Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 02.07.2003, Az.: L 1 RA 17/03

Rentenbeginn der Regelaltersrente ab Antragsstellung; Betreiten mit Nichtwissen hinsichtlich Zugang eines behördlichen Hinweisschreibens; Nachweis der Erfüllung von Beratungspflichten; Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch; Aufklärungspflichten des Rentenversicherungsträgers

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
02.07.2003
Aktenzeichen
L 1 RA 17/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19927
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0702.L1RA17.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 20.12 2002 - S 14 RA 245/00

Redaktioneller Leitsatz

Nach dem Wertungsmodell des § 4 Abs. 2 VwZG kann ein unsubstantiiertes Bestreiten zum Zugang eines Hinweisschreibens nicht ausreichend sein, um den Sachvortrag einer Behörde zu erschüttern.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten den früheren Rentenbeginn der ihr als (Sonder)-Rechtsnachfolgerin gezahlten Regelaltersrente (RAR) nach ihrem verstorbenen Ehemann, und zwar statt einem Rentenbeginn nach Rentenantragstellung (in 1999) nunmehr einen Rentenbeginn nach der bereits früher eingetretenen Vollendung des 65. Lebensjahres (1998).

2

Die Klägerin ist die Witwe des am 14. August 1933 geborenen und inzwischen verstorbenen Rechtsanwalts und Notars V (Versicherter). Der Versicherte hatte seit 1964 eine Rechtsanwalts- und Notarskanzlei, zum Teil mit mehreren Rechtsanwälten, betrieben. Am 14. August 1998 hatte er sein 65. Lebensjahr vollendet, jedoch keinen Antrag auf Regelaltersrente bei der Beklagten gestellt und auch keine sonstigen Leistungen wegen Alters in Anspruch genommen, namentlich auch nicht aus einer berufsständischen Altersversorgung. Die Rechtsanwalts- und Notarstätigkeit hatte er fortgesetzt. Am 18. August 1998 hatte die Beklagte ein Hinweisschreiben an den Versicherten erstellt, in dem sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass eine RAR nach Vollendung des 65. Lebensjahres beantragt werden könne und welche Rechtsfolgen sich bei einer späteren Antragstellung nach § 99 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ergäben, insbesondere ein entsprechend späterer Rentenbeginn. - Der Zugang dieses Hinweisschreibens beim Versicherten ist unter den Beteiligten streitig.

3

Etwa ein Jahr später und kurz vor dem Tod des Versicherten beantragte dessen Sohn bei der Beklagten formlos die RAR namens des Vaters (Schreiben vom 16. August 1999, Eingang bei der Beklagten am 17. August 1999). Am 25. August 1999 verstarb der Versicherte.

4

Ein auf die formlose Antragstellung von der Beklagten übersandter Formvordruck wurde zunächst nicht zurückgesandt, woraufhin die Beklagte die Bewilligung der RAR mit Bescheid vom 3. Januar 2000 wegen fehlender Mitwirkung ablehnte.

5

Nach erfolgter Nachholung (in Gestalt des Formvordrucks für Hinterbliebenen-Renten) und nach weiteren Ermittlungen bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 11. August 2000 die RAR zugunsten der Klägerin als (Sonder-)Rechtsnachfolgerin, beschränkte aber die Bewilligung auf den Rentenmonat August 1999 (Zahlbetrag: 282,06 DM) und führte zur Begründung im Einzelnen aus, dass der Rentenantrag nicht spätestens am Ende des dritten Monats nach Vollendung des 65. Lebensjahres des Versicherten beantragt worden sei; dann aber dürfe gem. § 99 SGB VI die RAR erst ab dem Monat der Antragstellung (bis zum Tod des Versicherten) gezahlt werden. Mit weiterem Bescheid wurde der Klägerin große Witwenrente bewilligt.

6

Die Klägerin erhob Widerspruch und machte geltend, dass der Versicherte nicht um die Notwendigkeit einer fristgerechten Antragstellung gewusst habe.

7

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. November 2000 und der Begründung zurück, dass alle Hinweise zur Fristwahrung in dem Aufklärungsschreiben vom 18. August 1998 enthalten gewesen seien, das maschinell gefertigt und abgesandt worden sei. Das Schreiben sei auch zugegangen, da ein Postrücklauf nicht zu verzeichnen gewesen sei.

8

Mit ihrer hiergegen am 13. Dezember 2000 vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhobenen Klage hat die Klägerin den Zugang des Hinweisschreibens vom 18. August 1998 mit Nichtwissen bestritten und die Auffassung vertreten, dass es der Beklagten - und nicht ihr - obliege, den Nachweis einer ausreichenden Erfüllung ihrer Beratungspflicht nach § 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu führen. Da die Beklagte diesen Nachweis nicht führen könne, sei der Klägerin die Rentenzahlung aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches rückwirkend ab dem Monat der Vollendung des 65. Lebensjahres des Versicherten (im August 1998) zuzusprechen. Auf Anfrage des SG hat der Sohn der Klägerin, der gleichzeitig ihr Prozessbevollmächtigter in diesem Rechtsstreit ist, vorgetragen, dass sein Vater während der gemeinsamen Praxiszeit kein sozialrechtliches Mandat geführt und deshalb auch nicht um die Notwendigkeit einer Rentenantragstellung ab Vollendung des 65. Lebensjahres gewusst habe. Das SG hat nach Beiziehung der Verwaltungsakte der Beklagten die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. Dezember 2002 abgewiesen und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt: Eine Rentenzahlung für den Monat August 1998 scheitere bereits an der Vorschrift des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, da die Rente erst ab dem Monat nach Vollendung des 65. Lebensjahres beginnen dürfe und der Versicherte erst im August Geburtstag gehabt habe. Aber auch für die Zeit ab September 1998 stehe kein Rentenanspruch zu, weil die Voraussetzungen der den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch konkretisierenden Vorschrift des § 115 Abs. 6 SGB VI nicht erfüllt seien. Es sei bereits zweifelhaft, ob die Vorschrift im Fall des Versicherten ihrem Sinn und Zweck nach überhaupt anwendbar sei. Denn dem Versicherten dürfte aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt, der zudem gelegentlich vor dem SG aufgetreten sei, die Notwendigkeit einer Rentenantragstellung bekannt gewesen sein. § 115 Abs. 6 SGB VI bezwecke jedoch den Schutz von nicht ausreichend informierten Versicherten gegenüber den Wirkungen des Antragsprinzips. Die unterlassene Antragstellung des Versicherten sei daher als dessen persönliche Entscheidung zu bewerten, seine Anwalts- und Notarstätigkeit über das 65. Lebensjahr hinaus fortzusetzen. Doch selbst bei Anwendbarkeit des § 115 Abs. 6 SGB VI im Fall des Versicherten lägen jedenfalls dessen Voraussetzungen nicht vor. In der beigezogenen Verwaltungsakte sei die maschinelle Erstellung und Absendung des Hinweisschreibens vom 18. August 1998 als Datensatz dokumentiert. Dies sei angesichts der Menge der von dem Rentenversicherungsträger zu fertigenden Schreiben legitim. Auch sei ein Postrücklauf nicht in der Akte verzeichnet. Bei dieser Sachlage reiche das bloße Bestreiten mit Nichtwissen des Zuganges durch die Klägerin nicht aus, um den Beklagtenvortrag zu erschüttern. Außerdem komme es auf das Bestreiten der Klägerin in Person nicht an, da der Zugang bei dem verstorbenen Ehemann maßgeblich sei.

9

Gegen den ihr am 7. Januar 2003 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 27. Januar 2003 eingegangene Berufung der Klägerin, die diese nicht weiter begründet hat.

10

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 20. Dezember 2002 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 11. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2000 abzuändern,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, die Regelaltersrente des Versicherten V auch für die Zeit von August 1998 bis Juli 1999 an die Klägerin zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf den Gerichtsbescheid des SG.

13

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

15

Der Senat konnte gem. §§ 153 Abs.1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt haben.

16

Die gem. §§ 143f. SGG statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.

17

Weder der Gerichtsbescheid des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der Rente bereits ab August 1998. Der Rentenbeginn im August 1999 entspricht vielmehr der Sach- und Rechtslage.

18

Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, richtig angewendet, den Vortrag der Beteiligten und den Inhalt der Verwaltungsakte zutreffend gewürdigt und ist nach alledem zu dem auch für den erkennenden Senat überzeugenden Ergebnis gekommen, dass die RAR gem. § 99 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VI erst ab dem Monat August 1999 geleistet werden durfte, und die Beklagte ihrer (etwaig) bestehenden Aufklärungspflicht gem. § 115 Abs. 6 SGB VI genüge getan hat. Wegen der näheren Einzelheiten der Begründung nimmt der Senat gem. § 153 Abs. 2 SGG zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheides (Seite 4, 3.Absatz, bis Seite 6, 1. Absatz).

19

Nur ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen:

20

Zweifelhaft kann erscheinen, ob die Aufklärungspflicht der Rentenversicherungsträger gem. § 115 Abs. 6 SGB VI sich überhaupt auf Fälle wie den vorliegenden erstrecken sollte. In Teilen von Rechtsprechung und Kommentatur wird gefordert, die generelle Hinweispflicht auf solche Fälle zu beschränken, in denen eine "komplizierte gesetzliche Regelung" "nur von Kennern der Materie" erfasst werden kann (BSG, Urteil vom 22.10.1998, B 5 RJ 56/97 R, Hauck/Haines/Terdenge, Kommentar zum SGB VI, § 115 Rn. 12, jeweils m.w.N.). Würden diese Einschränkungen zugrunde gelegt, dürfte § 115 Abs. 6 SGB VI vorliegend nicht einschlägig sein, da die Notwendigkeit einer Rentenantragstellung auf RAR bei Vollendung des 65. Lebensjahres allgemein geläufig und auch ein späterer Rentenbeginn bei entsprechend späterer Rentenantragstellung jedenfalls einem jahrzehntelang berufstätigen Rechtsanwalt und Notar erkennbar sein dürfte. Dabei kann der Senat dahinstehen lassen, ob der Versicherte - so das SG - zusätzlich über rechtliche Erfahrungen gerade auf dem Gebiet des Sozialrechts verfügte.

21

Doch selbst bei Anwendbarkeit der Norm im vorliegenden Fall hätte die Beklagte ihrer Aufklärungspflicht durch das inhaltlich unzweifelhaft richtige (und im Übrigen inhaltlich unstreitige) Hinweisschreiben vom 18. August 1998 genüge getan.

22

Und dass die Klägerin den Zugang des Schreibens bei dem Versicherten (schlicht) mit Nichtwissen bestreitet, vermag den Vortrag der Beklagten bereits deshalb nicht zu erschüttern, weil ein solches (schlichtes) Bestreiten nicht mit der Risikoverteilung in Übereinstimmung zu bringen wäre, wie sie für die Frage des Zugangsnachweises zwischen absendender Behörde einerseits und Empfänger andererseits im Gesetz regelhaft vorgesehen ist. So ist etwa nach § 4 Abs. 2 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG), der bis zum 30. Juni 2002 und damit zurzeit des vorliegend maßgeblichen Schreibens anwendbar war, ein (schlichtes) Bestreiten des Zuganges durch den Empfänger dann nicht ausreichend, wenn die Absendung des Verwaltungsaktes (VA) durch die Behörde mittels Vermerk in der Akte festgehalten wurde, wobei ein Namenszeichen des Bearbeiters nicht erforderlich ist (vgl. nur: Engelhardt/App, Kommentar zum Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz und Verwaltungszustellungsgesetz, § 4 Anm. 6 m.w.N.; entspricht auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats: LSG Niedersachsen, Urteil vom 28.10.1999, L 1 RA 187/97). Im vorliegenden Fall war die Absendung mittels Datensatz in der Verwaltungsakte vermerkt (u.a. in den Datenerfassungen vom 24. August 1999, 2. September 1999 und 18. August 2000) und ein Postrücklauf nicht zu verzeichnen. Nach dem Wertungsmodell des § 4 Abs. 2 VwZG kann daher auch vorliegend ein unsubstantiiertes Bestreiten nicht ausreichend sein, um den Sachvortrag der Behörde zu erschüttern. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Wertungsmodell des § 4 Abs. 2 VwZG gerade auch für Verwaltungsakte gem. § 31 SGB X bzw. für Widerspruchsbescheide gilt, wobei bei Verwaltungsakten bzw. Widerspruchsbescheiden an den Zugangsnachweis regelmäßig höhere Anforderungen zu stellen sein dürften als bei (bloßen) Hinweisschreiben. Denn Verwaltungsakte erlegen den Adressaten regelmäßig bestimmte Rechtspflichten auf. Den schriftlichen Aufklärungen nach § 115 Abs. 6 SGB VI kommt aber keine Verwaltungsakts-Qualität im Sinne von § 31 SGB X zu, sie erlegen keine Pflichten auf, es handelt sich vielmehr um Hinweisschreiben (Wannagat, Kommentar zum SGB VI, § 115, Rn. 30). Damit aber kommt in Betracht, an den Zugangsnachweis im vorliegenden Fall noch geringere Anforderungen zu stellen, als sie etwa in § 4 VwZG vorgesehen sind. Diese höheren Anforderungen hat die Beklagte jedoch erfüllt. - Die Frage kann hier deshalb ebenso unentschieden bleiben wie die noch weiter gehende Frage, ob es für ein erforderliches (substantiiertes) Bestreiten ausreichend wäre, wenn das Bestreiten nicht vom Adressaten selbst, sondern - wie vorliegend - (nur) von seinem (Sonder)-Rechtsnachfolger vorgetragen wird.

23

Schließlich scheidet auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 27 SGB X aus. Denn da der Vortrag der Beklagten zum Zugang des Hinweisschreibens nicht erschüttert werden konnte, ist ein fehlendes Verschulden des Versicherten nicht zweifelsfrei feststellbar. - Ob gegen eine Fristversäumnis gem. § 99 SGB VIüberhaupt Wiedereinsetzung möglich ist, musste vom Senat nicht entschieden werden (ebenso: BSG, Urteil vom 22.10.1996, 13 RJ 23/95).

24

Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

26

Es hat kein gesetzlicher Grund gem. § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.