Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 03.07.2003, Az.: L 5 VG 2/03
Feststellung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit; Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Rechtsverfolgung wegen eines Anspruches auf Opferentschädigung; Gewährung von Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 03.07.2003
- Aktenzeichen
- L 5 VG 2/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 20983
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0703.L5VG2.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - AZ: S 7 VG 3/97
Rechtsgrundlagen
- § 1 OEG
- § 30 Abs. 2 BVG
- § 73a SGG
- § 144 ZPO
- § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Eine beantragte Prozesskostenhilfeleistung für die Durchführung einer Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren wegen eines Anspruches auf Opferentschädigung ist abzulehnen, wenn sich nach dem Stand der medizinischen Ermittlungen nicht die Feststellung wird treffen lassen, dass der Berufungskläger an Gesundheitsstörungen als Folge einer Gewalttat leidet, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung damit keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Tenor:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung der Berufung wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Mit der Berufung wendet sich der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Hildesheim vom 4. Juli 2000. Das SG hat die Klage abgewiesen, die der Kläger mit dem Ziel erhoben hatte, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. über die Zeit vom 31. Oktober 1995 hinaus (statt einer MdE um 60 v.H. ab diesem Zeitpunkt) festzustellen.
Der am 12. Dezember 1949 geborene Kläger erlitt am 23. Oktober 1992 Schussverletzungen. Ein Täter konnte nicht ermittelt werden.
Nachdem zunächst im Schwerbehindertenverfahren auf der Grundlage eines Untersuchungsgutachtens der Frau Dr. F. vom 9. Juli 1993 unter Heranziehung weiterer ärztlicher Unterlagen ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 festgestellt worden war (Bescheid vom 5. August 1993), beantragte der Kläger zu Beginn des Jahres 1994 die Feststellung von Ansprüchen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Das Versorgungsamt (VA) zog den Arztbrief des Kreiskrankenhauses G. vom 5. Juli 1993 bei und holte ein thorax- und gefäßchirurgisches Untersuchungsgutachten der Prof. Dres. H. 15. März 1995 ein. Auf dieser Grundlage stellte es mit Bescheid vom 16. Mai 1995 eine MdE um 50 v.H. gemäß § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab 1. Januar 1994 auf Grund schädigender Einwirkungen im Sinne der Entstehung gemäß § 1 OEG fest:
Eine Entscheidung über die besondere berufliche Betroffenheit im Sinne von § 30 Abs. 2 BVG wurde angekündigt (ist bisher aber formell nicht getroffen). Auf den am 6. Juni 1995 eingegangenen Widerspruch holte das VA ein Untersuchungsgutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. I. vom 8. Februar 1996 ein, und stellte mit Bescheid vom 1. Oktober 1996 ab 1.Januar 1994 eine MdE um 70 v.H. nach § 30 Abs. 1 BVG mit den nachfolgenden Schädigungsfolgen im Sinne der Entstehung fest:
- 1.
Teillähmung des linken Armnervenplexus mit Gebrauchsbehinderung der linken Hand und des Unterarmes.
- 2.
Relative Durchblutungsminderung des linken Armes nach traumatischer Schädigung der linken Schulterarterie mit Zwischenschaltung einer Gefäß-Kunststoffprothese.
- 3.
Multiple Narbenbildung des Brustkorbes nach Schussverletzung.
- 4.
Vernarbung der Lunge mit Verschwartung beider Zwerchfell-Rippenwinkel.
- 5.
Knochennarben des 8. Brustwirbelkörpers nach Vorderkantenabsprengung
- 6.
Psycho-reaktive Störungen.
Mit Wirkung vom 1. November 1995 wurde eine MdE um 60 v.H. festgestellt, weil die Schädigungsfolge zu 6. entfiel.
Der weiter gehende Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1997).
Mit der am 10. Februar 1997 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er könne nicht hinnehmen, dass die psycho-reaktiven Störungen als Schädigungsfolge ab 1. November 1995 entfallen seien.
Das SG hat Befundberichte des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. J. und des Nervenarztes Dr. K. eingeholt und Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 12. Juni 1998. Dr. L. hat ausgeführt, dass die jetzt noch feststellbare psycho-reaktive Störung Folge der sozialen Problematik, aber nicht Schädigungsfolge sei.
Dem Gutachten folgend hat das SG durch Urteil vom 4. Juli 2000 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass über den 31. Oktober 1995 hinaus "psycho-reaktive Störungen" als Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG nicht mehr vorlägen. Die angefochtenen Bescheide hätten die MdE um 60 v.H. ab 1. November 1995 zutreffend nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) festgestellt.
Gegen das am 10. August 2000 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 24. August 2000 eingegangenen Berufung, mit der er sein erstinstanzliches Vorbringen vertieft. Im Hinblick auf einen von dem Kläger für vorrangig erklärten Verschlimmerungsantrag wurde durch Beschluss vom 16. April 2002 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Mit Schriftsatz vom 1. November 2002 begehrte der Kläger die Fortsetzung des Berufungsverfahrens und wies am 10. Dezember 2002 darauf hin, der Verschlimmerungsantrag möge zurückgestellt werden.
Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe (PKH) für die Anträge:
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. Juli 2000 aufzuheben und den Bescheid vom 1. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1997 zu ändern,
- 2.
"psycho-reaktive Störungen" über den 1. November 1995 hinaus weiterhin als Schädigungsfolgen festzustellen,
- 3.
den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Beschädigtenversorgung über den 31. Oktober 1995 hinaus nach einer MdE um 70 v.H. gemäß § 30 Abs. 1 BVG zu zahlen.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge liegen die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten (Az: 6200727) sowie die Schwerbehinderten-Akten (Az: 3314254-28610) des VA M. und die Akte S 14 VS 226/95 SG Hildesheim vor.
II.
Die beantragte PKH für die Durchführung der Berufung ist abzulehnen. Der Kläger mag zwar PKH-bedürftig sein, jedoch verspricht die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Zivilprozessordnung (ZPO). Denn nach dem Stand der medizinischen Ermittlungen wird sich die Feststellung, dass der Kläger über den 31. Oktober 1995 hinaus an psycho-reaktiven Störungen als Folge der Gewalttat vom 23. Oktober 1992 leidet, nicht treffen lassen. Auch wird die Feststellung der MdE um 60 v.H. ab 1. November 1995 nicht zu beanstanden sein.
Die vom Kläger gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG begehrte Feststellung der psycho-reaktiven Störungen als bleibender Schaden der Gewalttat ist zulässig, aber nicht begründet. Zur Vermeidung überflüssiger Wiederholungen nimmt der Senat auf die Ausführungen des SG Bezug. Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen: Die erforderliche insbesondere Wahrscheinlichkeit des fortgesetzten ursächlichen Zusammenhangs zwischen psycho-reaktiven Störungen und der gegen den Kläger verübten Gewalttat wird sich nicht bejahen lassen. Denn es spricht nicht mehr für einen solchen Zusammenhang als dagegen. Zwar hat der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. J. in seinem erstinstanzlich vorgelegten Attest vom 21. März 1995 den Kläger als vor dem Überfall psychisch gesund bezeichnet. Diese Aussage wird indes wesentlich erschüttert durch das Ergebnis der übrigen medizinischen Ermittlungen. Schon der Neurologe und Psychiater Dr. I. hat in dem Untersuchungsgutachten vom 8. Februar 1996 einen weit gehend unauffälligen psycho-pathologischen Befund erhoben, allerdings eine leicht hyperthyme Stimmungslage festgestellt. Diese ist damit begründet, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt eine Beschäftigung gefunden hatte, die er aber aus nicht in seiner Person liegenden Gründen nicht dauerhaft ausüben konnte. Gleichzeitig hatte der Sachverständige den Verdacht auf eine phasische beziehungsweise bipolare endogene Psychose geäußert, der sich auf Erkenntnisse stützte, die sich aus den im Zusammenhang mit der Straftat geführten Ermittlungen über das Leben des Klägers vor dem tätlichen Angriff ergaben. Die schon für frühere Zeiten berichteten Panikattacken, Schlafstörungen, Depressionen, Angst/Unruhe und Todeswünsche vermochte dieser Sachverständige nicht in den Zusammenhang mit der Schussverletzung zu stellen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren darüber hinaus die Panikzustände, Ängste und Schlafstörungen weit gehend abgeklungen. Im Unterschied dazu erhob der erstinstanzliche Sachverständige Dr. L. in seinem Gutachten vom 12. Juni 1998 zwar einen veränderten psycho-pathologischen Befund, welcher ein jetzt verstärkt depressives Erleben zeigte. Der Sachverständige hat dies auf die jetzige Arbeitslosigkeit des Klägers zurückgeführt, klassische Symptome einer den Schluss auf eine Schädigungsfolge ermöglichenden posttraumatischen Belastungsstörung indes nicht registrieren können. Eine wesentliche psychiatrische Störung als Schädigungsfolge vermochte der Sachverständige nicht festzustellen. Insoweit ist der in der Fachklinik für Rheuma und Rehabilitation N. im Abschlussbericht vom 23. April 1998 angesprochene Umstand vom Kläger geäußerter Verfolgungsängste inhaltlich sachverständig bewertet. In dem für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstatteten Untersuchungsgutachten vom 24. April 2002 hat der Neurologe und Psychiater Dr. O. zur Erhebung des Befundes ausgeführt, dass das psycho-pathologische Bild eher einer neurotischen Depression mit Verstimmungs- und Angstanteilen ähnelt als etwa einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Auch die Bewertung der MdE um 60 v.H. ab 1. November 1995 wird nicht zu beanstanden sein. In dem zuletzt genannten Untersuchungsgutachten hat Dr. O. ausgeführt, die Leistungsfähigkeit des Klägers sei weder gefährdet noch beeinträchtigt. Im Befundbericht vom 17. Februar 2002 hat der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. J. die Hauptbeschwerden des Klägers zurzeit als psychischer Natur bezeichnet. Dr. I. hat im Untersuchungsgutachten vom 8. Februar 1996 festgestellt, dass die zunächst hochgradige Armplexusschädigung durch Reinnervation gebessert ist. Die vom oberen Armplexus versorgte Muskulatur war in den Funktionen nur noch leicht, die vom unteren Armplexus versorgte Muskulatur leicht- bis mittelgradig beeinträchtigt. Es zeigten sich Restparesen und Atrophien an der linken Hand. Im Zusammenhang mit dem thorax- und gefäßchirurgischen Untersuchungsgutachten vom 15. März 1995 der Prof. Dres. H., die eine MdE um 30 v.H. von thorax- beziehungsweise gefäßchirurgischer Seite für richtig halten, erweist sich die Gesamt-MdE zutreffend mit einem Wert um 60 v.H. Aus dem vom Kläger überreichten Arztbrief des Zentrums Chirurgie der Klinik- und Poliklinik für Thorax- Herz- und Gefäßchirurgie des Herzzentrums P. vom 31. März 2003 ergibt sich eine stetige, wenn auch langsam voranschreitende Besserung der Durchblutungsminderung. In dem von der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität P. in der Zeit vom 9. Mai bis 24. Mai 2002 erhobenen Befund zeigte sich elektromyographisch eine untere Plexusläsion des linken Armes mit leichten Paresen der linken Hand bei regelrechter Kraftentfaltung im Übrigen. Das Befundbild ergibt keine Verschlimmerung der durch den Bescheid vom 1. Oktober 1996 festgestellten Schädigungsfolge zu 1., weil jedenfalls eine Schädigung des Oberarmplexus nicht mehr befundet ist.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.