Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 04.07.2003, Az.: L 3/9 U 192/01
Entschädigung von Rückenbeschwerden als Berufskrankheit; Überprüfung aller Leiden von Amts wegen; Bandscheibenbedingte Erkrankung als Berufskrankheit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 04.07.2003
- Aktenzeichen
- L 3/9 U 192/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 19941
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0704.L3.9U192.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 28.03.2001 - AZ: S 7 U 244/00
Rechtsgrundlagen
- § 551 Abs. 1 S. 1 RVO
- Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO
- § 109 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Nur wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen einer der in Anlage 1 zur BKVO genannten Listenerkrankungen erfüllt sind, kann eine Entschädigung nach § 551 RVO erfolgen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Entschädigung von Rückenbeschwerden als Berufskrankheit.
Der 1951 geborene Kläger hatte nach seinen Angaben im Verwaltungsverfahren ursprünglich eine Maurerlehre begonnen, war von 1971 bis Anfang 1973 als Bauhelfer tätig und seit 1973 im Wesentlichen als Dachdeckerhelfer beschäftigt. Nachdem er erstmals 1985 an Lumboischialgien erkrankt war (Angabe der AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen vom 12. Juli 1999), die in der Folgezeit wiederholt auftraten, beantragte er 1995 bei der Beklagten die Entschädigung dieser Beschwerden als Berufskrankheit. Die Beklagte holte u.a. Behandlungsberichte des behandelnden Orthopäden Dr. D. , Diepholz (vom 28. Februar 1994) und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie E., F. (vom 17. Juli 1995) ein und zog ein im Auftrag der Landesversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen erstelltes ärztliches Gutachten des Orthopäden Dr. G. (vom 07. Juni 1996) bei. Außerdem ließ sie einen Bericht ihres Technischen Aufsichtsdienstes über das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 erstellen, der zum Ergebnis kam, es fehle an der notwendigen Regelmäßigkeit und Häufigkeit gefährdender Tätigkeiten. In ihrer im Auftrag der Beklagten erstellten gutachtlichen Stellungnahme vom 30. September 1999 kam die Ärztin für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. H. , Bremen, schließlich zum Ergebnis, bei dem Kläger bestehe keine altersüberschreitende bandscheibenbedingte Erkrankung der Hals- oder Lendenwirbelsäule, sondern vor allem eine Fehlstatik.
Die Beklagte lehnte daraufhin eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil eine Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) nicht vorliege (Bescheid vom 05. November 1999). Die Erkrankung des Klägers sei durch berufliche Einflüsse weder verursacht noch in ihrem Verlauf richtungsgebend verschlimmert worden.
Gegen diese Entscheidung legte der Kläger am 15. November 1999 Widerspruch ein, zu dessen Begründung er darauf hinwies, seine Aufgabe als Dachdecker, der mit Vorrang auf Kirchdächern und Kirchtürmen tätig gewesen sei, habe im Heben und Tragen schwerer Lasten und in Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung bestanden. Diese Arbeiten seien Grund und Anlass für seine Wirbelsäulenerkrankung gewesen. Er habe den Berufsschutz eines Dachdeckers, als der er seit 1973 ununterbrochen arbeite. Weil er erfahrener Dachdecker sei, habe er auch in seinem frühren Betrieb wieder anfangen können. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2000 - abgesandt am 12. September 2000 - zurück. Der angefochtene Bescheid werde durch die Ermittlungsergebnisse bestätigt, nach denen sich insbesondere ergeben habe, dass ein Schadensschwerpunkt im Bereich der Lendenwirbelsäule nicht festzustellen sei und sämtliche Veränderungen dem altersentsprechenden Ausmaß entsprächen.
Hiergegen hat der Kläger am 28. September 2000 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben (Az: S 7 U 244/00), mit der er beantragt hat, die Beklagte zu verurteilen, bei ihm eine Berufskrankheit der Nr. 2108 und/oder 2109 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, es könne nicht richtig sein, wenn im Gutachten von Dr. H. durch Lokalisierung der Schmerzbereiche Auswirkungen des Dachdeckerberufs verneint worden seien. Dies werde seinem Leidensstand und den Ursachen dafür nicht gerecht. Seine Erkrankungen seien sämtlich berufsbedingt. Außerdem stehe ihm der Berufsschutz für das Dachdeckerhandwerk zu.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 28. März 2001 abgewiesen. Sie sei in Bezug auf die Berufskrankheit der Nr. 2109 mangels vorangegangener Bescheidung unzulässig. Eine Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO liege nicht vor, weil es an dem hierfür vorauszusetzenden Schadensbild fehle. So seien in den röntgenologischen Befunden der Lendenwirbelsäule des Klägers keine altersüberschreitenden bandscheibenbedingten Erkrankungsbilder gefunden worden. Vielmehr lägen bei ihm vielfach beschriebene generalisierte Skelettveränderungen vor, die bei ihm seit Jahren zu Beschwerden des Haltungs- und Bewegungsapparates verschiedenster Lokalisationen geführt hätten.
Gegen das ihm am 12. April 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am Montag, dem 14. Mai 2001 Berufung eingelegt. Er leide seit vielen Jahren ausgreifend unter Rückenbeeinträchtigungen, wobei seine Hals- und Lendenwirbelsäule nur schmerzhaft einsetzbar sei. Die Beklagte habe sich mit seinen Schwierigkeiten nicht auseinander setzenauseinandersetzen wollen, weil sie ihn als ungelernten Arbeiter beurteile; er habe jedoch den Berufsschutz des Dachdeckerhandwerks. Dass er berufsbedingte Einschränkungen des Rückens habe und auch seine übrigen Krankheitsbilder berufsbedingt seien, sei umfangreich durch ärztliche Belege dargelegt. Diese Leiden müssten von Amts wegen überprüft und in das Entscheidungsbild einbezogen werden.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des SG Oldenburg vom 28. März 2001 den Bescheid der Beklagten vom 05. November 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn wegen seiner Berufserkrankungen zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das erstinstanzliche Gericht habe zutreffend festgestellt, dass beim Kläger das für die Berufskrankheit Nr. 2108 typische Schadensbild an der Lendenwirbelsäule nicht gegeben sei.
Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das Gericht ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. D., Diepholz, vom 04. Februar 2002 eingeholt. Der Sachverständige ist zum Ergebnis gekommen, die Gesundheitsstörungen der Wirbelsäule seien keine bandscheibenbedingte Erkrankung, sondern statisch muskulär bedingt.
Der Kläger hat hierzu beantragt,
den Sachverständigen zu laden, um ihm verschiedene, im Einzelnen ausformulierte Fragen zu stellen.
Im Hinblick auf den weiteren Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die vorliegende Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgerichts -SGG-), weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die ablehnenden Entscheidungen des SG Oldenburg und der Beklagten sind nicht zu beanstanden.
Soweit die Klage im Berufungsverfahren allgemein auf alle Leiden des Klägers erweitert worden ist, die seiner Ansicht nach berufsbedingt sind, ist sie bereits unzulässig. Dabei muss nicht auf die Ansicht des Klägers eingegangen werden, von Amts wegen müssten alle Leiden überprüft und ohne Aufteilung auf verschiedene Berufskrankheitenziffern in das Entscheidungsbild einbezogen werden. Denn die Gerichte sind von vornherein auf die Überprüfung hierzu erlassener Verwaltungsakte beschränkt, wie sich aus § 54 SGG ergibt. Wie den angefochtenen Bescheiden zu entnehmen ist, hat die Beklagte hierin lediglich die Voraussetzungen der Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO geprüft, nicht jedoch ansonsten in Betracht kommende Berufskrankheiten. Dass diese Beschränkung bewusst und gewollt war, ergibt sich daraus, dass außerdem vorgebrachte Kniebeschwerden des Klägers im Hinblick auf das mögliche Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2102 in einem gesonderten Bescheid geprüft worden sind, der Gegenstand der Klage S 7 U 291/99 vor dem SG Oldenburg (Berufung anhängig beim erkennenden Senat unter dem Az: L 3/9 U 202/01 geworden ist. Im vorliegenden Verfahren sind vom Senat daher weder Beschwerden der Knie noch bisher nicht beschiedene Gesundheitsstörungen der Halswirbelsäule (Berufskrankheit nach der Ziffer 2109) in der Sache zu prüfen.
Im Hinblick auf die geltend gemachten Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule ist die Klage unbegründet.
Grundlage der rechtlichen Beurteilung sind insoweit noch die unfallversicherungsrechtlichen Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil der Versicherungsfall nach dem Vorbringen des Klägers bereits vor dem In-Kraft-TretenInkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01. Januar 1997 eingetreten war (§ 212 SGB VII). Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 und 2 RVO gelten auch Berufskrankheiten als (zu entschädigender) Arbeitsunfall, d.h. solche Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet hat und die der Versicherte bei einer der in den §§ 539, 540 und 543-545 genannten Tätigkeiten erleidet. Die derart bezeichneten Berufskrankheiten sind in der Anlage 1 zur BKVO aufgelistet und dabei tatbestandlich näher umschrieben. Nur wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen einer dieser Listenerkrankungen erfüllt sind, kann die Entschädigung nach § 551 RVO erfolgen. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es deshalb nicht ausreichend, wenn Erkrankungen vorliegen, die in irgendeiner Weise berufsbedingt sind.
Die hier streitgegenständliche Listennummer 2108 setzt bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule voraus, die durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht worden sind und zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Im Fall des Klägers fehlt es schon an der Eingangsvoraussetzung einer bandscheibenbedingten Erkrankung. Dies ergibt sich bereits aus der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahme von Dr. H., die auf der Grundlage ihr vorliegender Röntgenbilder keine bandscheibenbedingte Erkrankung, sondern eine Fehlstatik der Wirbelsäule als Ursache der Beschwerden des Klägers festgestellt hat. Dies wird nachdrücklich durch das Gutachten von Dr. D. bestätigt, das auf Antrag des Klägers eingeholt worden ist. Dieser hat ausgeführt, dass eine bandscheibenbedingte Erkrankung radiologisch Abnutzungsveränderungen im Sinne von Bandscheibenerniedrigungen voraussetzen würde. Auf den aktuellen Röntgenaufnahmen seien jedoch lediglich Wirbelkörperrandanbauten in den seitlichen Wirbelsäulenaufnahmen zu sehen. Weiterhin fehle es am klinischen Bild eines Nervenwurzelkompressionssyndroms, bei dem durch Druck einer geschädigten Bandscheibe auf einen in ihrer Höhe abgehenden Nervenast oder auf das Rückenmark Beschwerden oder Symptome aufträten und nachzuweisen seien.
Hiermit befindet er sich in Übereinstimmung mit dem zur Ziffer 2108 erstellten Merkblatt für die ärztliche Untersuchung (Bek. d. BMA, BArbBl 3/93 S 50 ff), das als bandscheibenbedingte Erkrankungen das lokale Lumbalsyndrom, mono- und polyradikuläre lumbale Wurzelsyndrome und das Kaudasyndrom anführt, die jeweils von der Bandscheibe ausgehend mechanische Irritationen benachbarter Strukturen voraussetzen.
Die Beurteilung von Dr. H. und Dr. D. wird schließlich auch durch die im Verwaltungsverfahren beigezogenen Vorbefunde bestätigt. So hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Eilert in seinem Bericht vom 17. Juli 1995 keinen Hinweis auf ein lumbales Wurzelkompressionssyndrom und allenfalls eine diskrete radikuläre Symptomatik L5 links vorgefunden. Auch der Orthopäde Dr. G. hat in seinem Gutachten vom Juni 1996 keine Hinweise für eine Wurzelreizsymptomatik an den Beinen oder Armen gefunden. Ebenso wie Dr. D. und Dr. H. hat er dagegen auf eine deutliche Fehlstatik hingewiesen, die demzufolge als tatsächliche Ursache der vorliegenden Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers in Betracht kommen dürfte.
Dem Antrag des Klägers, den Sachverständigen Dr. D. ergänzend zu befragen, musste der Senat nicht nachkommen. Sämtliche Fragen, nämlich ob - die vom Gutachter angegebenen Diagnosen "den gesamten Bewegungsapparat der Körperfunktion des Klägers abschließend erschöpfen", - diese diagnostischen Feststellungen auf die Besonderheiten der beruflichen Tätigkeit des Klägers zurückzuführen seien, - seine Arthroseerscheinungen am Knie und in den Schultern berufsbedingt durch erforderliches Aufstützen an den Dachlatten und mit den Füßen und durch Abstützen an der Schulter seien, - der Sachverständige bei seiner Beurteilung die Besonderheiten der beruflichen Anforderungen des Klägers als Dachdecker berücksichtigt habe, - seine Beschwerden und Funktionseinschränkungen im Rückenbereich Auswirkungen seiner beruflichen Arbeit insbesondere als Kirchendachdecker seien, - der Hinweis am Schluss des Gutachtens, der Kläger habe beschwielte Hände und sei durchaus arbeitsfähig, diesen als Simulanten enttarnen solle, - der Gutachter bei dieser Darstellung lediglich übersehen habe, dass ihm trotz seines Rentenbegehrens auch weiterhin körperliche Arbeiten möglich seien und - die beschwielten Hände im Widerspruch zu den geklagten Beschwerden am Knochenapparat einschließlich der oberen und unteren Extremitäten und des Rückens stünden, sind rechtlich unerheblich. Auch eine insoweit positive Beantwortung im Sinne des Klägers würde nichts daran ändern, dass der Sachverständige Dr. D. das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung verneint hat und allein aus diesem Grund die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO nicht vorliegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.