Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 08.07.2003, Az.: L 3 P 13/03

Anspruch auf Weiterbewilligung von Pflegegeld ; Zulässigkeit von Nebenbestimmungen bei Verwaltungsakten; Zulässigkeit der Befristung von Pflegeleistungen; Ermessensausübung bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
08.07.2003
Aktenzeichen
L 3 P 13/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19918
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0708.L3P13.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 24.01.2003 - AZ: S 12 P 65/99

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Auf Pflegeleistungen in Form von Pflegegeld oder Pflegesachleistungen hat der Pflegebedürftige bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen einen Anspruch. Es handelt sich um gebundene Entscheidungen, bezüglich derer den Pflegekassen kein Ermessen zusteht. Weder das SGB XI noch eine sonstige Rechtsvorschrift räumt dem Versicherungsträger ein Recht dazu ein, solche Pflegeleistungen für die Zukunft nur befristet zu gewähren.

  2. 2.

    Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X steht nach dem klaren Gesetzeswortlaut im Ermessen des Versicherungsträgers. Dementsprechend muss die Begründung der Entscheidung auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist.

Tenor:

Das Urteil des SG Stade vom 24. Januar 2003 und der Bescheid der Beklagten vom 23. März 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. September 1999 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte auf die Befristung, mit der die Bewilligung von Pflegeleistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I im Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 verbunden war, nicht berufen darf und dass daher diese Bewilligung unbefristet fortgilt. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.

Tatbestand

1

Die am F. 1989 geborene Klägerin wendet sich dagegen, dass das ihr zunächst bewilligte Pflegegeld über den 10. Januar 1999 hinaus nicht gewährt wird.

2

Die Klägerin ist auf Grund einer weitestgehenden Gehörlosigkeit mit einem Cochlear-Implantat und einem Sprachprozessor versorgt. Als Schülerin einer Realschule erbringt sie gute Leistungen.

3

Auf ihren Antrag von Juni 1995 holte die Beklagte ein Gutachten von Dr. G. vom 17. Oktober 1996 ein, demzufolge die Klägerin im Bereich der Grundpflege keinen Mehrbedarf im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind aufwies. Mit Bescheid vom 22. Oktober 1996 lehnte die Beklagte daraufhin die Bewilligung Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung ab.

4

Zur Begründung ihres Widerspruchs verwies die Klägerin auf erstinstanzliche Rechtsprechung zur Einstufung von an Diabetes erkrankten Kindern und machte geltend, dass in dem ihren vergleichbaren Fällen die Pflegestufe II gewährt werde. Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten der Pflegefachkraft H. ein. Diese gelangte in ihrem Gutachten vom 11. August 1997 zu der gleichen Einschätzung wie zuvor Dr. G ...

5

Gleichwohl bewilligte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 der Klägerin rückwirkend ab dem 01. April 1995, jedoch nur befristet bis zum 10. Januar 1999 (d.h. bis zum Ablauf des zehnten Lebensjahres), Pflegeleistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I im Hinblick auf die erforderliche intensive Betreuung und Förderung.

6

Im Dezember 1998 suchte die Klägerin um Weiterbewilligung von Pflegeleistungen bei gleichzeitiger Höherstufung in die Pflegestufe II nach. Die Gutachterin Dr. I. ermittelte in ihrer Beurteilung vom 17. Februar 1999 einen Mehrbedarf im Bereich der Grundpflege im Vergleich zu einem gleichaltrigen gesunden Kind von 32 Minuten im Tagesdurchschnitt, wobei sie insbesondere einen Mehraufwand auf Grund von behinderungsbedingten Kommunikationsschwierigkeiten, ein häufig erforderliches nächtliches Beruhigen und wöchentliche Fahrten zur Logopädin berücksichtigte.

7

Mit Bescheid vom 23. März 1999, der Klägerin nach Aktenlage zugestellt am 20. Juni 1999, lehnte die Beklagte daraufhin eine Weitergewährung von Pflegeleistungen mit der Begründung ab, dass die Klägerin nicht den nach den gesetzlichen Vorgaben erforderlichen Mehraufwand im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten im Tagesdurchschnitt aufweise.

8

Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Bescheid vom 23. September 1999 zurück, nach dem der im Widerspruchsverfahren gehörte weitere Gutachterin J. in ihrer Stellungnahme vom 10. August 1999 ebenfalls keinen Mehrbedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten angenommen hatte.

9

Zur Begründung der am 21. Oktober 1999 erhobenen Klage hat die Klägerin hervorgehoben, dass sich im Vergleich zur Situation bei der vorausgegangenen Bewilligung von Pflegegeld weder ihr Gesundheitszustand noch ihr Hilfebedarf verändert habe. Sie sei weiterhin auf eine umfängliche Betreuung bei fast allen Verrichtungen angewiesen. Die Führung des Kabels zum Sprachprozessor erschwere das An- und Auskleiden; außerhalb der Wohnung müsse sie ständig begleitet, beim Duschen müsse sie überwacht werden. Alle täglichen Verrichtungen müssten für Sprech- und Hörübungen genutzt werden, das Tragen des - häufig Defekte aufweisenden - Implantats sei zu überwachen. Nachts habe sie - wie viele Gehörlose - oft Albträume und müsse daher immer wieder beruhigt werden.

10

Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Orthopäden Dr. K. vom 22. Oktober 2001 eingeholt, in dem ein Mehrbedarf im Bereich der Grundpflege von 52 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 10 Minuten im Tagesdurchschnitt angenommen worden ist. Hierzu hat im Auftrage der Beklagten Dr. I. vom MDKN eine kritische Stellungnahme abgegeben.

11

Mit Urteil vom 24. Januar 2003, der Klägerin zugestellt am 05. März 2003 hat das Sozialgericht die Klage auch unter Berücksichtigung eines von den Eltern erstellten Pflegetagebuchs mit der Begründung abgelehnt, dass die Klägerin im Zeitraum ab dem 11. Januar 1999 die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegeleistungen nicht erfülle. Insbesondere seien Hilfen in Form eines nächtlichen Beruhigens und Unterstützungsleistungen beim Ausfall der Hörhilfen nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht berücksichtigungsfähig.

12

Mit der am 07. März 2003 eingelegten Berufung schildert die Klägerin erneut ihren umfänglichen Unterstützungsbedarf. Das An- und Auskleiden unter Einschluss des Richtens der Bekleidung nach Toilettengängen werde durch die Führung eines Kabels zum Sprachprozessor erschwert; das Implantat weise oft Funktionsstörungen auf, die sie nur mit fremder Hilfe überwinden könne. Bei allen Wegen außerhalb der Wohnung sei sie auf Hilfen angewiesen; nachts müsse sie oft beruhigt werden.

13

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 24. Januar 2003 und den Bescheid der Beklagten vom 23. März 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. September 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass sich die Beklagte auf die Befristung, mit der die Bewilligung von Pflegeleistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I im Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 verbunden war, nicht berufen darf und dass daher diese Bewilligung fortgilt, hilfsweise, die Beklagte zur Bewilligung von Pflegegeld nach Maßgabe der Pflegestufe I auch über den 10. Januar 1999 hinaus zu verurteilen.

14

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die zulässige Berufung, über die der Senat mit dem von beiden Beteiligten erklärten Einverständnis (vgl. Schriftsatz des Klägerin vom 25. April 2003 und Schriftsatz der Beklagten vom 18. Juni 2003) durch seinen Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet, hat mit dem Hauptantrag Erfolg.

17

Die Beklagte war nicht berechtigt, die im Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 ausgesprochene Bewilligung von Pflegeleistungen (nach Maßgabe der Pflegestufe I) durch eine Befristung einzuschränken. Unter Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben darf sie sich auf die gleichwohl rechtswidrigerweise vorgenommene Befristung nicht berufen, sodass sie sich so behandeln lassen muss, als ob sie der Klägerin unbefristet Pflegeleistungen (nach Maßgabe der Pflegestufe I) bewilligt hätte. Unter der Annahme einer solchen unbefristeten Bewilligung ist auch sonst keine Rechtsgrundlage zur Einstellung der zuvor bewilligten Pflegeleistungen mit Wirkung zum 11. Januar 1999 gegeben.

18

Nach § 32 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Buch X (SGB X) darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung - etwa in Form einer Befristung - nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsakts erfüllt werden. Auf Pflegeleistungen in Form von Pflegegeld oder Pflegesachleistungen hat der Pflegebedürftige bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen einen Anspruch (§§ 36, 37 Sozialgesetzbuch Buch XI - SGB XI -); es handelt sich um gebundene Entscheidungen, bezüglich derer den Pflegekassen kein Ermessen zusteht. Weder das SGB XI noch eine sonstige Rechtsvorschrift räumt der Beklagten ein Recht dazu ein, solche Pflegeleistungen für die Zukunft nur befristet zu gewähren.

19

Die im vorliegenden Fall gleichwohl vorgenommene Befristung sollte auch nicht sicherstellen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen der bewilligten Pflegeleistungen vorlagen. Eine Sicherstellung in diesem Sinne ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bewilligung auszurichten, sie soll nicht erst künftig ggf. erforderlich werdende Anpassungen der Bewilligung an tatsächliche Veränderungen vorwegnehmen.

20

Der Widerspruchsausschuss, auf Grund dessen Entscheidung die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 die Bewilligung von Pflegeleistungen ausgesprochen hat, hat sich von der Auffassung leiten lassen, dass die Klägerin seinerzeit die gesetzlichen Voraussetzungen für die zugesprochenen Pflegeleistungen erfüllte. Die Befristung sollte nur der als zumindest nahe liegend angesehenen Möglichkeit eines - von dem Ausschuss zum 10. Geburtstag der Klägerin erwarteten - künftigen Wegfalls dieser Voraussetzungen Rechnung tragen. Eine solche - aus der Sicht des Ausschusses gegebene - bloße Möglichkeit einer künftigen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse bietet mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung keine Grundlage, die Bewilligung von Pflegeleistungen durch eine Befristung einzuschränken. Vielmehr hat der Gesetzgeber stattdessen mit der Vorschrift des § 48 SGB X den Pflegekassen die Möglichkeit eröffnet, auf entsprechende für die Zukunft in Betracht zu ziehende (rechtlich wesentliche) Veränderungen - nach ihrem Eintritt - mit einer Aufhebung der (unbefristet auszusprechenden) Leistungsbewilligung zu reagieren (vgl. auch BSG, Urt. v. 26. Juni 1990, Az: 5 RJ 32/89, SozR 3-1300 § 32 Nr. 1: Es besteht keine Veranlassung, die Bewilligung der Leistungen, auf die Anspruch besteht, mit Nebenbestimmungen zu versehen. Die Anpassung an die materielle Rechtslage ist - wie vom Gesetzgeber vorgesehen - über § 48 SGB X zu erreichen.).

21

Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Regelung des § 32 Abs. 2 SGB X. Ihr zufolge darf ein Verwaltungsakt unbeschadet des Absatzes 1 dieser Norm nach pflichtgemäßem Ermessen insbesondere erlassen werden mit (Nr. 1) einer Bestimmung, nach der eine Vergünstigung oder Belastung zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt, endet oder für einen bestimmten Zeitraum gilt (Befristung) ... Schon die Formulierung "unbeschadet des Absatzes 1" macht jedoch deutlich, dass bei gebundenen Entscheidungen wie im vorliegenden Fall Nebenbestimmungen nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 zulässig sind; zum Er-lass von Nebenbestimmungen im weiter gehenden Rahmen ermächtigt § 32 Abs. 2 SGB X die Sozialbehörden nur bei Ermessensverwaltungsakten (vgl. Engelmann in von Wulffen, SGB X, 4. Aufl., § 32 Rn. 11).

22

Unter Berücksichtigung der Regelung des § 44 Abs. 1 SGB X kann sich die Beklagte auch nicht auf die Bestandskraft der im Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 - befristet - ausgesprochenen Bewilligung von Pflegegeld berufen. Nach der Norm des § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt gerade auch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit aufzuheben, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt und dass auf Grund dieses Rechtsfehlers Sozialleistungen rechtswidrig versagt worden sind. Ein solcher Rechtsanwendungsfehler ist der Beklagten vorliegend in der Form unterlaufen, dass sie die Bewilligung von Pflegeleistungen ohne Rechtsgrundlage durch eine Befristung eingeschränkt hat.

23

Der hier in Form der Bewilligung von Pflegegeld erlassene begünstigende Verwaltungsakt kann ohne diese Nebenbestimmung auch sinnvoller- und rechtmäßigerweise bestehen bleiben (vgl. zu diesem Kriterium: BVerwG, E 112, 221). Der Widerspruchsausschuss ging davon aus, dass im Zeitpunkt seiner Entscheidung die Klägerin alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die zugesprochenen Pflegeleistungen erfüllte; er wollte lediglich Vorsorge für den von ihm als nahe liegend angesehenen Fall eines künftigen Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen treffen. In Kenntnis der erläuterten Rechtsgrundlagen hätte er sich verständigerweise nur dazu entschließen können, die Leistungen unbefristet zu bewilligen und eine Reaktion auf einen künftigen Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen einem Verfahren nach § 48 Abs. 1 SGB X vorzubehalten.

24

Mithin ist die Beklagte zur Aufhebung dieser Befristung verpflichtet, wie dies die Klägerin auch sinngemäß bereits mit dem Antrag auf Weitergewährung von Pflegeleistungen und ausdrücklich noch einmal im vorliegenden Berufungsverfahren begehrt hat. Auch vor einer solchen der Beklagten obliegenden förmlichen Aufhebung der die Bewilligung einschränkenden Befristung darf sich diese unter Berücksichtigung des - auch im öffentlichen Recht maßgeblichen (vgl. etwa BSG, SozR 3-2200 § 559 Nr. 1) - Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben auf diese nicht berufen, sie muss vielmehr sich so behandeln lassen, als ob sie Pflegeleistungen (nach Maßgabe der Pflegestufe I) unbefristet zugesprochen hätte.

25

Die Ablehnung einer Weitergewährung von Pflegeleistungen auch über den 10. Januar 1999 hinaus kann auch nicht im Sinne einer auf § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X gestützten Aufhebung der Bewilligung von Pflegeleistungen (mit Wirkung vom 11. Januar 1999 an) nach § 43 Abs. 1 SGB X umgedeutet werden. Für eine solche Umdeutung ist schon deshalb kein Raum, weil die nach dieser Norm erforderliche wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist.

26

Eine solche wesentliche Änderung umfasst zwei Voraussetzungen: Zum einen muss der Versicherte im Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligung von Pflegeleistungen tatsächlich einen Hilfebedarf im Umfang zumindest der Pflegestufe I aufgewiesen haben, was namentlich voraussetzt, dass der Hilfebedarf - hier in Form eines Mehrbedarfs im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind (§ 15 Abs. 2 SGB XI) - im Bereich der Grundpflege den gesetzlichen Grenzwert (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 1 SGB XI) von 45 Minuten im Tagesdurchschnitt überschritten hat.

27

Sollten hingegen bereits damals die Voraussetzungen auch nur der Pflegestufe I gefehlt haben, dann wären selbst etwaige nachfolgende Verbesserungen im Gesundheitszustand bezüglich dieser Einordnung nicht als rechtlich wesentlich zu qualifizieren (vgl. BSG, Urt. vom 09.09.1986 - 5b RI 66/85 - SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 27). Zum anderen setzt eine Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X voraus, dass bei Erlass des Aufhebungsbescheides die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht mehr gegeben waren.

28

Im vorliegenden Fall ist bereits nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei der Bewilligung von Pflegegeld im November 1997 im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind in dem vom Gesetzgeber in § 14 Abs. 4 Nrn. 1 - 3 SGB XI eng definierten Bereich der Grundpflege einen Mehrbedarf im Tagesdurchschnitt von mehr als 45 Minuten aufwies, wie dies nach § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB XI für die Bewilligung von Pflegeleistungen erforderlich wäre. Erst recht ist nicht davon auszugehen, dass ein solcher Mehrbedarf bei einer Gesamtbetrachtung des zusätzlichen Hilfebedarfs in den Bereichen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung 90 Minuten im Tagesdurchschnitt ausmacht. Ein Mehrbedarf in diesem Umfang ist in keinem der zahlreichen seit 1996 eingeholten Gutachten ausgewiesen worden.

29

Darüber hinaus ist auch deshalb kein Raum für die Annahme einer rechtlichen wesentlichen Veränderung in den tatsächlichen Umständen, weil nicht ersichtlich ist, dass sich der im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind anzunehmende zusätzliche Hilfebedarf der Klägerin in den Bereichen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung seit November 1997 vermindert hat. Die ab 1999 eingeholten Gutachten weisen sogar einen deutlich größeren Mehrbedarf im Bereich der Grundpflege aus als die 1996/97 eingeholten Beurteilungen.

30

Auch soweit die Bewilligung von Pflegegeld mit Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997 im Ergebnis als Erlass eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts im Sinne des § 45 SGB X zu qualifizieren sein dürfte, hilft dies der Beklagten im vorliegenden Verfahren nicht weiter. Zwar ist die Beklagte unter dieser Annahme zu einer Rücknahme der Bewilligung nach § 45 Abs. 1 SGB X unter den in den Absätzen 2 bis 4 dieser Vorschrift geregelten weiteren Voraussetzungen - insbesondere auch unter Wahrnehmung der in Absatz 3 normierten Rücknahmefristen - berechtigt; eine Umdeutung der angefochtenen Bescheide in eine solche Rücknahme kommt jedoch nicht in Betracht.

31

Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß dieser Vorschrift steht nach dem klaren Gesetzeswortlaut im Ermessen der Beklagten. Dementsprechend muss die Begründung der Entscheidung auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist.

32

Entsprechend Ermessenserwägungen fehlen in den angefochtenen Bescheiden jedoch vollständig. Ihnen ist - unter Zugrundelegung der abweichenden Rechtsauffassung der Beklagten: konsequenterweise - nicht einmal zu entnehmen, dass sich die Beklagte eines ihr von Gesetzes wegen eingeräumten Ermessensspielraums überhaupt bewusst war. Das Gesetz eröffnet dem Senat keine Möglichkeiten, diesen Verwaltungsfehler zu korrigieren und etwa sein Ermessen an die Stelle des bislang nicht ausgeübten Verwaltungsermessens zu setzen.

33

Darüber hinaus setzt die Rücknahme eines Bescheides nach § 45 SGB X voraus, dass die nach § 24 Abs. 1 SGB X gebotene Anhörung des Betroffenen auch auf die nach § 45 SGB X maßgeblichen Rücknahmevoraussetzungen erstreckt wird.

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.