Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 14.07.2003, Az.: L 5 V 22/02

Anspruch auf Hinterbliebenenrente; Anspruch Witwenbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz; Zusammenhang zwischen Tod und Schädigungsfolge; Medizinische Unterlagen einer Prozesspartei als Grundlage einer richterlichen Entscheidung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
14.07.2003
Aktenzeichen
L 5 V 22/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21048
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0714.L5V22.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - AZ: S 18 V 54/98

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Für die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Schädigungsfolgen und dem Tod reicht als Beweismaßstab die überwiegende Wahrscheinlichkeit aus. Diese liegt vor, wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht. Nach den Verwaltungsvorschriften zu § 38 BVG ist der Tod auch dann als Folge einer Schädigung anzusehen, wenn der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen mindestens ein Jahr länger gelebt hätte.

  2. 2.

    Medizinische Unterlagen einer Prozesspartei dürfen aber im Wege des Urkundenbeweises zur Grundlage der richterlichen Entscheidung gemacht werden, wenn sie schlüssig und überzeugend sind.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente, hilfsweise Witwenbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die Klägerin ist die Witwe des am 28. Juni 1996 verstorbenen Versorgungsberechtigten (VB) F ... Das Versorgungsamt (VA) G. hatte bei dem VB den "Verlust des rechten Beines im mittleren Drittel des Oberschenkels. Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk" als Schädigungsfolgen anerkannt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 80 v.H. war seit 1. Oktober 1950 anerkannt (Bescheid vom 25. Juni 1951). Im Jahre 1989 trat der VB als Justizamtsrat in den Ruhestand.

3

Nachdem der VB an einer akuten Linksherzinsuffizienz nach einer vorausgegangenen Lungenentzündung verstorben war (vgl. Bescheinigung des Gesundheitsamtes des Landkreis H. vom 11. August 1996), stellte die Klägerin im Juli 1996 einen Antrag auf Hinterbliebenenleistungen. Das VA I. lehnte den Antrag auf Gewährung von Witwenbeihilfe gemäß § 48 BVG und den Antrag auf Gewährung von Witwenrente gemäß § 38 BVG ab (Bescheide vom 22. Januar und 27. Januar 1997). Der gegen beide Bescheide gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheide vom 29. Juni und 30. Juni 1998).

4

Die Klägerin hat am 3. August 1998 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Sie hat vorgetragen, dass der VB auf Grund der Amputation des rechten Beines jahrelang ärztlich verordnete Schmerzmittel eingenommen habe. Dadurch sei es zu einer Veränderung der Blutwerte und schließlich zu einer Leukämie gekommen, die mitursächlich für den Tod des VB gewesen sei. Das SG hat mit Urteil vom 23. Juli 2002 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung ausscheide, weil der VB an einem schicksalsmäßigen Herzleiden verstorben sei, das auf eine chronische Überlastung des Herzmuskel der linken Herzkammer zurückzuführen sei. Eine zuvor erlittene akute Lungenentzündung habe sich ungünstig auf den Verlauf der Herzerkrankung ausgewirkt. Es sei nicht wahrscheinlich, dass die anerkannten Schädigungsfolgen zu einer Lebensverkürzung um mindestens ein Jahr geführt hätten. Das Gericht hat sich hierbei auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. J. vom 26. Mai 1998 gestützt, die der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Prozessakte gereicht hat. Ein Anspruch auf Witwenbeihilfe stehe der Klägerin ebenfalls nicht zu, weil eine schädigungsbedingte verminderte Versorgung der Hinterbliebenen im Sinne von § 48 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BVG nicht festzustellen sei. Dies ergebe sich unter anderem auch deshalb, weil der VB mit dem höchstmöglichen Ruhegehaltssatz von 75 v.H. bei Dienstaltersstufe 14 in den Ruhestand getreten sei.

5

Hiergegen richtet sich die am 11. November 2002 eingelegte Berufung. Die Klägerin meint weiterhin, dass die dauerhafte schädigungsbedingte Einnahme der Schmerzmittel zu einer Leukämie, aber auch zu einer Herzinsuffizienz geführt habe. Diese Erkrankungen hätten auch die Lebenszeit des VB um mindestens ein Jahr verkürzt. Das SG habe ein unabhängiges Sachverständigengutachten einholen müssen, weil Dr. J. im Auftrage des Beklagten gehandelt habe. Eine Stellungnahme zu dieser versorgungsärztlichen Stellungnahme sei der Klägerin nicht eingeräumt worden.

6

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Juli 2002 und den Bescheid vom 27. Januar 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1998 aufzuheben und den Beklagten zuverurteilen, ab 1. Juli 1996 Witwenrente nach § 38 Abs. 1 BVG zu gewähren,

7

hilfsweise,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Juli 2002 abzuändern, den Bescheid vom 22. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 1998 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ab 1. Juli 1996 Witwenbeihilfe nach § 48 Abs. 1 BVG zu gewähren.

8

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Er hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.

10

Neben der Gerichtsakte beider Rechtszüge haben die Hinterbliebenenakte (Lager-Nr. K.) und die Beschädigtenakten (Lager-Nr. 1., 2 Bände) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

11

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält.

12

Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG einen Anspruch Hinterbliebenenrente gemäß § 38 Abs. 1 BVG und einen Anspruch auf Witwenbeihilfe gemäß § 48 Abs. 1 BVG abgelehnt. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten erweisen sich als rechtmäßig.

13

Der geltend gemachte Anspruch lässt sich nicht auf die Rechtsvermutung aus § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG stützen, wonach der Tod stets dann als Folge einer Schädigung gilt, wenn ein Beschädigter an einem Leiden stirbt, das als Folge einer Schädigung rechtsverbindlich anerkannt war. Der VB ist nicht an einer mit Bescheid vom 25. Juni 1951 anerkannten Schädigungsfolge verstorben.

14

Der VB ist auch nicht an den Folgen einer Schädigung im Sinne von § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG gestorben. Für die Annahme dieses Zusammenhanges reicht als Beweismaßstab die überwiegende Wahrscheinlichkeit aus (§ 1 Abs. 3 und 5 BVG). Diese liegt vor, wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht. Nach den Verwaltungsvorschriften zu § 38 BVG ist der Tod auch dann als Folge einer Schädigung anzusehen, wenn der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen mindestens ein Jahr länger gelebt hätte (vgl. auch die vom Bundesarbeitsministerium herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz - AHP - 1996, Abschnitt 46, Abs. 4).

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Der VB ist unmittelbar an einer akuten Linksherzinsuffizienz bei einem Zustand nach Pneumonie (Lungenentzündung) verstorben. Diesen Erkrankungen ursächlich vorausgegangen war eine Aorteninsuffizienz (Herzfehler) (vgl. Todesbescheinigung des Gesundheitsamtes des Landkreises H. vom 1. August 1996). Dr. J. hat in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 26. Mai 1998 diese Befunde näher erläutert, indem er ausgeführt hat, dass der VB an den Folgen einer chronischen Überlastung des Herzmuskels der linken Herzkammer verstorben ist. Die ummittelbar zuvor erlittene Lungenentzündung hat sich hierbei zusätzlich ungünstig ausgewirkt. Diese Einschätzung ist nicht zu beanstanden.

16

Dass die anerkannten Schädigungsfolgen im Bereich des rechten Beines und der rechten Hüfte hieran einen maßgeblichen mitverursachenden Beitrag geleistet haben, ist hingegen nicht wahrscheinlich. Soweit die Klägerin meint, das Herzleiden sei Folge des schädigungsbedingten chronischen Schmerzmittelgebrauches, liegen hierfür keinerlei Anhaltspunkte vor. Dr. J. hat zutreffend ausgeführt, dass auch ein chronischer Schmerzmittelgebrauch nicht zu der hier vorgelegenen Aortenklappeninsuffizienz führen konnte.

17

Soweit die Klägerin behauptet, die chronische lymphatische Leukämie, an der der VB ausweislich der Todesbescheinigung im Todeszeitpunkt ebenfalls gelitten hat, sei eine schädigungsbedingte Folge, ist bereits zweifelhaft, ob diese Erkrankung den Tod des VB mitverursacht hat. Die Todesbescheinigung stellt einen solchen Zusammenhang nicht her. Im Ergebnis mag dies aber dahingestellt bleiben, weil bereits ein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der Einnahme von Schmerzmitteln wie etwa Thomaphyrin und der Entstehung einer solchen Leukämie nicht wahrscheinlich ist. Auch dies hat Dr. J. in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 26. Mai 1998 zutreffend dargestellt.

18

Der Gesichtspunkt einer schädigungsbedingten Lebenszeitverkürzung führt zu keiner anderen Betrachtung. Aus den genannten Gründen ist es ebenfalls nicht wahrscheinlich, dass die anerkannten Schädigungsfolgen zu einer Vorverlegung des Todeszeitpunktes um mindestens ein Jahr geführt haben.

19

Entgegen der Auffassung der Klägerin durfte das SG und darf jetzt auch der Senat die Entscheidung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. Pett stützen. Zwar ist der Arzt im Auftrage des Beklagten tätig geworden. Solche medizinischen Unterlagen dürfen aber im Wege des Urkundenbeweises (§§ 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 414 ff ZPO) zur Grundlage der richterlichen Entscheidung gemacht werden, wenn sie - wie hier - schlüssig und überzeugend sind (vgl. Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, 3. Kapitel Rdnr. 35). Dr. Pett hat zudem als Facharzt für Innere Medizin die ärztliche Kompetenz, die hier relevanten Erkrankungen zu beurteilen.

20

Auch unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs (§ 128 Abs. 2 SGG ) durfte das SG die Entscheidung auf diese Befunde stützen. Zwar ist die ärztliche Stellungnahme des Dr. Pett vom 26. Mai 1998 erst im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Gerichtsakte gereicht worden ist; ungeachtet dessen war der Klägerin der Inhalt dieser Stellungnahme bereits aus dem Verwaltungsverfahren hinlänglich bekannt. Denn die Entscheidungsgründe des Widerspruchsbescheides geben diese ärztlichen Stellungnahme inhaltlich wieder, wenngleich sie dort nicht besonders erwähnt wird. Im Übrigen hätte der in der mündlichen Verhandlung anwesende Prozessbevollmächtigte einen Vertagungsantrag stellen können, wenn er nach Prüfung der ausgehändigten Befunde der Meinung gewesen wäre, dass eine weitere Frist erforderlich sei. Dies hat er ausweislich des Sitzungsprotokolls nicht beantragt.

21

Da die Klägerin die versorgungsärztliche Stellungnahme nicht substantiiert angegriffen hat, bestand weder seinerzeit noch jetzt die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Sachverständigen und die Einholung eines Gutachtens von Amts wegen (vgl. zur Problematik BSG, Beschluss vom 10.08.1993 Az: 9/9a BV 185/92).

22

Der hilfsweise gestellte Antrag auf Gewährung von Witwenbeihilfe ist ebenfalls erfolglos. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG ist Witwenbeihilfe zu zahlen, wenn ein rentenberechtigter Beschädigter, der nicht an den Folgen der Schädigung gestorben ist, durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben, und dadurch die aus der Ehe mit dem Beschädigten hergeleitete Witwenversorgung um einen entsprechenden Vomhundertsatz gemindert ist. War der Beschädigte im Zeitpunkt seines Todes erwerbsunfähig oder nicht nur vorübergehend hilflos oder hatte er mindestens fünf Jahre Anspruch auf Berufsschadensausgleich wegen eines Einkommensverlustes im Sinne von § 30 BVG, so gelten die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG als erfüllt (§ 48 Abs. 1 Sätze 5 und 6 BVG). Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass keine der genannten Varianten vorliegt. Die Witwenbeihilfe scheitert im Übrigen daran, dass eine schädigungsbedingt geminderte Versorgung der Klägerin nicht festgestellt werden kann. Vor der Einberufung in den Kriegsdienst hatte der VB eine Ausbildung für den gehobenen Dienst in der Katasterverwaltung begonnen. Nach Kriegsende hat der VB erfolgreich die Laufbahnprüfung für den gehobenen Justizdienst absolviert und diese Laufbahn als Rechtspfleger bis zum Justizamtsrat durchlaufen. In diesem Amt ist er mit dem höchstmöglichen Ruhegehaltssatz von 75 v.H. bei Dienstaltersstufe 14 in den Ruhestand getreten. Eine schädigungsbedingte Minderung der Hinterbliebenenversorgung ist daher fern liegend.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

24

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen besteht nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).