Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.07.2003, Az.: L 2 RI 271/98

Gewährung von Geschiedenen-Witwenrente nach Scheidung ohne Schuldausspruch; Auf geistiger Störung beruhendes Verhalten; Verstoß gegen allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz; Ersetzung des Verschuldens- durch das Veranlassungsprinzip; Vorliegen eines hinreichenden Differenzierungsgrundes

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
29.07.2003
Aktenzeichen
L 2 RI 271/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20038
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0729.L2RI271.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - AZ: S 1 I 100/96

Redaktioneller Leitsatz

Auch die diejenigen Ehegatten, die die Scheidung wegen auf geistigen Störungen oder gravierenden Krankheiten des Ehegatten beruhender Ehezerrüttung herbeigeführt haben, trifft im Zusammenhag mit der Scheidung eine Verantwortung, so dass ein gegen das Grundgesetz verstoßende Ungleichbehandlung im Verhältnis zu allein oder überwiegend für schuldig erklärten Ehegatten nicht gegeben ist.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von so genannter Geschiedenen-Witwenrente nach Scheidung ohne Schuldausspruch.

2

Die im Mai 1932 geborene Klägerin beantragte am 19. September 1995 Witwenrente an vor dem 1. Juli 1977 geschiedene Ehegatten aus der Rentenversicherung des im November 1924 geborenen und am 20. Januar 1995 verstorbenen Versicherten I ... Die Klägerin und der Versicherte heirateten am 22. April 1955. Aus der Ehe sind in den Jahren von 1957 bis 1966 sechs Kinder hervorgegangen. Am 9. März 1967 erhob die Klägerin Scheidungsklage und beantragte, die Ehe aus alleinigem Verschulden des Beklagten, hilfsweise ohne Schuldausspruch wegen auf geistiger Störung beruhendem Verhalten des Versicherten oder dessen Geisteskrankheit, zu scheiden. Das Landgericht Osnabrück erhob Beweis über beiderseitige Eheverfehlungen und darüber hinaus gemäß Beweisbeschluss vom 17. Oktober 1967 über den Geisteszustand des Versicherten durch Einholung eines in mündlicher Verhandlung erstatteten Gutachtens des Medizinaldirektors Dr. J. vom 14. August 1968. Dieser hatte anhand der Krankenunterlagen des K. und des während der Verhandlung gewonnenen Eindrucks ausgeführt, der Versicherte leide an einer paranoiden Entwicklung bei entsprechend strukturierter Persönlichkeit. Diese stelle nach psychiatrischer Be-urteilung eine geistige Störung dar. Daraufhin schied das Landgericht die Ehe durch Urteil vom 22. August 1968 entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin ohne Schuldausspruch nach § 44 Ehegesetz (EheG) vom 20. Februar 1946, wobei es davon ausging, dass die Scheidung unter Berücksichtigung des Alters der Parteien und der sonstigen Umstände sittlich gerechtfertigt war. Der Mitschuldantrag des Beklagten wurde zurückgewiesen, weil eine schwere Eheverfehlung der Klägerin nicht bewiesen sei. Das Scheidungsurteil ist seit dem 9. September 1969 rechtskräftig. Die Beklagte wies den Antrag auf Gewährung von Geschiedenen-Witwenrente mit Bescheid vom 24. Oktober 1995 ab. Auch der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 19. April 1996). Die Voraussetzungen für eine Rentengewährung seien deswegen nicht gegeben, weil der Klägerin im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten kein Anspruch auf Unterhalt zugestanden habe. Im Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, die Vorschrift des § 61 Abs. 2 EheG, aus der das Fehlen ihrer Anspruchsberechtigung abgeleitet werde, sei verfassungswidrig. Sie werde zu Unrecht mit Ehegatten gleich behandelt, die aus alleinigem oder überwiegendem Verschulden geschieden worden seien. Andererseits werde sie gegenüber Ehegatten, die in gleichem Maße schuldig geschieden worden seien, ungleich behandelt. Sie habe den Versicherten verlassen und die Scheidung beantragt, ohne davon auszugehen, dass das Verhalten des Versicherten auf einer geistigen Störung beruhe. Schließlich habe sie ihren Scheidungsantrag lediglich hilfsweise auf die §§ 44 und 45 EheG gestützt. Ihr Hauptbegehren sei darauf gerichtet gewesen, die Ehe aus alleinigem Verschulden des Versicherten zu scheiden. Die Scheidung nach § 44 EheG sei nur unter Aufgabe möglicherweise bestehender Unterhaltsansprüche möglich. Dies stelle eine sachlich unangemessene Benachteiligung dar. Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat die Klage durch Urteil vom 27. Mai 1998 abgewiesen. Die Vorschrift des § 61 Abs. 2 EheG verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG).

3

Zur Begründung ihrer gegen das klagabweisende Urteil eingelegten Berufung wiederholt die Klägerin ihren Vortrag erster Instanz.

4

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 27. Mai 1998 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 1996 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr Witwenrente an vor dem 1. Juli 1977 geschiedene Ehegatten nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

5

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

7

Außer der Verwaltungsakte der Beklagten haben die Akten des Scheidungsrechtsstreites 2 R 38/67 Landgericht Osnabrück vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe

8

Die nach § 143 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig. Der Senat hat hierüber durch Urteil ohne vorherige mündliche Verhandlung entscheiden können, weil die Beteiligten damit einverstanden waren (§ 124 Abs. 2 SGG).

9

Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.

10

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Witwenrente an vor dem 1. Juli 1977 geschiedene Ehegatten nach § 243 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI). Gemeinsame Voraussetzung für die Gewährung von Witwenrente nach Abs. 1 und 2 dieser Vorschrift ist, dass die Witwe im letzten Jahr vor dem Tode des geschiedenen Ehegatten (des Versicherten) Unterhalt von diesem erhalten oder im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dessen Tode einen Anspruch hierauf gehabt hat (§ 243 Abs. 1 Nr. 3; Abs. 2 Nr. 3 SGB VI). Diese für kleine und große Witwenrenten gemeinsame Voraussetzung ist im Falle der Klägerin nicht erfüllt. Die Unterhaltspflicht bei Scheidung wegen Verschuldens war bei vor dem 1. Juli 1977 geschiedenen Ehegatten in den §§ 58 bis 60 des EheG vom 20. Februar 1946 geregelt, wonach das Maß des Verschuldens an der Scheidung Art und Umfang des Unterhaltsanspruches bestimmte. Erfolgte die Scheidung aus anderen Gründen als dem Verschulden der Ehegatten, wie hier in Folge auf geistiger Störung beruhendem Verhalten des Versicherten nach § 44 EheG, so hatte nach § 61 Abs. 2 EheG lediglich der Ehegatte, der die Scheidung verlange, dem anderen unter bestimmten Voraussetzungen Unterhalt zu gewähren. Ein eigener Unterhaltsanspruch stand ihm jedoch nicht zu.

11

Diese Regelung verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 des GG. Diese Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem gemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchen Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 55, 72, 88). Auch eine für alle Betroffenen gleiche Regelung verletzt Art 3 Abs. 1 GG, wenn sie für eine Personengruppe Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht zur Folge hätte, dass ihr gegenüber eine gleichartige Behandlung nicht mehr zu rechtfertigen wäre (vgl. BVerfG SozR 2200 § 1265 Nr. 78). Die Klägerin rügt zum einen ihre Gleichbehandlung mit aus alleinigem oder überwiegendem Verschulden geschiedenen Ehegatten und zum anderen ihre Ungleichbehandlung mit Ehegatten, die im Scheidungsurteil beide in gleichem Maße für schuldig erklärt worden sind.

12

Wenn sich die Klägerin mit allein oder überwiegend für schuldig erklärten Ehegatten i. S. von § 58 EheG vergleicht, so trifft es zu, dass sie ebenso wie diese von dem früheren Ehegatten keinen Unterhalt beanspruchen konnte. Der Gesetzgeber war jedoch im Rahmen des ihm bei der Findung einer zweckmäßigen vernünftigen und gerechten Lösung zustehenden weiten Gestaltungsbereiches befugt, sowohl die allein oder überwiegend für schuldig erklärten Ehegatten als auch diejenigen Ehegatten, die die Scheidung wegen auf geistigen Störungen oder gravierenden Krankheiten des Ehegatten beruhender Ehezerrüttung i. S. der §§ 44 bis 46 EheG herbeigeführt haben, gleich zu behandeln. Beide trifft im Zusammenhang mit der Scheidung eine Verantwortung. Dies ergibt sich für die eine Gruppe aus ihrem ehewidrigen Verhalten i. S. der §§ 42, 43 EheG (BSG SozR 3-2200 § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) Nr. 8 (S. 40)). Bei der anderen Gruppe lässt sich die nacheheliche Verantwortung für den Lebensunterhalt des früheren Ehegatten aus dem ehelichen Pflichtenverhältnis herleiten, dass auch nach Beendigung der Ehe fortwirkt (vgl. BVerfGE 53, 257, 297 = SozR 7610 § 1587 RVO Nr. 1). In den Fällen, in denen die Zerrüttung der Ehe auf Geisteskrankheit oder anderen geistigen Störungen beruhte oder durch ansteckende oder Ekel erregende Krankheiten (vgl. §§ 44 bis 46 EheG) hervorgerufen worden war, musste die Ehe gleichwohl aufrecht erhalten bleiben, wenn das Scheidungsbegehren sittlich nicht gerechtfertigt war, also insbesondere dann, wenn die Auflösung der Ehe den anderen Ehegatten außergewöhnlich hart getroffen haben würde (§ 47 EheG). Der gesunde Ehegatte hatte somit eine weit gehende Verantwortung für seinen Ehepartner zu übernehmen, die sogar dazu führen konnte, dass er trotz unheilbarer Zerrüttung der Ehe gegen seinen Willen gezwungen war, an der Ehe festzuhalten. Dies macht deutlich, dass es in den Fällen, in denen die Scheidung erlaubt war, gerechtfertigt sein konnte, den die Scheidung betreibenden Ehegatten auch nach der Scheidung nicht völlig aus der Verantwortung für seinen Ehepartner zu entlassen und diese nicht der Allgemeinheit aufzubürden. In solchen Fällen war es nicht sachwidrig, das Verschuldensprinzip durch das Veranlassungsprinzip zu ersetzen und den Ehegatten, der die Scheidung betrieben hat, zu verpflichten, die wirtschaftliche Lage seines Ehepartners sicher zu stellen und andererseits den die Scheidung begehrenden Ehegatten von der wirtschaftlichen Inanspruchnahme des schuldlosen Ehegatten auszuschließen (BSG FamRZ 1977, 198 ff [BVerfG 28.02.1980 - 1 BvL 17/77]). Soweit die Klägerin vorträgt, sie habe das Scheidungsverfahren mit dem Ziel der Scheidung aus Verschulden des Versicherten begonnen und lediglich hilfsweise Scheidung ohne Verschulden wegen geistiger Störung bzw. Geisteskrankheit des Versicherten begehrt, so muss sie sich entgegenhalten lassen, dass es ihr unbenommen blieb, eine ihrer Ansicht nach ungerechtfertigte Scheidung ohne Verschulden wegen der genannten Tatbestände in einem Berufungsverfahren überprüfen zu lassen. Eine solche Überprüfung hat die Klägerin jedoch nicht durchführen lassen. Sie hat sich vielmehr mit einer Scheidung ohne Verschuldensausspruch entsprechend ihrem Hilfsantrag abgefunden.

13

Auch gegenüber der Fallgruppe, bei der beide Ehegatten Schuld an der Scheidung waren, aber keiner die überwiegende Schuld trug, bei der dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 EheG ein Unterhaltsbeitrag zustand, besteht ein hinreichender Differenzierungsgrund. In dem hier vorliegenden Fall, in dem ein Ehegatte die Scheidung aus einem der in §§ 44 bis 46 und 48 EheG aufgeführten Gründe begehrt, beruht jedoch das Scheidungsurteil nicht auf einem beiderseitigen Verschulden, sondern darauf, dass der eine Ehegatte die Scheidung veranlasst hat. In solch einem Fall sollte er nicht darauf spekulieren können, dass ihm daraus auch noch Unterhaltsansprüche gegen den Scheidungsbeklagten erwachsen (BSG SozR 3-2200 § 1265 RVO Nr. 8 (S. 42)).

14

Auch unter dem Gesichtspunkt des Art 6 GG ergeben sich keine verfassungs-rechtlichen Bedenken gegen die vom Gesetzgeber in den §§ 58, 60, 61 EheG vorgenommenen unterhaltsrechtlichen Differenzierungen (vgl. BSG a.a.O.).

15

Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf große Witwenrente nach § 243 Abs. 3 SGB VI zu, da sie einen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten nicht wegen Arbeitsentgeltes oder Arbeitseinkommens aus eigener Beschäftigung oder selbstständiger Tätigkeit oder entsprechender Ersatzleistungen oder wegen des Gesamteinkommens des Versicherten nicht hatte, sondern weil ihr ein solcher Anspruch nach den Regelungen des Ehegesetzes von vornherein nicht zustand.

16

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

17

Es liegt kein gesetzlicher Grund vor, die Revision zuzulassen.