf, der Beklagten hätten die notwendigen Auskünfte bereits mit der Bestätigung der AOK N.-O. vom 7. November 1984 vorgelegen. Es sei nicht erkennbar, auf welcher Grundlage eine Zeit der Arbeitslosigkeit von September 1975 bis Februar 1977 angerechnet worden sei.

10

Die Beklagte erließ daraufhin den Bescheid vom 14. September 1998 und lehnte es wiederum ab, weiter rückwirkend nachzuzahlen. Durch § 44 Abs. 4 SGB X werde dies ausdrücklich ausgeschlossen. Die weiter angesprochene Anrechnungszeit der Arbeitslosigkeit sei durch die am 18. Juli 1994 eingereichten Bescheide der Arbeitsverwaltung nachgewiesen.

11

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 1999 zurück.

12

Dagegen hat der Kläger Klage beim SG Braunschweig erhoben. Zur Begründung hat er seinen Vortrag vertieft, die Beklagte habe bereits im November 1984 die Beitragszeiten über Dezember 1965 hinaus bis Juli 1971 als nachgewiesen ansehen und daher von vornherein, d.h., ab September 1983, höhere Rente leisten müssen. Das Begehren sei auch auf den Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu stützen. Die Beklagte könne sich auf die Einrede der Verjährung nicht berufen.

13

Die Beklagte hat im August 1999 eingeräumt, dass die für die Anerkennung der Beitragszeiten in den Jahren 1966 bis Juli 1971 notwendigen Erklärungen bereits im Zuge der Rentenantragstellung vorlagen. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass der Kläger die ablehnenden Entscheidungen akzeptiert und sein Recht auch im Wege zweier Gerichtsprozesse nicht habe durchsetzen können. Selbst wenn man auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zurückgreifen würde, ergäbe sich für den Kläger keine günstigere Rechtsfolge. § 44 Abs. 4 SGB X sei entsprechend anzuwenden.

14

Das SG hat die Beklagte am 28. August 2001 verurteilt, die Rente antragsgemäß für die Zeit bereits ab dem 1. September 1983 neu festzustellen und den sich ergebenden Mehrbetrag an den Kläger nachzuzahlen. Zwar lägen die Voraussetzungen für die Anwendung der Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X "formal" vor. Gleichwohl sei es im vorliegenden Fall grob unbillig, diese Gesetzesbestimmung anzuwenden. Denn die Beklagte habe das Begehren des Klägers von Anfang an ignoriert. Bereits bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 5. Februar 1985 habe sie gewusst, dass dem Kläger weitere Beitragszeiten zustünden. In der Folgezeit habe sie die wiederholten Versuche des Klägers, die Zeiten angerechnet zu bekommen, nie zum Gegenstand für eine ernsthafte Überprüfung gemacht. Es sei auch deshalb unbillig, die vierjährige Ausschlussfrist anzuwenden, weil der Kläger alles in seiner Macht liegende getan habe, um zu seinem Recht zu gelangen. Die Beklagte könne ihm nicht im Nachhinein entgegen halten, er habe den Rechtsweg ausschöpfen müssen. Die Schreiben des Klägers und sein Auftreten in der mündlichen Verhandlung zeigten, dass es ihm an Erfahrung und Wissen im Umgang mit Behörden mangele.

15

Gegen das ihr am 1. 0ktober 2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 30. Oktober 2001 eingegangene Berufung der Beklagten. Die Beklagte trägt zur Begründung vor, § 44 Abs. 4 SGB X gelte uneingeschränkt nicht nur für diejenigen Fälle, in denen dem Leistungsträger überhaupt ein Verschulden - am Unterbleiben der rechtszeitigen Rentengewährung - treffe, sondern darüber hinaus unabhängig vom Grad des Verschuldens. Dafür, die gesetzliche Regelung im Falle eines "besonders krassen Pflichtverstoßes" außer Acht zu lassen, fehle es an einer Rechtsgrundlage. Da ein "echter" Anwendungsfall des § 44 SGB X vorliege, seien die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vorliegend ohne Bedeutung. Selbst wenn man jedoch auf den Herstellungsanspruch abstellen würde, müsse § 44 Abs. 4 SGB X entsprechend angewendet werden.

16

Die Beklagte beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. August 2001 aufzuheben und

  2. 2.

    die Klage abzuweisen.

17

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

18

Der Kläger vertieft sein bisheriges Vorbringen, schließt sich der Begründung des SG an und beurteilt das Verhalten der Beklagten als "auf das Gröblichste unredlich".

19

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Rentenakten der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

20

Die gemäß den §§ 143 f. Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

21

Das angefochtene Urteil des SG Braunschweig war aufzuheben, die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 14. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1999 war abzuweisen. Maßgebend war dafür die zwingende Regelung in § 44 Abs. 4 SGB X, wonach Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme eines als rechtswidrig erkannten Verwaltungsaktes erbracht werden. Der Senat hat der Argumentation des SG nicht folgen können, diese zwingende Ausschlussnorm im Einzelfall des Klägers aus übergeordneten Gründen nicht anzuwenden.

22

Der weiteren Argumentation war vorauszuschicken, dass es sich bei dem jetzt anhängigen Rechtsstreit um ein Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X handelt, eine Verfahrensart, bei der ausnahmsweise eine nachträglich als rechtswidrig erkannte Rechtslage selbst gegen die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes oder die - noch stärkere - Rechtskraft eines Endurteils im Sinne des betroffenen Versicherten abgeändert werden kann (vgl. Hauck in: Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch SGB X/I, II, K § 44 Rdnr. 16 m.w.N.). Die Beklagte durfte somit ungeachtet der am 23. April 1996 erklärten Klagerücknahme vor dem SG Braunschweig und Bestandskraft des die begehrte weitere Nachzahlung ablehnenden Bescheides vom 1. November 1994 mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden prüfen, ob "das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist", § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Daran, dass die Beklagte bis zum Abhilfebescheid vom 1. November 1994 von einem i.S. des § 44 SGB X unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist (Lücke im Versicherungsverlauf von Januar 1966 bis Juli 1971) bzw. das Recht unrichtig angewandt hat (Nichterkennen der Beitragsgruppe als Nachweis für die Abführung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung) besteht kein Zweifel und im Anschluss an den Schriftsatz der Beklagten vom 5. August 1999 auch kein Streit mehr zwischen den Beteiligten. Die Beklagte hat aber nicht nur zutreffend die entgegen stehenden Bescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, § 44 Abs. 1 Satz 1 aE SGB X, sondern darüber hinaus die für den Versicherten bedeutsamere Rechtsfolge, nämlich die Erbringung der verwehrten Sozialleistungen für die Vergangenheit, auf den Zeitraum von vier Jahren vor dem Antrag auf Rücknahme begrenzt, § 44 Abs. 4 SGB X. Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches, hier der Mehrbetrag der EU-Rente wegen der Einbeziehung der zusätzlichen Beitragszeiten, längstens für einen Zeitraum von bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes erbracht. Der Zeitpunkt der Rücknahme wird von dem Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag auf Rücknahme gestellt worden ist, hier vom Kläger anlässlich der Vorsprachen vom 11. Juli und 29. September 1994, § 44 Abs. 4 Sätze 2 und 3 SGB X. Da die Beklagte die Rückrechnung in ihrem Abhilfebescheid vom 1. November 1994 zutreffend vorgenommen hatte, konnte sie dies ungeachtet des Vorbringens des Klägers zu den Fehlern im Verlaufe der Sachbearbeitung mit dem angefochtenen Überprüfungsbescheid vom 14. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1999 bestätigen.

23

Der Senat konnte dem Urteil des SG vor allem deshalb nicht folgen, weil § 44 Abs. 4 SGB X den Konflikt zwischen dem Interesse des Versicherten an der Erfüllung seiner Rentenansprüche auch für zurückliegende Zeiträume und dem Interesse der Versichertengemeinschaft daran, die Ausgaben für rückständige Leistungen in einem vertretbaren Umfang und damit kalkulierbar zu halten, bereits abschließend löst. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich in einem Parallelfall ausführlich mit der damit verbundenen Härte für den Versicherten und damit beschäftigt, dass ein an sich bestehender Rentenanspruch für einen bestimmten Zeitraum ganz oder teilweise "entzogen" wird. § 44 Abs. 4 SGB X führe in den Fällen, in denen ein Rentenantrag zunächst rechtswidrig bereits dem Grunde nach abgelehnt worden ist und der Ablehnungsbescheid erst nach einem Zeitraum von mehr als 4 Jahren zurückgenommen wird, zu dem Ergebnis, dass der Berechtigte eine ihm an sich zustehende Rente über einen Zeitraum von möglicherweise mehreren Jahren nicht erhält. Gleichwohl sei dies - so das BSG - mit den Vorgaben des Eigentumsgrundrechts des Art. 14 Grundgesetz (GG) vereinbar. Auszugehen sei dabei von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), wonach Ansprüche auf Versichertenrenten und Rechtspositionen des Versicherten nach Begründung des Rentenversicherungsverhältnisses den Schutz der Eigentumsgarantie genießen. Die konkrete Reichweite des Schutzes sei aber erst aus der Bestimmung über Inhalt und Schranken des Eigentums abzuleiten, was wiederum Sache des Gesetzgebers sei, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Soweit es um die Funktion des Eigentums als Element der persönlichen Freiheit gehe, seien dem Gesetzgeber enge Grenzen gezogen. Gehe es jedoch um den sozialen Bezug und die soziale Funktion des Eigentumsobjekts, so sei die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers entsprechend größer. Für die auch im Falle des Klägers in Rede stehenden Rentenversicherungsansprüche und -anwartschaften gelte, dass sie einerseits einen personalen Bezug aufwiesen, andererseits im Rahmen des sozialversicherungsrechtlichen Leistungssystems stünden (Urteil des BSG vom 23. Juli 1986, Az.: 1 RA 31/85).

24

Im Gleichklang mit der vierjährigen Verjährung nach § 45 Abs. 1 SGB I ist es nach alledem hinzunehmen, wenn § 44 Abs. 4 SGB X den Nachzahlungszeitraum bei zu Unrecht unterbliebenen Sozialleistungen auf 4 Jahre begrenzt. Neben der Kalkulierbarkeit der Ausgaben der Sozialleistungsträger steht hinter der zeitlichen Begrenzung auch die Erwägung, dass die Renten im Wesentlichen dem laufenden Unterhalt der Berechtigten zu dienen bestimmt sind. Je länger nun der Nachzahlungszeitraum zurückliegt, desto weniger ist die Leistung des Rentenversicherungsträgers in der Lage, die Unterhalts- bzw. Unterhaltsersatzfunktion zu erfüllen.

25

Es kommt bei alledem nicht darauf an, ob und ggf. in welchem Grade der Sozialleistungsträger schuldhaft gehandelt hat. Vielmehr ergibt sich aus der Formulierung des § 44 Abs. 4 SGB X, dass eine abschließende Regelung allein auf der Grundlage der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Entscheidung getroffen wurde (vgl. Hauck a.a.O. Rdnr. 6 m.w.N.). Auf die näheren Erörterungen des SG ("krasser Pflichtverstoß") und das Vorbringen der Klägerseite zu diesem Punkt ("auf das gröblichste unredliches Verhalten") brauchte der Senat deshalb nicht einzugehen.

26

Auf Erwägungen zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch und einer - in Rechtsprechung und Schrifttum umstrittenen - entsprechenden Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X auf derartige Fälle kam es ebenfalls nicht an. Denn wenn sich - wie hier - das fehlerhafte Handeln des Sozialleistungsträgers in einer falschen Sachentscheidung erschöpft, ist der vom Gesetzgeber eingeräumte Weg der im SGG vorgesehenen Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage, Berufung usw.) zu beschreiten. Wenn ein derartiger Bescheid bestandskräftig geworden ist, besteht die Möglichkeit des Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X (vgl. beispielhaft BSG-Beschluss vom 28.01.1999, Az.: B 14 EG 6/98 B). In einer falschen Sachentscheidung erschöpfte sich der Fall auch hier, denn die nicht erfolgte Einbeziehung der Beitragszeiten in dem Versicherungsverlauf widersprach der Hauptpflicht, das SGB VI bzw. - bis zum 31. Dezember 1991 - das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG), mit den dortigen Vorgaben für die Einbeziehung von Beitragszeiten in den Versicherungsverlauf zutreffend anzuwenden. Daneben war kein Raum mehr dafür, auf die Verletzung einer Nebenpflicht, etwa der zur vollständigen Auskunft und Beratung, als Ansatzpunkt für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch abzustellen.

27

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

28

Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).