Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 17.07.2003, Az.: L 6 U 338/01
Meniskusschäden als Berufskrankheit; Prüfung ihrer beruflichen Verursachung einer Erkrankung; Arbeitsbedingte Belastung des Kniegelnkes bei der Tätigkeit eines Bodenverlegers; Ursächlicher Zusammenhang zwischen eines gesundheitlichen Schadens und einer belastenden Berufstätigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 17.07.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 338/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21085
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0717.L6U338.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - AZ: S 32 U 9/00
Rechtsgrundlage
- § 55 Abs. 1 Ziffer 3 SGG
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Bei der Prüfung der beruflichen Verursachung einer Erkrankung genügt der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit.
- 2.
Bei der Tätigkeit eines Bodenverlegers ist regelmäßig von einer überdurchschnittlichen Belastung der Kniegelenke auszugehen.
- 3.
Um einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem geundheitlichen Schaden und einer belastenden beruflichen Tätigkeit mit der im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen zu können, bedarf es medizinischer Gründe, die für einen solchen Zusammenhang sprechen.
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. August 2001 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Berufskrankheit (BK) Nr. 2102 der Anlage (Anl.) zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV - Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten).Der 1937 geborene Kläger beantragte im Oktober 1998 die Feststellung dieser BK, da er seit 1964 als Bodenleger im Betrieb seiner Ehefrau die Knie immer habe belasten müssen und deshalb operiert worden sei. Der Kläger gab an, die Beschwerden seien erstmals 1997 nach einem Leitersturz aufgetreten (Fragebogen vom 20. Oktober 1998, Krankheitsbericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. C. vom 16. Oktober 1998). Der Facharzt für Chirurgie Dr. D., den der Kläger im März 1998 aufgesucht hatte, diagnostizierte eine deutliche Verschleißumformung im Kniescheibengleitlager (Arztbrief vom 20. März 1998, Krankheitsbericht vom 19. Oktober 1998). Während einer stationären Behandlung wurde im April 1998 die Arthroskopie des rechten Kniegelenks durchgeführt. Diese ergab eine ausgeprägte Verschleißumformung im Kniescheiben-Oberschenkelrollengelenk. Der Knorpel an der seitlichen Kniescheibengelenkfläche fehlte. Im Bereich der Oberschenkelrolle fanden sich ebenfalls ausgeprägte Knorpelschäden. Die Kniescheibe glitt deutlich zur Seite. Des Weiteren bestand ein Korbhenkelriss des Innenmeniskus im hinteren Drittel, das teilweise entfernt wurde. Der Innenmeniskus wurde geglättet. Der Außenmeniskus war intakt (Operationsbericht vom 17. April 1998). Der behandelnde Arzt Dr. E. führte im Schreiben vom 5. Oktober 1998 aus, dass bei dem Kläger eine schwere Arthrose des Kniescheibengleitlagers bestehe. Bei der zusätzlich in der Arthroskopie gefundenen Innenmeniskusschädigung im Sinne eines hinteren Korbhenkelrisses handele es sich um degenerative Veränderungen, die üblicherweise vorkämen. Hinweise auf die BK Nr. 2102 seien nicht erkennbar. Demgegenüber nahm dieser Arzt im von der Beklagten angeforderten chirurgischen Gutachten vom 29. März 1999 eine BK an und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 50 vom Hundert. Anschließend veranlasste die Beklagte die Stellungnahme des Technischen Aufsichtsbeamten Dr. F. vom 16. Juni 1999. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, dass der Kläger nicht mindestens ein Drittel der Arbeitsschicht meniskusbelastend tätig gewesen sei. Dieser Wert werde als Anhaltspunkt für die Erfüllung der arbeits-technischen Voraussetzungen in der Fachliteratur für erforderlich gehalten. Mit dieser Begründung lehnte die Beklagte die Entschädigung der Knieerkrankung als BK ab (Bescheid vom 5. Juli 1999) und wies den Widerspruch nach Einholung der weiteren Auskünfte des Dr. F. vom 14. September 1999 und 20. Oktober 1999 zurück (Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 1999).Dagegen richtet sich die am 20. Januar 2000 vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhobene Klage, die der Kläger mit der erheblichen beruflichen Belastung begründet hat. Dagegen hat die Beklagte den Bericht des Dr. F. vom 4. Mai 2000 vorgelegt. Das SG hat durch Urteil vom 13. August 2001 festgestellt, dass es sich bei der Meniskuserkrankung des Klägers in beiden Kniegelenken um eine BK handele und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Entschädigungsleistungen zu gewähren: Nach dem Gutachten des Dr. E. bestehe eine Meniskusschädigung in beiden Kniegelenken. Diese sei wahrscheinlich wesentlich auf die berufliche Exposition als Bodenleger zurückzuführen. Der Kläger habe täglich 5 bis 6 Stunden in kniender bzw. hockender Stellung gearbeitet. Die Differenzierung kniebelastender Tätigkeiten in meniskusbelastende und nicht meniskusbelastende vermöge nicht zu überzeugen. Nach allgemeiner Lebenserfahrung belege schon der Selbstversuch der verschiedenen Hock- und Kniestellungen auch bei den von der Beklagten angenommenen nicht meniskusbelastenden Tätigkeiten eindeutig ein Anspannen im Meniskenbereich. Die schwere Femuropatellararthrose im rechten Kniegelenk spreche nicht gegen das Vorliegen einer BK.Gegen das ihr am 28. August 2001 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 14. September 2001 eingelegten Berufung. Sie hält an ihrer Auffassung fest, dass der Kläger nicht im erforderlichen Umfang meniskusbelastend tätig gewesen sei. Des Weiteren seien auch die medizinischen Voraussetzungen für die Feststellung der BK Nr. 2102 nicht erfüllt. Ein Meniskusschaden sei nur für das rechte Kniegelenk des Klägers dokumentiert und rechts bestehe eine schwere Femuropatellararthrose. Eine Auseinandersetzung mit den medizinischen Voraussetzungen zur Feststellung der BK sei im Gutachten des Dr. E. nicht erfolgt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. August 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. August 2001 zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und hat die körperliche Belastung als Bodenleger betont.Der Senat hat das Gutachten des Chirurgen-Unfallchirurgen G. vom 6. Mai 2003 eingeholt.Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.Dem Senat haben neben den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme, der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Denn die - hinsichtlich des Feststellungsantrags gemäß § 55 Abs. 1 Ziffer 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - zulässige Klage ist nicht begründet. Die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Entgegen der Auffassung des SG kann die BK Nr. 2102 der Anl. zur BKV nicht mit der im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung (UV) erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.Erfasst werden von dieser BK "Meniskusschäden", die voll, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein müssen. Nur bei der Prüfung ihrer beruflichen Verursachung genügt der Beweismaßstab der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche UV, Kommentar, § 8 Anm. 10). Gesichert ist ein Meniskusschaden im rechten Kniegelenk des Klägers. Demgegenüber ist ein vom SG angenommener Meniskusschaden auch im linken Kniegelenk nicht bewiesen. Zwar könnte nach den Ausführungen des im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen G. der Druckschmerz über dem inneren Gelenkspalt auf eine Meniskuserkrankung im linken Kniegelenk hindeuten. Eine Arthroskopie oder Kernspintomographie, die einen Meniskusschaden beweisen könnten, sind jedoch nicht durchgeführt worden (S. 16 des chirurgischen Gutachtens vom 6. Mai 2003). Auch im chirurgischen Gutachten vom 29. März 1999 beschreibt Dr. E. allein einen Innenmeniskusschaden des rechten Kniegelenks. Dieser ist jedoch nicht wahrscheinlich durch die berufliche Tätigkeit als Bodenverleger wesentlich (mit)verursacht worden.Allerdings scheitert die Feststellung der BK nicht schon an der Berechnung der Beklagten, nach der der Kläger nicht ein Drittel der Arbeitsschicht meniskusbelastend tätig gewesen sein soll. Zum einen kann die Tätigkeit des Klägers als Bodenleger den im Merkblatt zu der BK Nr. 2102 (BABl 2/1990, 134 f.) beispielhaft genannten und einer überdurchschnittlichen Belastung der Kniegelenke ausgesetzten Berufsgruppen, die von dieser BK erfasst werden sollen, zugerechnet werden (vgl. BSG SozR 3-5679 Art. 3 Nr. 2, siehe auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 708). Zum anderen - und das ist entscheidend - nimmt die Beklagte mit der Auffassung, meniskusbelastende Tätigkeiten müssten im Durchschnitt wenigstens während eines Drittels der täglichen Arbeitszeit verrichtet worden sein, um (generell) ursächlich für einen Meniskusschaden zu sein, einen allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz an, der so nicht besteht. Zwar hat Dr. F. in der Stellungnahme vom 16. Juni 1999 ausgeführt, dass sich "in der Fachliteratur für die erforderliche Belastungszeit die Angabe mindestens ein Drittel der Schicht" finde. Nähere, substantiierte Angaben darüber enthält seine Stellungnahme jedoch nicht. Die Forderung einer Gefährdungsgrenze müsste auf einer wissenschaftlichen Grundlage basieren und herrschende Auffassung unter den Fachwissenschaftlern sein (vgl. BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 16). Der Sachverständige G. (S. 18 des chirurgischen Gutachtens vom 6. Mai 2003) hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass tatsächlich eine Belastungsschwelle, die generell, statistisch signifikant mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden, und erst von der an ein beruflicher Zusammenhang im Einzelfall wahrscheinlich ist, nicht gesichert ist (vgl. auch Ludolph/Blome in: Ludolph/Lehmann/Schürmann, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, III-1.14.13.3, S. 3). Daraus folgt, dass der von der Beklagten angenommenen erforderlichen Belastungszeit von einem Drittel einer Arbeitsschicht die Grundlage fehlt.Die Feststellung einer BK nach Nr. 2102 ist im vorliegenden Fall jedoch deshalb nicht möglich, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Meniskusschaden und einer meniskusbelastenden Tätigkeit nicht wahrscheinlich ist. Um einen solchen Zusammenhang mit der im Recht der Gesetzlichen UV erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen zu können, bedarf es deshalb medizinischer Gründe, die für einen solchen Zusammenhang sprechen. Erschwert wird diese Kausalitätsbeurteilung dadurch, dass chronische Meniskuspathien schon anlagebedingt auftreten (vgl. das o. g. Merkblatt) und dass belastungsspezifische, strukturelle Reaktionen nicht entstehen, die auf ein berufstypisches Schadensbild hinweisen würden (Ludolph/Blome, a.a.O., S. 3, 5). Der Sachverständige G. (S. 22 ff. des chirurgischen Gutachtens vom 6. Mai 2003) hat darüber hinaus auf die epidemiologisch gesicherte Erkenntnis hingewiesen, dass Meniskusveränderungen in höherem Lebensalter verbreitet sind. Oft sind sie asymptomatisch, also nicht mit Beschwerden verbunden. NOBLE (1975) führt aus, dass in den Menisken älterer Menschen horizontale Risse häufig seien und dass man diesen Befunden keine allzu große Bedeutung beizumessen habe. Daraus hat der Sach-verständige die einleuchtende Schlussfolgerung gezogen, dass Voraussetzung der Feststellung einer wahrscheinlich wesentlich beruflichen (Mit)Verursachung ein Meniskusschaden ist, der über altersentsprechende Veränderungen hinausgeht. Dieses stimmt mit dem im o. g. Merkblatt mitgeteilten medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand überein, dass berufsbedingte Meniskuspathien früher auftreten als in der beruflich nicht belasteten Bevölkerung. Die Meniskusveränderungen, die in der Arthroskopie beim Kläger gefunden wurden, sind in diesem Lebensalter jedoch "extrem häufig". Schon deshalb kann eine berufliche (Mit)Verursachung nicht mit Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Im Übrigen ist die klinische Bedeutung dieses "harmlosen Innenmeniskushinterhornschadens" so gering, dass eine MdE - unabhängig von der Frage einer beruflichen Verursachung - nicht messbar ist. Ein Anspruch auf Verletztenrente besteht deshalb in keinem Fall.Diese Beurteilung stimmt mit der Stellungnahme des Dr. E. vom 5. Oktober 1998 überein. In ihr hat Dr. E. die schwere Verschleißerkrankung des Kniescheibengleitlagers hervorgehoben, die das Beschwerdebild des Klägers bestimmt. Des Weiteren geht aus der Stellungnahme vom 5. Oktober 1998 hervor, dass der Meniskusbefund nur beiläufig der Arthroskopie, - zufällig - erhoben wurde. Denn Dr. E. hat hervorgehoben, dass es sich bei der Innenmeniskusschädigung um übliche degenerative Veränderungen handelt. Hinweise auf eine BK sah er folgerichtig nicht. Weshalb er im chirurgischen Gutachten vom 29. März 1999 zu einer anderen Wertung gelangt ist, ist nicht nachzuvollziehen und von ihm auch nicht begründet worden. Seinen Ausführungen auf Seite 7 des Gutachtens ist zu entnehmen, dass er zu einem ursächlichen Zusammenhang allein wegen der Berufstätigkeit des Klägers gekommen ist. Damit hat er sich des rechtlich nicht zu-lässigen (vgl. BSG SozR 3-5679 Art. 3 Nr. 1, siehe auch Schönberger u.a., a.a.O., S. 711 m.w.N.) Anscheinsbeweises bedient. Soweit Dr. E. meint, die Arthrose im Kniescheibengelenk "könnte ein weiterer Ausdruck dieser jahrzehntelangen knienden Tätigkeit sein", bewegt er sich im Spekulativen. Vielmehr besteht nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen G. ein angeborener Hochstand beider Kniescheiben, der zwangsläufig zu Verschleißerscheinungen führt (S. 15 des chirurgischen Gutachtens vom 6. Mai 2003).