Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 22.07.2003, Az.: L 1 RA 94/02
Höhe der Altersrente für Schwerbehinderte; Inflationsausgleich anhand der Veränderung des Preisindex; Anpassung um Veränderungsrate der Lohn- und Gehaltsentwicklung; Vorliegen einer Regelung/ Anwendung oder Mitteilung einer Vorgabe; Eigentumsschutz bei sozialversicherungsrechtlichen Positionen; Grenzen des Übermaßverbotes; Garantie des Teilhaberechts
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 22.07.2003
- Aktenzeichen
- L 1 RA 94/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 19992
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0722.L1RA94.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - AZ: S 14 RA 63/01
Rechtsgrundlagen
- § 255 c SGB VI a.F.
- Art. 14 GG
- Art. 2 Abs. 1 GG
- Art. 3 Abs. 1 GG
Redaktioneller Leitsatz
Der grundgesetzliche Eigentumsschutz umfasst bei sozialversicherungsrechtlichen Positionen solche Vermögenswerte, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger privatnützig zugeordnet sind.
Die Rentenanpassungen gehören deshalb zu den grundgesetzlich geschützten Eigentumspositionen, weil die Funktion der Renten und die durch sie vermittelte soziale Sicherung ins Leere laufen würden, wenn es sie nicht gäbe.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Rentenanpassung zum 1. Juli 2000.
Der 1939 geborene Kläger, der zuletzt als Gesundheitsaufseher beim Landkreis Hildesheim arbeitete und der seit Mai 1992 als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 v.H. anerkannt ist, erhielt von der Beklagten mit dem Bescheid vom 30. Juli 1999 für die Zeit ab dem 1. September 1999 Altersrente für Schwerbehinderte/Erwerbsunfähige bzw. Berufsunfähige. Zum 1. Juli 2000 erhöhte die Beklagte die Rente in Anwendung der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Vorschrift des § 255 c Sozialgesetzbuch - SGB - VI (Einfügung in das SGB VI durch das Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushalts, Haushaltssanierungsgesetz - HSanG - vom 22. Dezember 1999, Bundesgesetzblatt I S. 2534) lediglich um das Verhältnis, in dem der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte im vergangenen Kalenderjahr vom Preisindex für das vorvergangene Kalenderjahr abwich. Gemäß der - nicht mit einem Datum versehenen - Anpassungsmitteilung veränderte sich der bisher auszuzahlende Monatsbetrag von 2.338,69 DM auf nunmehr 2.355,29 DM.
Der Kläger widersprach und verlangte, die seiner Auffassung nach verfassungswidrige Neuregelung außer Betracht zu lassen und die Anpassung - wie in den vergangenen Jahren auch - entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung nach § 68 SGB VI vorzunehmen. Die von der Beklagten angewandte Neuregelung entwerte sein dem Eigentumsschutz unterliegendes und mit seinen Beiträgen erworbenes Recht auf Rentenzahlungen in angemessener Höhe.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch den Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2001 zurück. Sie führte zur Begründung aus, die Rentenversicherungsträger seien an die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Anpassungssätze gebunden.
Dagegen hat der Kläger am 8. März 2001 Klage zum Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Zur Begründung hat er weiter gehend vorgetragen, der Klärung der Frage, ob die Rentenanpassung von der Lohn- und Gehaltsentwicklung abgekoppelt werden dürfe, komme grundsätzliche Bedeutung zu. Er könne sich jedoch nicht damit einverstanden erklären, den Rechtsstreit im Hinblick auf parallele Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) ruhen zu lassen.
Das SG hat die Klage durch sein Urteil vom 10. April 2002 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die - vom Kläger rechnerisch nicht beanstandete - Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 um den Inflationsausgleich anstatt entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung entspreche der Maßgabe des Gesetzgebers. Die Regelung sei vor dem Hintergrund zu verstehen, auch die Rentner an der solidarischen Anstrengung zu beteiligen, die Altersvorsorge langfristig zu sichern. Angestrebt werden müsse u.a., die zusätzlichen Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung abzusenken und den Beitragssatz zur Rentenversicherung zumindest zu stabilisieren. Das Rentenniveau werde von derzeit rund 70 % bis 2003 auf rund 67 % abgesenkt (Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung in der Bundestagsdrucksache 14/1636 S. 210). Gegen das Eigentumsgrundrecht verstoße die Regelung nicht, weil dem Gesetzgeber bei Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums und besonders angesichts des sozialen Bezuges der rentenversicherungsrechtlichen Positionen eine weite Gestaltungsfreiheit zukomme. Da die Belastung von Personen wie dem Kläger dazu diene, die gegenwärtig das Rentenversicherungssystem finanzierenden Beitragszahler zu entlasten, beachte der Gesetzgeber die Sozialbindung des Eigentums. Auch ein Verstoß gegen den Gleichheits-Satz liege nicht vor.
Dagegen richtet sich der Kläger mit seiner am 10. Mai 2002 eingegangenen Berufung. Zu deren Begründung wiederholt er seinen bisherigen Vortrag.
Der Kläger beantragt nach seinem Vorbringen im schriftlichen Verfahren,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. April 2002 aufzuheben und die Anpassungsmitteilung der Beklagten ohne Datum in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2001 abzuändern, sowie
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, die Altersrente des Klägers zum 1. Juli 2000 entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung (§ 68 Sozialgesetzbuch - SGB - VI) anzupassen und die Sondervorschrift des § 255 c SGB VI (Anpassung entsprechend der Änderung des Preisindexes) nicht anzuwenden.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt, dass der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten der Beklagten verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die nach den §§ 143 f Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise übereinstimmend einverstanden erklärt hatten, §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -.
Das angefochtene Urteil des SG erweist sich nicht als rechtswidrig. Der Rentenanpassungsbescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2001 ist nicht zu beanstanden. Der Kläger kann von der Beklagten nicht verlangen, seine Altersrente für Schwerbehinderte nachträglich zum 1. Juli 2000 um die Veränderungsrate der Lohn- und Gehaltsentwicklung statt lediglich um einen an der Veränderung des Preisindexes orientierten Inflationsausgleich anzupassen.
Die Zurückweisung der Berufung folgt nicht schon aus einer etwaigen Unzulässigkeit der Klage. Dies könnte unter dem Gesichtspunkt angenommen werden, dass es sich bei der jährlich zum 1. Juli erfolgenden Rentenanpassung nicht um eine Regelung (als Element eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X), sondern lediglich um die Mitteilung einer bereits durch Gesetz bzw. Verordnung (seit dem 1. Juli 1997 erfolgen die Rentenanpassungen nicht mehr durch Gesetz, sondern durch eine mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassende Rechtsverordnung der Bundesregierung, vgl. § 69 SGB VI) bestimmten Vorgabe handelt. Tatsächlich ist die Rentenanpassung durch die deutsche Post als "Rentenservice" nicht nur eine Mitteilung, vielmehr handelt es sich um eine von der Beklagten zu vertretende Anwendung der Verordnung (im vorliegenden Sonderfall für das Jahr 2000 Anwendung des Gesetzes, nämlich des § 255 c SGB VI) auf den jeweiligen Versicherten. Im Falle des Klägers zeigt sich dies daran, dass der neue Zahlbetrag in Höhe von 2.355,29 DM erst der Anpassungsmitteilung und nicht schon dem Gesetz zu entnehmen ist. So haben es die Beteiligten auch verstanden. Denn die Beklagte hat auf den Widerspruch des Klägers sogleich den Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2001 erlassen.
Die Beklagte hat die Regelung des § 255 c SGB VI (in der Fassung des Art. 22 des HSanG; für die Zeit ab dem 23. März 2001 - und damit entgegen dem bisherigen Gesetzeszustand für die Rentenanpassung 2001 - geändert durch Art. 1 des Altersvermögensergänzungsgesetzes vom 21. März 2001, Bundesgesetzblatt I S. 403: nunmehr Bestimmung des aktuellen Rentenwertes nach den §§ 68, 255 e SGB VI unter Einbeziehung des Altersvorsorgeanteils) zutreffend umgesetzt. Dagegen richtet sich auch keiner der Einwände der Klägerseite.
Die Berufung hat aber auch nach verfassungsrechtlicher Prüfung der von der Beklagten angewendeten Regelung keinen Erfolg. § 255 c SGB VI verstößt nicht gegen Art. 14 Grundgesetz (GG) und auch nicht gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG. Das hat das Bundessozialgericht ausdrücklich in seinen Urteilen vom 31. Juli 2002 entschieden (Az: B 4 RA 120/00 R sowie 125/00 R). Folgende Erwägungen sind dafür maßgebend:
Der Eigentumsschutz des Art. 14 GG umfasst bei sozialversicherungsrechtlichen Positionen solche Vermögenswerte, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger privatnützig zugeordnet sind. Diese Rechtspositionen genießen dann den Schutz einer Eigentumsgarantie, wenn sie auf nicht unerheblicher Eigenleistung des Versicherten beruhen und zudem der Sicherung seiner Existenz dienen (Leitsatz BVerfGE 69, 272). Die Rentenanpassungen gehören deshalb zu den grundgesetzlich geschützten Eigentumspositionen, weil die Funktion der Renten und die durch sie vermittelte soziale Sicherung ins Leere laufen würden, wenn es sie nicht gäbe. Mit einem lediglich statischen Rentenzahlbetrag würde das erworbene Stammrecht gerade bei längerer Bezugsdauer von der - auch für die Zukunft zu unterstellenden - Inflation aufgezehrt. Darüber hinaus würden sich die verfügbaren Einkommen der aktiven Versicherten und der Rentner immer weiter auseinander entwickeln - eine über der Inflationsrate liegende Einkommensentwicklung vorausgesetzt.
Die hier in Rede stehende Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 berührt somit zwar das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG, verletzt es aber nicht. Dem Gesetzgeber stand nämlich der sachliche Grund zur Seite, das Altersrentensystem den sich ändernden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen anzupassen, insbesondere der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung. Er hatte dabei im Auge, dass auch die Rentner an der solidarischen Anstrengung der ganzen Gesellschaft zu beteiligen waren und sind, die Altersvorsorge langfristig zu sichern (vgl. Bundestags-Drucksache 14/1636, S. 210). Mit der Sparmaßnahmen sollte - wie bereits das SG zutreffend erwähnt hat - der zusätzliche Bundeszuschuss an die Rentenversicherung abgesenkt und auch der Beitragssatz zur Rentenversicherung abgesenkt bzw. wenigstens stabilisiert werden. Langfristig gelte es, das Rentenniveau auf rund 67 % der Einkommen zu begrenzen (Bundestags-Drucksache aa0).
Die somit einem Gemeinwohlzweck dienende geringere Inflationsanpassung hielt sich darüber hinaus in den Grenzen des mit der materiellen Eigentumsgarantie verbundenen Übermaßverbotes. Denn die Differenz zwischen der Inflationsanpassung und einer - fiktiven - Anpassung auch im Jahre 2000 nach der Einkommensentwicklung lag lediglich bei 0,8 % in den alten und 1,6 % in den neuen Bundesländern. Für den Standardrentner (2.186,10 DM; in den neuen Bundesländern 1.901,70 DM) ergab sich eine um knapp 18,00 DM niedrigere Rentenanpassung (alte Bundesländer; für die Rentner in den neuen Bundesländern eine um knapp 30,00 DM niedrigere Anpassung). Abgesehen von der der Höhe nach begrenzten Auswirkung des § 255 c SGB VI muss der Kläger die eingeschränkte Rentenanpassung auch deshalb hinnehmen, weil die Teilhabe der Rentner an der Einkommensentwicklung vorrangig nur auf die Sicherung des realen Geldwertes abzielt.
Ob eine grundrechtsrelevante und möglicherweise sogar das Übermaßverbot verletzende Eigentumsbeeinträchtigung dann anzunehmen wäre, wenn der Gesetzgeber die Renten dauerhaft von der Einkommensentwicklung der aktiven Versicherten abkoppeln und den hier nur einmalig erfolgten niedrigeren Inflationsausgleich verstetigen würde, brauche nicht entschieden zu werden (vgl. dazu Ruland, DAngVers. 2000, S. 169, 175; zum Ganzen Verbandskommentar zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, § 255 c SGB VI Rdnr. 3; Stahl in: Hauck/Haines, Kommentar zum SGB VI, § 255 c SGB VI Rdnrn. 3-5 sowie 8-11; zum Schutzbereich des Art. 14 GG sowie der Befugnis des Gesetzgebers, Rentenansprüche und -anwartschaften zu beschränken BVerfG-Urteil vom 28. April 1999, Az: 1 BvL 32/95 sowie BSG aa0).
Das durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG garantierte Teilhaberecht ist ebenfalls nicht verletzt. Der Gesetzgeber besitzt bei der Ausgestaltung des Sicherungsniveaus und der Maßstäbe für die Wertfortschreibung der Renten Spielräume. Er hat u.a. unterschiedliche Gemeinwohlbelange und zum Teil gegenläufige Grundrechtspositionen zum Aus-gleich zu bringen. Er hat nicht nur auf das Verhältnis zwischen Vorleistung und Rentenhöhe Bedacht zu nehmen, sondern auch auf die Frage, ob die nachrückende Generation in überschaubarer Zukunft ihrerseits Renten in entsprechender Höhe wird erhalten können. Durch die Inflationsanpassung sind die Teilhabepositionen der Rentenberechtigten jedenfalls unter Einbeziehung der Interessen der Beitragszahler nicht unverhältnismäßig verkürzt worden (vgl. näher BSG aa0).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision lagen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG. Zwar betrifft die Frage der Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle, der Senat hält die Rechtslage jedoch auf Grund der bereits vorliegenden Rechtsprechung des BSG für geklärt.