Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 04.07.2003, Az.: L 13 SB 18/03
Begriff der Klagerücknahme; Aufhebung des nach Klagerücknahme erlassenen Gerichtsbescheids; Vorliegen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 04.07.2003
- Aktenzeichen
- L 13 SB 18/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20985
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0704.L13SB18.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 09.01.2003 - AZ: S 4 SB 19/01
Rechtsgrundlage
- § 102 S. 2 SGG
Tenor:
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 9. Januar 2003 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit erledigt ist.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist.
Bei dem 1932 geborenen Kläger war nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 anerkannt. Im November 1999 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung). Mit dem angefochtenen Bescheid vom 2. März 2000 stellte der Beklagte mit Wirkung ab dem 16. Februar 1999 einen GdB von 60 fest. Die Zuerkennung der beantragten Merkzeichen lehnte er ab. Dem dagegen erhobenen Widerspruch half der Beklagte nach Einholung eines versorgungsärztlichen Untersuchungsgutachtens vom 11. Juli 2000 insoweit ab, als mit Wirkung ab dem 16. Februar 1999 ein GdB von 80 festgestellt und die Merkzeichen "G" und "B" zuerkannt wurden (Teilabhilfebescheid vom 27. Oktober 2000). Im Übrigen wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2001).
Mit seiner am 22. Februar 2001 beim Sozialgericht (SG) Aurich erhobenen Klage hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" begehrt. Das SG hat ein Gutachten der Fachärztin für Innere Medizin Dr. H. vom 6. März 2002 eingeholt. Nachdem diese die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht als erfüllt angesehen hatte, hat der Kläger einen Befangenheitsantrag gegen die Sachverständige gestellt, der erfolglos geblieben ist (Beschlüsse des SG vom 8. Juli 2002 und des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen-Bremen vom 20. August 2002). Mit Verfügung vom 21. Oktober 2002 setzte das SG den Kläger davon in Kenntnis, dass eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt sei. Mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2002 teilte der Kläger dem Gericht daraufhin u.a. mit, er und seine zwischenzeitlich ebenfalls schwer erkrankte Ehefrau empfänden das "Hin und Her" und das Verhalten der Gutachterin als "Mobbing" und wünschten ein "Ende der bedrückenden Tortour". Wörtlich heißt es sodann:
"Wir wünschen nun unsere Ruhe und verzichten auf jegliche Weiterführung des Verfahrens."
Auf Nachfrage des Gerichts, ob es sich um eine Klagerücknahme handele, verwies der Kläger auf den Wortlaut seines Schreibens vom 31. Oktober 2002, in dem es heiße: "Beenden Sie die Tyrannei."
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Januar 2003 hat das SG die Klage unter Hinweis auf das Beweisergebnis als unbegründet abgewiesen, ohne auf die Frage einer evt. Klagerücknahme einzugehen. Gegen diese ihm am 23. Januar 2003 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 20. Februar 2003 Berufung eingelegt, mit der er sein bisheriges Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 9. Januar 2003 aufzuheben.
- 2.
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom März 2000 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 27. Oktober 2000 und Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2001 zu verurteilen, ab Antragstellung die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Prozessakte und die Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der Beratung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Mit dem Einverständnis der Beteiligten konnte das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die zulässige Berufung des Klägers ist insoweit begründet, als der angefochtene Gerichtsbescheid vom 9. Januar 2003 wegen eines Verfahrensmangels aufzuheben ist. Einer Sachentscheidung des SG stand eine kraft Gesetzes (§ 102 Satz 2 SGG) eingetretene Verfahrenserledigung entgegen. Aus diesem Grund ist auch der Senat gehindert, in der Sache zu entscheiden.
Die in dem Schriftsatz des Klägers vom 31. Oktober 2002 enthaltene Erklärung, wonach er auf jegliche Weiterführung des Verfahrens verzichte, stellt eine Klagerücknahme im Sinne des § 102 Satz 1 SGG dar. Die Klagerücknahme ist eine Prozesshandlung, mit der der Kläger seine Rechtsschutzbitte zurückzieht. Sie ist das Gegenstück zur Klageerhebung. Wesentlich ist der Klagerücknahme, dass der Kläger eine Entscheidung des Gerichts nicht mehr wünscht (Meyer-Ladewig, SGG, § 102 Rn. 2). Vorliegend hat der Kläger ausdrücklich auf jegliche Weiterführung des Verfahrens verzichtet, mithin auch auf eine verfahrensbeendende Entscheidung des Gerichts. Der Schriftsatz vom 31. Oktober 2002 kann nicht etwa so verstanden werden, dass der Kläger lediglich auf eine baldige Entscheidung des Gerichts ohne weitere Ermittlungen drängen wollte. Denn dieses hatte der Kläger weder zum Ausdruck gebracht noch lässt die fragliche Erklärung, die der Sache nach eindeutig ist, eine solche Auslegung zu.
Die danach erklärte Klagerücknahme konnte weder angefochten noch widerrufen werden (Meyer-Ladewig, SGG, § 102 Rn. 7c). Es kommt danach nicht darauf an, wie die Antwort des Klägers auf die Nachfrage des SG hinsichtlich einer möglichen Klagerücknahme zu verstehen ist. Im Übrigen hat der Kläger auch in seinem Antwortschreiben letztlich nichts anderes erklärt und lediglich auf den Wortlaut seines Schriftsatzes vom 31. Oktober 2002 verwiesen.
Durch die Klagerücknahme ist der Rechtsstreit kraft Gesetzes (§ 102 Satz 2 SGG) erledigt worden. Diese Verfahrenserledigung hat sich nicht dadurch "überholt«, dass das SG ohne Eingehen auf die Frage der Erledigung zur Sache entschieden hat. Neben den Beteiligten ist auch das Gericht an die Verfahrenserledigung gebunden (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Januar 1991, Az. 9 C 96/89, NVwZ-RR 1991, 443). Der nach Klagerücknahme noch erlassene Gerichtsbescheid ist nichtig und unterliegt daher der Aufhebung (Meyer-Ladewig, SGG, § 102 Rn. 9, § 125 Rn. 5b).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es besteht kein Anlass, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).