Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 17.07.2003, Az.: L 6/3 U 502/02

Anerkennung einer bandscheibenbedingten Erkrankung als Berufserkrankung; Berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung bei Taxifahrern; Ursachen einer bandscheibenbedingten Erkrankung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.07.2003
Aktenzeichen
L 6/3 U 502/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21082
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0717.L6.3U502.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 16.10.2002 - AZ: S 36 U 311/01

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Bei Fahrern von Taxis liegen regelmäßig keine hinreichend gesicherten gesundheitsschädigenden Auswirkungen durch Schwingungen im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2110 vor.

  2. 2.

    Allein auf Grund der Tatsache, dass ein Versicherter in seinem Berufsleben körperliche Schwerarbeit geleistet hat, kann nicht im Sinne eines Anscheinsbeweises automatisch auch auf einen wahrscheinlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang seiner bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule mit der beruflichen Tätigkeit geschlossen werden. Es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 eine bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist.

  3. 3.

    Bandscheibenbedingte Erkrankungen beruhen auf einem Bündel von Ursachen. Dabei steht der natürliche Alterungs- und Degenerationsprozess im Vordergrund, dem die Bandscheiben eines jeden Menschen ab dem 30. Lebensjahr ausgesetzt sind.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 16. Oktober 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin unter einer Berufskrankheit - BK - Nr. 2108 (bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule - LWS - durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung) und/oder im Sinne der BK Nr. 2110 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung - BKV - (bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen) leidet und deshalb Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.

2

Die 1943 geborene Klägerin war nach ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau (1957) im Wesentlichen im Betrieb ihres Vaters ("Tankstelle und Mietwagen") als Tankwartin, im Büro und als Mietwagenfahrerin beschäftigt. Seit 1980 betreibt sie ein eigenes Taxiunternehmen und ist in diesem Unternehmen selbst als Fahrerin tätig.

3

Mit Schreiben vom 16. November 1999 beantragte sie die Anerkennung ihres Rückenleidens als BK. Sie gab an, auch Rollstuhlpatienten transportiert und die Treppen hochtransportiert sowie Gepäck (Koffer, Fernseher) getragen zu haben (vgl. die Kurzerhebungsbögen zur BK Nr. 2108 und 2110 vom 22. April 2000).

4

Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin als Taxifahrerin nicht im Sinne der BK 2110 exponiert gewesen sei. Er verneinte auch eine Exposition im Sinne der BK 2108, da das eventuelle Be- und Entladen des Fahrzeuges mit dem Gepäck der beförderten Personen weder hinsichtlich der Frequenz noch der Lastgewichte den Kriterien des Merkblatts zu dieser BK entsprächen (Stellungnahme vom 8. Mai 2000).

5

Nach Einholung einer gewerbeärztlichen Stellungnahme der Frau Dr. C. vom 8. August 2000 lehnte die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 20. September 2000 Entschädigungsleistungen ab, weil eine BK nicht vorliege. Im anschließenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin ein Attest der Orthopäden D. vom 25. Januar 2000 vor und machte geltend, sie habe seit mehr als 22 Jahren schwer kranke Patienten des Krankenhauses E. transportiert. Auf das jahrzehntelange Heben und Tragen dieser Personen seien die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere im Bereich der LWS, zurückzuführen. Sie fügte ihrem Widerspruch ein Attest der Ärztin für physikalische Medizin und Rehabilitation F. vom 12. Januar 2001 bei.

6

Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen des Versorgungsamtes G. (Außenstelle H.) bei und holte den Befundbericht des Arztes für Orthopädie I. vom 28. Februar 2001 mit Anlagen ein. Anschließend veranlasste sie eine weitere Stellungnahme ihres TAD vom 23. Mai 2001, der an seiner Beurteilung festhielt. Schließlich holte sie die gutachtliche Stellungnahme des Arztes für Orthopädie J. vom 31. Mai 2001 ein. Dieser sah keinen kausalen Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Erkrankung der Klägerin.

7

Zusammenfassend führte er aus, der Befund sei typisch für einen alters-normalen degenerativen Prozess der Bandscheiben im Bereich der Scharniersegmente und eines angrenzenden Bewegungssegmentes bei gleichzeitiger Schadensanlage im Sinne einer prädiskotischen Deformität. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2001 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Dagegen hat die Klägerin am 16. August 2001 vor dem Sozialgericht - SG - Hannover Klage erhoben.

8

Zur Begründung hat die Klägerin ausgeführt, der TAD der Beklagten habe nicht alle beruflichen Belastungen berücksichtigt (vgl. im Einzelnen den Schriftsatz vom 13. Dezember 2001).Das SG hat einen Befundbericht des Arztes für Orthopädie I. eingeholt. Es hat außerdem eine weitere gutachtliche Stellungnahme des Arztes für Orthopädie J. vom 26. Februar 2002 veranlasst, in der der Gutachter auch die von der Klägerin vorgelegten aktuellen Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule berücksichtigt hat.Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16. Oktober 2002 abgewiesen.

9

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des Gerichtsbescheides Bezug genommen. Die Klägerin hat gegen diesen ihr am 21. Oktober 2002 zugestellten Gerichtsbescheid am 21. November 2002 Berufung eingelegt. Sie macht nach wie vor geltend, ihre bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS sei durch die jahrzehntelange Tätigkeit als Taxifahrerin verursacht worden. Unterstützt werde sie in dieser Auffassung von ihrem behandelnden Orthopäden I ... In diesem Zusammenhang verweise sie auch auf den Bericht der Ärztin für physikalische Medizin und Rehabilitation F. vom 12. Januar 2001.

10

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 16. Oktober 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 20. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juli 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass die Gesundheitsstörungen im Bereich der LWS Folgen einer BK im Sinne der Nr. 2108 und/oder 2110 der Anlage zur BKV sind,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 16. Oktober 2002 zurückzuweisen.

12

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13

Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.Das SG hat die - hinsichtlich des Feststellungsantrags gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Denn die von der Klägerin begehrte Feststellung einer BK 2110 (s. unter 1.) und 2108 (s. unter 2.) kann nicht mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Wahrscheinlichkeit getroffen werden. Deshalb hat die Beklagte auch keine Leistungen zu erbringen.

14

1.

Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass schon die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2110 nicht vorliegen. Denn bei Personenkraftwagen wird nach dem Merkblatt zu dieser BK (veröffentlicht im Bundesarbeitsblatt - BABl. 1993, Heft 3, S. 55), das als maßgebliche Konkretisierung der arbeitsmedizinischen Erkenntnisse heranzuziehen ist (vgl. hierzu im Zusammenhang mit der BK Nr. 2110 das Urteil des Senats vom 21. November 2002 - L 6 U 196/00 - , Breithaupt 2003, 348), die Schwingungsbelastung, die als potenziell gesundheitsgefährdend anzusehen ist, bei weitem nicht erreicht. Auch der Senat hat deshalb keine Bedenken, der Beurteilung des TAD der Beklagten zu folgen. Sie stimmt mit dem Merkblatt auch insoweit überein, als danach bei Fahrern von Taxis keine hinreichend gesicherten gesundheitsschädigenden Auswirkungen durch Schwingungen beobachtet worden sind.

15

2.

Eine BK nach Nr. 2108 kann deshalb nicht festgestellt werden, weil die von dem ärztlichen Sachverständigen J. diagnostizierte bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS (in erster Linie im Bewegungssegment L4/S1 und in geringerem Umfang im Bewegungssegment L3/4 der nur viergliedrigen LWS der Klägerin) nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich auf die berufliche Tätigkeit als Taxifahrerin zurückzuführen ist. Auch insoweit schließt sich der Senat der Begründung des SG an. Die von der Klägerin geschilderten Hebe- und Tragevorgänge erreichen nicht das Ausmaß, das nach dem Merkblatt zur BK Nr. 2108 ausreicht, um die Gefahr einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS zu begründen. Der TAD der Beklagten hat dies im Übrigen unter Beachtung des Merkblatts verneint, und zwar nachvollziehbar, weil Heben und Tragen der Tätigkeit der Klägerin nicht das Gepräge gegeben haben.

16

Aber auch wenn man die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 zu Gunsten der Klägerin als erfüllt ansieht, folgt daraus keine für sie im Ergebnis günstigere Beurteilung. Denn allein auf Grund der Tatsache, dass ein Versicherter in seinem Berufsleben körperliche Schwerarbeit geleistet hat, kann nicht im Sinne des sog. Anscheinsbeweises gleichsam "automatisch" auf einen wahrscheinlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang seiner bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS mit der beruflichen Tätigkeit geschlossen werden. Es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 eine bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist (BSG, Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 -, SGb 1999, S. 39). Der Grund hierfür liegt darin, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen auf einem Bündel von Ursachen (multifaktorielles Geschehen) beruhen. Dabei steht der natürliche Alterungs- und Degenerationsprozess im Vordergrund, dem die Bandscheiben eines jeden Menschen ab dem 30. Lebensjahr ausgesetzt sind (vgl. dazu Urteil des Senats vom 20. Juli 2000 - L 6 U 328/99 -).

17

Daraus folgt, dass eine individuelle Kausalitätsbeurteilung erforderlich ist, die deutlich macht, inwieweit der berufsbedingt diagnostizierte Schaden von altersbedingten Verschleißerscheinungen abweicht.

18

Eine solche Abweichung und damit eine berufsbedingte Verursachung lässt sich im Hinblick auf die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS der Klägerin nicht feststellen. Dies hat der Sachverständige J. in seinen gutachtlichen Stellungnahmen schlüssig dargelegt. Danach liegt ein Befund vor, der typisch für einen altersnormalen Prozess der Bandscheiben im Bereich der Scharniersegmente ist. Nach seiner Beurteilung spricht wesentlich gegen eine berufliche Verursachung, dass sich an den oberen Bewegungssegmenten der LWS und an der unteren Brustwirbelsäule keine "Spuren" in Gestalt von gröberen Spondylosen finden, die auf den Einfluss körperlicher Schwerarbeit hindeuten. Außerdem hat der Sachverständige in seiner im Klageverfahren erstatteten ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme herausgearbeitet, dass lediglich zwischen dem Übergangswirbel und dem ersten Lendenwirbelkörper spondylotische Veränderungen im Sinne feiner Kantenausziehungen festzustellen sind. Dort befindet sich indessen auch der Scheitel der rechtsgerichteten (anlagebedingten) Skoliose (Seitverbiegung), sodass diese Veränderungen hierdurch und nicht durch die körperliche Arbeit der Klägerin zu erklären sind.

19

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).